Warum der Iran völkerrechtliche Verpflichtungen einhalten sollte

Eine Vernachlässigung dieses sozialen Tatbestands würde das uneingeschränkte "Selbstbestimmungsrecht der Völker" wie bekannt zum Instrument barbarischer Unterdrückung der Menschen als Einzelne verkommen lassen: das Recht auf Unversehrtheit der Person, das Recht auf freie Meinungsäußerung gehören unantastbar dazu. Der oder die Einzelne hat solche Rechte gegenüber allen, die sie zu beschränken suchen, und insbesondere gegenüber Machthabern. Die völkerrechtlich garantierten Bürgerrechte weisen – ihrem Sinn nach – daher immer die Mächtigen in ihre Schranken, die sich dabei immer auf ihre "Souveränität" beziehen. In diesem engeren Sinn kann man unter "Selbstbestimmungsrecht der Völker" daher nur das Recht von Menschen verstehen, an der Regierung ihrer eigenen Angelegenheiten mitzuwirken, also eine Art Recht auf partizipatorische Demokratie. Dieses Selbstbestimmungsrecht der Menschen als das Recht auf Selbstregierung der Menschen ergibt sich aus dem Prinzip der Gegenseitigkeit in der Rechtssetzung, dem "Gerechtigkeitsprinzip". Sonst kann man dieses Recht gar nicht in der Praxis angemessen definieren angesichts der bestehenden ethnischen und konfessionellen Vielfalt und des gegenwärtig vorherrschenden Menschenbildes in der "Islamischen Republik". Was bedeutet das "nationale Selbstbestimmungsrecht" der Menschen, die in der "Islamischen Republik" als unmündig gelten, das heißt rechtlich und praktisch als bloße "Untertanen" der klerikalen Herrschaft behandelt werden – geschweige denn Frauen, Andersdenkender und Andersgläubige oder marginalisierte ethnische Gruppen, die ihre eigene Autonomie anstreben? Solche rhetorischen Fragen sollen deutlich machen, dass in der "Islamischen Republik" erfahrungsgemäß das Selbstbestimmungsrecht weder juristisch noch praktisch als Recht einzelner Bürger begriffen wird; vielmehr als das Recht des Theokraten, wie es verfassungsmäßig festgelegt ist. Damit wurde das Selbstbestimmungsrecht nicht zum ersten Mal zur Verlockung für Usurpatoren, die sich nicht nur auf Gott, sondern auch auf das "Gemeinwohl" beziehen.

Seine neuerliche völkerrechtlich präzisierte Bedeutung lässt es allerdings als einen Kampfbegriff der unterdrückten Menschen international verteidigen – im Kampf machtschwächerer Einzelner gegen Mächtige, die es zuweilen im Kampf um die Etablierung und Erhaltung ihrer eigenen Macht instrumentalisiert haben. Um diese Instrumentalisierung des Selbstbestimmungsrechts eines Volkes zur Machtergreifung und Machterhaltung der Usurpatoren in einen Kampfbegriff der Unterdrückten zu verwandeln, ist der Bezug auf die "Schutzverantwortung" unabdingbar. Damit wird auf die Reziprozität der Rechte und Pflichten der Menschen in unterschiedlichen sozialen und politischen Positionen aufmerksam gemacht. Denn sonst würden weiterhin die als Kollektiv begriffenen Rechte weiterhin der Unterwerfung von Menschen dienen, nicht aber ihrer Befreiung von Bevormundung. Zu dieser Umorientierung müssen allerdings die Gerechtigkeitsprinzipien aktiv gelebt werden.

