Im Zeitraum von Ende 2020 bis Anfang des Jahres 2021 führten Doktor A. Kadir Yildirim und sein Team eine Untersuchung zur Auswirkung der Covid-19-Pandemie auf die muslimische Welt durch. Man stützte sich vor allem auf eine Befragung muslimischer Gläubiger in Ägypten, Indonesien, Pakistan, Saudi-Arabien und der Türkei. Die Auswertung zeigte, dass die Hinwendung zu Gebeten und religiösen Schriften in der Krise zugenommen hat.
Obwohl der Corona-Ausbruch Ende 2019 zunächst für die meisten Länder weit weg erschien, zog das Virus nach und nach von Land zu Land. Im Gepäck hatte es nicht nur Krankheit und Tod sowie den Verlust von Arbeit und Einkommen für die einen und massive Gewinne für die anderen, sondern auch die Veränderung religiöser Gefühle und Gewohnheiten. Der Untersuchung dieser Veränderungen widmete sich Dr. A. Kadir Yildirim. Mittels einer Befragung konnte er geänderte religiöse Verhaltensweisen aufzeigen und teilweise auch erklären.
Die Befragung wurde von Ende 2020 bis Anfang 2021 durchgeführt. Befragt wurden muslimische Gläubige aus Ägypten, Indonesien, Pakistan, der Türkei und Saudi-Arabien. Insgesamt beantworteten 9.255 Personen die Fragen. 2.018 von ihnen stammten aus Ägypten, 2.011 aus Indonesien, 1.213 aus Pakistan, 2.041 aus Saudi-Arabien und 1.972 aus der Türkei. Bei den Befragten handelte es sich zu jeweils etwa 50 Prozent um Frauen und Männer. 45 Prozent waren alleinstehend, 55 Prozent verheiratet, 59 Prozent hatten eine Arbeit und 41 Prozent gaben an, nicht zu arbeiten.
Bei der Altersverteilung waren jüngere Menschen am stärksten vertreten: Die Gruppe der 18- bis 24-Jährigen machte 29 Prozent der Befragten aus, die 25- bis 29-Jährigen 20 Prozent, die 30- bis 34-Jährigen 17 Prozent, die 35- bis 39-Jährigen 14 Prozent und die über 40-Jährigen 19 Prozent.
Ein Unterschied nach schiitischen und sunnitischen Gläubigen konnte wegen der geringen Anzahl befragter Personen nicht gemacht werden.
Befragt wurden die Gläubigen zu den Themenfeldern Wichtigkeit von Religion, Durchführung religiöser Praktiken, Zufriedenheit mit der jeweiligen Regierung in Bezug auf ihr Pandemie-Management, der Angst um Job- und Einkommensverlust und der mentalen Gesundheit.
Dabei zeigten sich teilweise große Unterschiede, obwohl es sich bei den betrachteten Ländern um Länder mit überwiegend muslimischer Bevölkerung handelt: So gaben um beziehungsweise über 80 Prozent der Befragten in Ägypten, Pakistan, Indonesien und Saudi-Arabien an, dass ihnen Religion sehr wichtig sei. In der Türkei lag diese Zahl nur bei 61 Prozent. Dies erklärt Yildirim mit Säkularisierungskampagnen in der Türkei zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Angst vor dem Verlust von Arbeit und Einkommen betraf viele der Befragten in allen betrachteten Ländern, ebenso wie die Belastung der mentalen Gesundheit.
Für viele ist Religion wichtiger geworden
Gefragt, ob die Religion seit Beginn der Pandemie wichtiger geworden sei als davor, bejahte ein großer Teil der Befragten. Besonders in Ägypten wandten sich Gläubige stärker der Religion zu. 57 Prozent erklärten, dass ihnen Religion nun wichtiger sei als vorher. Für 40 Prozent blieb die Wichtigkeit gleich hoch und nur für drei Prozent sank die Wichtigkeit. In Pakistan stieg die Wichtigkeit der Religion bei 56 Prozent der Befragten. Bei 40 Prozent blieb sie gleich und für vier Prozent wurde sie weniger wichtig. In Saudi-Arabien erhöhte sich die religiöse Bedeutung für 51 Prozent, wobei 46 Prozent sie als gleich wichtig einschätzten und sie bei ebenfalls vier Prozent an Wichtigkeit verlor. In Indonesien wurde Religion für 45 Prozent der Befragten wichtiger, für 54 Prozent blieb sie gleich wichtig und nur ein Prozent erachtete sie als weniger bedeutend. Die Gläubigen in der Türkei wiesen mit einer deutlichen Mehrheit von 64 Prozent der Religion denselben Stellenwert zu wie vor der Pandemie. Nur 31 Prozent sahen sie nun als wichtiger an und vier Prozent ließen ihr weniger Bedeutung zukommen.
Die Praktizierung des Glaubens hat sich verstärkt und die Formen ihrer Durchführung haben sich verschoben. Während in der Türkei die Gläubigen ihr Verhalten wenig verändert haben, hat sich in den anderen betrachteten Ländern die Anzahl der täglichen Gebete, das Lesen des Korans und anderer religiöser Bücher sowie das Konsumieren religiöser Angebote verstärkt. Moscheebesuche und die Teilnahme an anderen religiösen Veranstaltungen haben sich verringert. Letzteres liegt allerdings auch daran, dass in manchen der untersuchten Länder die Moscheen von den Regierungen zum Schutz vor Infektionen geschlossen worden waren.
Die Befragung zeigte zudem, dass sich stärker der Religion zuwandte, wer den Verlust von Einkommen und Arbeit fürchtete oder einen negativen Einfluss der Pandemie auf die mentale Gesundheit bemerkte. Wer die Religion ohnehin als sehr wichtig erachtete und religiöse Handlungen öfter durchführte, gab an, weniger Ängste und mentale Belastung zu spüren. Yildirim erklärt das damit, dass Menschen sich in Krisen generell eher auf Religion stützen.
Auch die Fragen zur Zufriedenheit mit dem Pandemie-Management der Regierungen zeigte interessante Ergebnisse auf: Während viele Befragte in Saudi-Arabien sich mit ihrer Monarchie zufrieden zeigten, waren türkische Befragte mitunter unzufrieden mit ihrer Regierung und kritisierten sie.
Präsentiert wurden die Ergebnisse am Baker Institute der texanischen Rice-Universität. Das Publikum konnte Yildirim zu seiner Arbeit befragen. Daraus ergaben sich kurze Einschätzungen zu Wissenschafsfreundlichkeit und Wissenschaftsfeindlichkeit in muslimischen Ländern im Wandel der Zeit, dem Stigma mentaler Erkrankungen in Gesellschaften und dem Widerstand religiöser Führer gegen Veränderungen, um jeglichem Machtverlust vorzubeugen.
Präsentation und Diskussion können auf YouTube angesehen werden.