Stellungnahme von Michael Schmidt-Salomon vor dem Bundesverfassungsgericht

"§ 217 StGB dient nicht dem Lebensschutz, sondern selbsternannten Lebensschützern!"

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Das Sitzungssaalgebäude des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe
Das Sitzungssaalgebäude des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe

Der Philosoph und Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung Michael Schmidt-Salomon hat in der mündlichen Verhandlung zu den Verfassungsbeschwerden gegen § 217 StGB die ersatzlose Streichung des Paragraphen gefordert. Wir dokumentieren seine Stellungnahme im Originalwortlaut.

Herr Präsident,
sehr geehrte Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts!

Die Würde des Einzelnen ist dadurch bestimmt, dass der Einzelne über seine Würde bestimmt – nicht der Staat oder die Kirche. Deshalb muss der Rechtsstaat dafür sorgen, dass die Pluralität der Würdedefinitionen der Bürgerinnen und Bürger in der Gesetzgebung berücksichtigt wird. So muss der Staat es einem strenggläubigen Katholiken ermöglichen, den Überzeugungen von Papst Johannes Paul II. zu folgen, der meinte, das Leben sei ein "Geschenk Gottes", über das der Mensch nicht verfügen dürfe. Ebenso muss der Gesetzgeber es aber auch einem Anhänger der Philosophie Friedrich Nietzsches erlauben, "frei zum Tode und frei im Tode" zu sein.

Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1965 darauf hingewiesen, dass nur ein Staat, der das Gebot der weltanschaulichen Neutralität beachtet, eine "Heimstatt" aller Bürgerinnen und Bürger sein kann. Genau dies aber wurde bei der Verabschiedung von § 217 StGB ignoriert. Denn dieser Paragraph privilegiert die Sittlichkeitsvorstellungen einer religiösen Minderheit und diskriminiert all jene, die diese Vorstellungen nicht teilen. Man mache sich diese Ungeheuerlichkeit bewusst: Während 80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger für mehr Selbstbestimmung am Lebensende plädierten, beschlossen deren parlamentarische Vertreter die massive Beschneidung dieses Selbstbestimmungsrechts, indem sie kompetente Freitodbegleitungen unter Strafe stellten.

Dass § 217 nicht weltanschaulich neutral ist, erkennt man schon an seiner Entstehungsgeschichte. Die Vorlage für das Gesetz stammt von einer kirchennahen Stiftung, die vom Malteserorden gegründet wurde. Führende Protagonisten des Gesetzes wie der damalige Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) oder die SPD-Abgeordnete Kerstin Griese begründeten ihre Haltung nicht zuletzt mit ihrem christlichen Glauben.

Eine "Rechtspflicht zum Leben"?

Dass die weltanschauliche Schieflage von § 217 vielen Parlamentariern nicht bewusst war, lag wohl auch daran, dass die Gesetzesvorlage das Recht auf Suizid nicht unmittelbar angriff, sondern bloß mittelbar. De jure kriminalisiert § 217 den Suizid nicht als solchen, de facto aber läuft die Untersagung der ärztlichen Suizidhilfe auf ein menschenrechtswidriges Verbot der Selbsttötung und somit auf eine "Rechtspflicht zum Leben" hinaus, was sich der Staat nicht anmaßen darf.

Man kann sich diesen Sachverhalt verdeutlichen, indem man die Regelungen des § 217 auf die Bestimmungen zum "Schwangerschaftsabbruch" überträgt: Stellen Sie sich eine Neufassung von § 218 StGB vor, die schwangeren Frauen nicht per se die Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch verwehrt, sie aber dazu zwingt, die Abtreibung entweder alleine vorzunehmen oder dabei auf die Hilfe von Personen zurückzugreifen, die auf diesem Gebiet nicht geschäftsmäßig, also nicht professionell handeln, weil sie keine Ärzte sind! Natürlich ließe sich eine solche Regelung (der Frauenbewegung sei Dank!) niemals durchsetzen. Schwerstleidende Patienten haben jedoch keine vergleichbare Lobby, weshalb man sie nun dazu zwingt, entweder auf ihr Selbstbestimmungsrecht zu verzichten oder sich der Gefahr auszusetzen, ihr Leben ohne professionelle ärztliche Hilfe in unwürdiger, qualvoller Weise zu beenden.

Es wäre ehrlicher gewesen, das "Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung" als "Gesetz zur Strafbarkeit der kompetenten Unterstützung schwerstleidender Menschen" zu bezeichnen. Denn genau darum handelt es sich: Normalerweise verlangen wir in Situationen, in denen es um Leben und Tod geht, die Anwesenheit von Experten, die genau wissen, was sie tun, und die Kriterien ihrer Entscheidungen in einer nachvollziehbaren Weise offenlegen. Nur bei der Suizidassistenz sollen ausgerechnet Laien ohne Fachwissen und ohne Transparenzkriterien tun dürfen, was Experten verboten ist.