Zu Gerechtigkeitsprinzipien der normativen Modernisierung

Damit Rechte der Völker, der ethnischen und konfessionellen Gruppen nicht als ihre kollektiven Rechte der Unterwerfung anderer Menschen dienen, sondern ihrer Befreiung, müssen sie als individuelle bürgerliche Rechte der Angehörigen dieser Kollektive begriffen werden. Konsequenterweise gibt es kein "Kollektivrecht" dieser Völker oder Menschen ethnischer und konfessioneller Herkunft, die Gruppen miteinander bilden; sondern ein Recht der Menschen verschiedener Abstammung, gleichwertige und gleichberechtigte Bürger ihres Gemeinwesens zu sein, also Gleiche unter Gleichen; das Recht nicht benachteiligt zu werden, ja auch ihre eigene Sprache und Kultur zu pflegen. Diese sind daher Bürgerrechte, Rechte der Einzelnen gegen jede Vormacht. Damit soll zugleich verhindert werden, dass nationale, ethnische oder konfessionelle Selbstbestimmungsrechte als Alibi für Homogenisierung bzw. "Gleichschaltung" dienen; die Erfahrung der "Islamischen Republik" hat ja reichlich vorgeführt, wie Islamisierung als Homogenisierungsversuch der Gesellschaft die Diskriminierung, Marginalisierung, Unterdrückung und zuweilen Eliminierung und Vertreibung von "Minderheiten" zur Folge hat. Von daher liegt der Kern zivilisierter moderner Gesellschaften in ihrer Fähigkeit, Menschen unterschiedlichen Geschlechts und Alters, unterschiedlicher Herkunft und Kultur gleiche Rechte zu garantieren. Darin liegt auch eine der unverzichtbaren Prämissen der föderativen Struktur einer multiethnischen Staatsgesellschaft, die die "Islamische Republik" ersetzen soll.

Die Erfahrung der "Islamischen Republik" hat zwar gezeigt, wie das "nationale Selbstbestimmungsrecht" ein Instrument der De-Zivilisierung der Gesellschaft werden kann, zu einem Zeugnis der Unfähigkeit zur Freiheit in Vielfalt. Deswegen darf es aber nicht aus dem Begriffsvorrat der internationalen Politik verschwinden. Dem müssen allerdings emanzipatorische Grenzen durch neue realitätsangemessenere Deutungen gesetzt werden, wie dies mit der "Schutzverantwortung" zum Teil geschehen ist. Damit kommen die individuell einklagbaren Gerechtigkeitsprinzipien zur Geltung, deren Sanktionierung die demokratische Opposition international fordern kann. Dies setzt aber die unumgängliche Überwindung der gegenwärtig dominierenden kollektivrechtlichen Glaubensaxiome und Werthaltungen voraus. Dazu ist aber eine Verschiebung der Ich- und Wir-Identität der interdependenten Menschen zugunsten ihrer Ich-Identität in den zunehmend sozial differenzierenden Gesellschaften notwendig – ohne einer "Homo-Clausus-Selbsterfahrung" anheimzufallen. Diese Notwendigkeit ist nur nachvollziehbar, wenn man Individualisierung als zunehmende Bereitschaft zur Selbstverantwortung nicht mit egozentrischem Individualismus eines Menschen verwechselt, der sich in seinem "Inneren" von der "Außenwelt" abgeschlossen und total unabhängig von anderen Menschen erfährt. Denn Menschen sind von Natur aus auf einander angewiesen und voneinander abhängig, weswegen sie Kooperationsgemeinschaften miteinander bilden. Dies trotz individueller Zielkonflikte, deren Austragung rechtlich reguliert werden müsste. Doch die emotionale Entbindung der Einzelnen von der Nabelschnur der traditionellen Gemeinschaften, mit der sie sich einst verschmolzen fühlten, ist eine unabdingbare Voraussetzung dieser autonomen Selbsterfahrung der Menschen als sozialer Einzelmensch im Modernisierungsprozess. Es ist gerade diese Transformation der Selbsterfahrung der Menschen als mehr oder weniger autonomen Individuen, die eine rechtsmoralische Legitimierung der gesellschaftlich notwendigen Einschränkungen ihrer Freiheit erfordert. Diese freiwillige Selbstverpflichtung interdependenter Menschen zur Einschränkung ihrer Entscheidungs- und Handlungsspielräume bedarf allerdings einer gegenseitigen Zustimmung, um rechtsmoralisch gerechtfertigt zu sein. Diese gegenseitige Zustimmung zur Einschränkung, ohne die kein Gemeinwesen existiert, erstreckt sich allerdings auf eine regelförmige Verpflichtung. Der Staatsbildungsprozess macht keine Ausnahme, sei es diktatorisch oder demokratisch legitimiert.

