Jahresbericht von infoSekta

Die "Versektung" der Gesellschaft

Auch wenn das Thema ein wenig aus dem Fokus verschwunden ist: Gesellschaftliche Probleme mit Sekten nehmen zu – wie der Jahresbericht von infoSekta deutlich darlegt.

Sekten und vereinnahmende Gruppen sind ein verlässlicher Indikator, um den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Zustand einer Gesellschaft einzuschätzen. Auf einen kurzen Nenner gebracht: Schlechte Zeiten für minderprivilegierte Menschen sind ein guter Nährboden für sektenhafte Bewegungen.

Oder andersherum: Ist die materielle Existenz gesichert und die soziale Geborgenheit intakt, haben die Menschen viel weniger das Bedürfnis, Halt in religiösen oder spirituellen Gruppen zu suchen. Sie leben ganz im Hier und Jetzt und konzentrieren sich mit Vergnügen auf die weltlichen Annehmlichkeiten. Da kann das Übersinnliche getrost warten.

Geht es ihnen aber psychisch und wirtschaftlich schlecht, erwacht die Sehnsucht nach einer höheren Macht, eine vermeintlich rettende Heilslehre oder nach übersinnlichen Lebensinhalten.

Studiert man den aktuellen Jahresbericht der Beratungsstelle infoSekta, kann man zum Schluss kommen, dass wir in unsicheren Zeiten leben. Denn die Zürcher Institution hatte 2018 alle Hände voll zu tun.

600 Kontakte mit Ratsuchenden

Konkret: Insgesamt verzeichnete sie 2.600 Kontakte mit Ratsuchenden. Das sind satte elf Prozent mehr als im Vorjahr. Diese Entwicklung hält schon seit mehreren Jahren an. So verzeichnete infoSekta 2013 lediglich 1.750 Kontakte.

Die Anfragen betrafen 350 sektenhafte Gruppen und Einzelanbieter. Das ist ein Hinweis, wie stark sich die Sektenlandschaft segmentiert. Konkret: Die großen Gruppen sind im Krebsgang, kleine schießen aus dem Boden.

Dies hat primär damit zu tun, dass sich die Menschen in einer individualisierten Konsumgesellschaft die Seele nicht mehr in der Masse massieren lassen wollen, sondern möglichst individuell.

Diese Zahlen sprechen eine klare Sprache. Sie sind auch deshalb bemerkenswert, weil das Sektenthema im Vergleich zu früheren Jahren weitgehend aus den Medien verschwunden ist.

Übersetzt heißt dies: Wer sich bei infoSekta meldet, hat Berührung mit Sekten. Meist nicht direkt, sondern indirekt. Als Angehörige oder Freunde von Sektenanhängern.

Auch Kinder sind betroffen

Mit der Sektenproblematik konfrontiert sind auch Institutionen und Schulen. Das wiederum bedeutet, dass Sekten aktiv sind wie eh und je – auch wenn die Öffentlichkeit oft den Eindruck erhält, das Phänomen sei nicht mehr präsent. Der Jahresbericht zeigt außerdem eine Tendenz zur Versektung der Gesellschaft.

Dazu tragen eben auch der Populismus, die Fake-News-Kultur und die rasch wachsende Szene der Verschwörungstheoretiker bei. Letztgenannte generierte auch Anfragen bei der Beratungsstelle.

Doch schauen wir ein paar weitere Zahlen des Jahresberichts genauer an. 83 Prozent der Anfragen stammen von Privatpersonen, 17 Prozent von Institutionen und Sozialbehörden wie der KESB. Direkt oder indirekt betroffen sind auch Jugendliche und Kinder, wenn beispielsweise ein Elternteil in eine Sekte abrutscht. Dies ist bei mindestens 15 Prozent der Anfragen der Fall.

Bei 73 Prozent der Anfragen ging es um einzelne Gruppen. Die unrühmliche Hitliste führen die Zeugen Jehovas an (15 Prozent). Das ist bemerkenswert. Denn Jahrzehntelang genoss die christlich-fundamentalistische Glaubensgemeinschaft einen gewissen Schonraum. Seit sich viele Aussteiger an die Öffentlichkeit wagen oder in den sozialen Medien ihre erschütternden Berichte veröffentlichen, kämpfen die Zeugen zunehmend mit einem Imageverlust.

Scientology "nur" auf Platz 3

Auffallend ist, dass auch auf Platz zwei (5 Prozent) mit "YOU Church" eine weitere Freikirche rangiert. Es werden also zunehmend die sektenhaften Aspekte dieser christlichen Gemeinschaften wahrgenommen.

Mit nur noch 3 Prozent der Anfragen hat Scientology ein vergleichsweise "gutes" Resultat erzielt. Es hat aber nicht damit zu tun, dass sich die Sekte gemäßigt hätte. Vermutlich liegt es primär daran, dass die amerikanische Pseudokirche den Zenit überschritten hat.

Übernahme mit freundlicher Genehmigung von watson.ch.