§ 217 dient nicht dem Lebensschutz

Damit liefert das Gesetz schwerstleidende Personen einem ungeheuren Risiko aus – nicht nur, weil Laien in der Regel nicht wissen, was sie tun, sondern auch, weil viele Betroffene sich nun nur noch an ihre Angehörigen wenden können, welche – im Unterschied zu Ärzten – tatsächlich ein wirtschaftliches Interesse am vorzeitigen Ableben ihres Verwandten haben könnten. § 217 StGB dient also nicht dem "Lebensschutz", wie so oft behauptet wird, sondern vielmehr selbsternannten "Lebensschützern", die überkommene religiöse Normen über das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen stellen.

In diesem Zusammenhang sollte ein wichtiges Argument beachtet werden, auf das mein Stiftungskollege, der Strafrechtler Reinhard Merkel, unlängst hingewiesen hat: § 217 statuiert ein sogenanntes "abstraktes Gefährdungsdelikt", welches unterstellt, dass die professionelle Suizidhilfe (im Unterschied zur Laienhilfe) mit der erhöhten Gefahr eines "unfreien" Suizids einhergeht. Diese Behauptung ist jedoch aus dem empirischen Nichts gegriffen. Zwar darf der Gesetzgeber "abstrakte Gefahren" definieren und verbieten; erfinden darf er sie aber nicht. Ich schließe mich daher Merkels Einschätzung an, dass § 217 StGB auch deshalb verfassungswidrig ist, weil "abstrakte Gefährdungstatbestände", denen keine wirkliche Gefahr zugrunde liegt, gegen das Schuldprinzip (Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG) verstoßen.

Fakt ist: Es gibt kein nennenswertes "Geschäft mit dem Tod", wohl aber ein "Milliardengeschäft mit der Leidensverlängerung". Fakt ist auch, dass sämtliche Argumente, die zur Verteidigung des Gesetzes vorgelegt wurden, durch die Erfahrungen der Länder, in denen professionelle Freitodbegleitungen stattfinden, empirisch widerlegt sind. Mehr noch: Wir können nachweisen, dass das Angebot von Freitodbegleitungen die Palliativmedizin beflügelt und zu einer deutlichen Reduzierung von Verzweiflungssuiziden und -versuchen geführt hat. (Nebenbei: Dass in vielen psychologischen Gutachten nicht zwischen rationalen Bilanz-Suiziden und irrationalen Verzweiflungs-Suiziden unterschieden wird, lässt sich nur als Ausdruck einer – vielleicht unbewussten – weltanschaulichen Voreingenommenheit deuten).

Fazit: Die ersatzlose Streichung von § 217 StGB

Ich komme zum Schluss: Der Rechtsstaat darf nur dann in bürgerliche Freiheiten eingreifen, wenn er hierfür eine rationale, evidenzbasierte und weltanschaulich neutrale Begründung vorlegen kann. Dieser Begründungspflicht ist der Gesetzgeber nicht nachgekommen. § 217 StGB tastet ohne nachvollziehbare Begründung mehrere Grundrechte in ihrem "Wesensgehalt" an, nämlich die Artikel 1, 2, 3, 4, 9 und 12 GG. Und: Er steht zudem im Widerspruch zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Ich verweise in diesem Zusammenhang nur auf das Urteil des EGMR im Fall "Haas gegen die Schweiz", das von einer "positiven Verpflichtung des Staates" spricht, "die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, die einen würdigen Suizid ermöglichen". § 217 zielt auf das exakte Gegenteil davon ab, er verunmöglicht einen "würdigen Suizid".

Der Deutsche Bundestag hätte das Gesetz niemals verabschieden dürfen, da die Gewissenformel der Verfassung, auf die sich viele Parlamentarier berufen haben, keineswegs auf das private oder gar religiöse Gewissen der Abgeordneten abzielt, sondern vielmehr auf das professionelle Gewissen von Berufspolitikern, die ihre Entscheidungen "als Vertreter des ganzen Volkes" nach "bestem Wissen und Gewissen" treffen sollten. Deshalb gibt es in diesem Fall nur eine verfassungskonforme Lösung des Problems, nämlich die ersatzlose Streichung von § 217 StGB! Eine verfassungskonforme Auslegung des Paragraphen ist unseres Erachtens nicht möglich, wie wir in unseren schriftlichen Stellungnahmen dargelegt haben.

Meine Damen und Herren, ich möchte schließen mit dem Hinweis, dass ich all dies nicht zuletzt auch im Namen der vielen verzweifelten Menschen vortrage, die mich in den letzten vier Jahren kontaktiert haben. Dabei handelte es sich keineswegs nur um Personen, die nah am Tod standen und einen würdigen Ausweg aus ihrer ausweglosen Situation suchten, sondern vor allem auch um Personen mit schwerwiegenden neurologischen Erkrankungen, die Angst davor haben, möglicherweise für längere Zeit – begraben im eigenen Körper – ein Leben führen zu müssen, das sie nicht führen wollen. Bitte bedenken Sie in ihrer Entscheidung die reale Not der Menschen, die auf "Letzte Hilfe" angewiesen sind! Diese verzweifelten Männer und Frauen haben das Recht, über ihr Leben und Sterben selbst zu bestimmen – ein Recht, das ihnen durch § 217 StGB in skandalöser Weise genommen wird! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.