"Gemeinwohl" oder "Gerechtigkeit": Legitimationskriterien der Staatsgewalt als "Souverän"

Dies wird einsichtig, wenn man begreift, dass ein Staat als ein Gemeinwesen durch die Monopolisierung der "Gewaltandrohung" entsteht, die einhergeht mit der Suspendierung und Kasernierung der Gewalt als Regulationsprinzip im Alltagsleben. Diese Zwangsbefugnis muss aber wie in jedem Gemeinwesen rechtsmoralisch legitimiert werden. Dabei geht es um den Maßstab, wonach die Zwangsbefugnis als legitim gelten kann. Die normativ bescheidene Antwort darauf ist eine pragmatische Rechtfertigung, die historisch durchgängig ist. Diese pragmatische Rechtfertigung beruft sich auf "klugheitsgebotene Zwecke", etwa auf die innere und äußere Sicherheit oder das Wohlergehen der Gesellschaft. Die Zwangsbefugnis erscheint dann als legitim, wenn sie also dem Gemeinwohl dient, weswegen auch der Staat als eine "Überlebenseinheit" erfahren wird. Es gibt zwar verschiedene sozialpragmatische Legitimationen der Zwangsbefugnis in einem Gemeinwesen. Die wirkungsmächtigste Ethik des Gemeinwohls ist aber der ideologieverdächtige Utilitarismus, dessen Leitbegriff "maximales Kollektiv-Wohl" ist. Denn durch die Verklärung der partikularen Interessen als Allgemeininteressen erweist er sich in der Regel als eine ideologische Rechtfertigung der Ausbeutung der Menschen durch Menschen, als welche ihn auch schon Marx in der "Deutschen Ideologie" scharf ablehnte.2 Als ein anscheinend demokratischer Ansatz zeichnet sich der Utilitarismus außerdem aus durch das Defizit an Gerechtigkeit im doppelten Sinne: an rechts- und staatsnormierender als auch an der grundlegenderen, rechts- und staatslegitimierenden Gerechtigkeit.3 Dem fehlt die Gegenseitigkeit der Übertragung von Rechten und Pflichten im Sinne eines sozialen Tauschverhältnisses. Dieser Äquivalenztausch bezieht sich auf die Gegenseitigkeit der rechts- bzw. regelförmigen Verpflichtungen, die in der Regel verfassungsmäßig verankert wird. Das Recht ist das Tauschmittel, dessen Verletzung dem Gewaltbefugten die Legitimation entzieht. Deswegen konnte das Schah-Regime nicht einmal seine Herrschaft mit seiner "weißen Revolution" bzw. der "Revolution von Schah und Volk" legitimieren. Denn mit der Suspendierung der Verfassung verlor der regierende Schah seine Legitimation als Monarch. Deswegen erwies sich Mossadegh als ein wahrer Verfassungspatriot, der unermüdlich den Schah aufforderte, seine verfassungsmäßig festgeschriebenen Kompetenzen nicht zu überschreiten und als Monarch nicht zu regieren. Denn mit der Verletzung der Verfassung hat der Schah die gegenseitig rechtsförmigen Verpflichtungen und damit die Regelform sozialer Beziehungen verletzt. Damit konnte er zwar die "kollektiven Vorteile" seiner Bemühungen rechtfertigen, opferte aber den verfassungsmäßig garantierten "distributiv-kollektiven Vorteil" eines Rechtsstaates. Denn der Utilitarismus erlaubt zwar kollektiven Vorteil, opfert aber Einzelne dem Gemeinwohl. Die Legitimationskrise des Schah-Regimes ist unter anderem darauf zurückzuführen. Die "Islamische Republik" als eine institutionelle Ent-Demokratisierung ist daher ein Nachhinkeffekt des sozialen Habitus ihrer sozialen Träger, denen der versprochene "kollektive Vorteil" jedes individuelle Opfer wert schien. Ihnen schien außerdem der "Anti-Imperialismus" mehr wert als Rechtsförmigkeit sozialer Beziehungen. Man unterwarf sich lieber einem Führer als einer Rechtsherrschaft. Dieser Untertanengeist hat nicht nur die "Islamische Republik" entstehen lassen. Sie sorgt auch für deren Erhaltung als eine Art heilige patriotische Pflicht, deren Verletzung als Verrat verurteilt wird.

