Der Mensch hat sich mit seinem Organismus über Millionen von Jahren hin beständig an die Gegebenheiten der Erde angepasst, um einwandfrei zu funktionieren und zu überleben. Verändern sich die vorherrschenden Bedingungen, beispielsweise die Schwerkraft, kann dies zu erheblichen Wahrnehmungsstörungen führen.
Mit derartigen Umständen sind besonders Astronauten konfrontiert, und es setzt sie bei Reisen durch den Weltraum oder bei Operationen auf Raumstationen zusätzlichen Risiken aus. Wissenschaftler der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg (H-BRS) untersuchen nun in Zusammenarbeit mit kanadischen Kollegen die Auswirkungen von Schwerelosigkeit auf die menschliche Wahrnehmung.
Immer wieder berichteten Astronauten in der Vergangenheit darüber, dass sich die Wahrnehmung ihrer Eigenbewegung und das Einschätzen von Entfernungen im schwerelosen Raum erheblich verändern. Kollisionen mit Fahrzeugen oder bewegten Objekten werden dadurch wahrscheinlicher und bergen eine zusätzliche Gefahrenquelle für Mensch und Maschine.
Um Maßnahmen zur Bekämpfung dieser Orientierungslosigkeit zu entwickeln, planen Wissenschaftler der H-BRS in Kooperation mit Forschern des York Centre for Vision Research (CVR) und dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) ein Experiment bei Mikrogravitation. Bei nahezu vollständig aufgehobener Schwerkraft soll das SMUG-Experiment (Self-Motion Under Gravity) im Parabelflug den Einfluss von Gravitation auf die Eigenbewegung untersuchen und bei der Optimierung von Trainingsmethoden für Astronauten behilflich sein.
Um die Verhältnisse des Weltraums nachzustellen, nehmen die Wissenschaftler um Professor Dr. Rainer Herpers von der H-BRS an den vom Raumfahrtmanagement des DLR organisierten wissenschaftlichen Parabelflügen teil. Bei Parabelflügen wird die Gravitation durch kontrollierte Sturzflüge kurzzeitig außer Kraft gesetzt. In diesen Phasen absolvieren die beteiligten Probanden eine Reihe von visuellen Tests, die mit den Ergebnissen gleicher Testreihen auf der Erde verglichen werden. Sofern Unterschiede erkannt werden, können die Wissenschaftler anhand der Daten feststellen, inwieweit die Selbstwahrnehmung durch Schwerelosigkeit beeinflusst wird. Ein erster Flug fand im September statt.
SMUG steht im Zusammenhang mit dem Langzeit-Mikrogravitationsprojekt VECTION. Es wird von der kanadischen Weltraumagentur CSA gefördert und ist Teil des Human-Research-Programms der amerikanischen Weltraumagentur NASA, die dort Risiken von veränderter Wahrnehmung bei Raumfahrtmissionen untersucht. Die Praxisphase von VECTION läuft noch bis 2023 auf der Internationalen Raumstation (ISS) und soll auch durch die Ergebnisse von SMUG ergänzt werden.
Neben dem Nutzen für die Raumfahrt erhoffen sich die Wissenschaftler auch neue Erkenntnisse für die Medizin. So deuten bisherige Beobachtungen darauf hin, dass sich die Symptome von altersbedingter Wahrnehmungsstörung den Auswirkungen der durch Schwerelosigkeit verursachten Raumkrankheit ähneln. Die Versuchsergebnisse könnten somit dazu beitragen, beispielsweise Orientierungslosigkeit bei erkrankten Patienten besser zu verstehen und die medizinische Behandlung zu verbessern.