Dabei legitimiert sich der "Islamische Staat" nicht einmal utilitaristisch mit der Ethik des Gemeinwohls. Für den Islamisten ist der "Islamische Staat" bloß die Herrschaft Gottes auf Erden durch dessen Stellvertreter, den Theokraten als "Vormundschaft für die Nichtzurechnungsfähigen". Dieser legitimatorische Paternalismus der Theokratie, der Menschen "zu Glück und Vollkommenheit" verhelfen soll4, widerspricht als Inbegriff autoritärer Herrschaft nicht nur der liberalen Demokratie, die einen politischen Individualismus voraussetzt. Der Islamismus bekämpft mit "Demokratie als westlich" ausdrücklich den politischen Individualismus jener Menschen, für die Zwangsbefugnis nur dort legitim ist, wo sie jedem Individuum einen Anspruch auf unveräußerliche Rechte einräumt, einschließlich positiver Freiheitsrechte und demokratischer Mitwirkungsrechte. Denn die islamistische klerikale Herrschaft, die sich als Herrschaft Gottes auf Erden begreift, kennt keine Rechte, sondern nur göttlich sanktionierte Pflichten der Gläubigen. Für deren Durchsetzung ist der "Islamische Staat" nicht nur im Iran absolut notwendig, sondern universal. Daher kennt der Islamismus keine nationalstaatlich bestimmten normativen und legitimierenden Grenzen. Denn Gottes Macht kennt ja keine Grenzen! Für den Islamisten gilt daher nur die Zufriedenheit Gottes als legitimatorische Grundlage jeder Handlung der Obrigkeit, welche die Gemeinschaft der Muslime weltweit expandieren muss. Für diese göttlich legitimiert erfahrene Obrigkeit ist der Iran bloß ein "islamisches Hoheitsgebiet" ("darol Eslam") gegenüber dem eroberungsgebotenen "Feindesgebiet" ("arol harb"). In diesem "Vaterland der Gläubigen" ("Ommol-ghora") gilt nur das Gemeinwohl der hypostasierten Gemeinschaft der Muslime (Umma), die keine Landesgrenze kennt. Dieses kollektive Gemeinwohl der Muslime wird auch nur durch den absoluten klerikalen Herrscher allein und im Namen Gottes definiert – wenn überhaupt. Da die "Islamische Republik" sich als "Vaterland der Muslime" ("Ummol-ghora") begreift, kommt folglich dessen Sicherung als "Sicherung des Systems" die absolute Notwendigkeit zu ("hefz-e Nezam Odjeb-e wadjebat ast"). Bei diesem "Systemerhaltenden klugheitsgebotenen Zweck" ("Mslehat-e Nezam") dürfen sogar, nach Chomeini, die primären Gebote des Islams zeitweise suspendiert werden. Von daher hat nicht einmal die sonst als Markenzeichen des Islams propagierte Gerechtigkeit einen Platz in der "Islamischen Republik", wenn es um die "Systemsicherung" geht. Dies hat erneut der neue "oberste Richter", Raissi, bei seiner Amtseinführung demonstrativ hervorgehoben als er seine eigene Aufgabe definierte. Mit dem Gerechtigkeitsprinzip werden aber auch die völkerrechtlich verbindlich garantierten grundlegenden Menschenrechte suspendiert, die als Menschenrechte der 1. Generation bezeichnet werden: das Recht auf Leben, das Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit sowie das Recht auf die Teilnahme an allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen. Außerdem wird die Gleichberechtigung von Mann und Frau nach Scharia in Frage gestellt. Verletzt werden außerdem Regelungen zum Minderheitenschutz, die Diskriminierung ethnischer, religiöser und sprachlicher Minderheiten generell verbieten und festlegen, dass ihnen das Recht auf ihre eigene Kultur, auf Bekenntnis und Ausübung ihrer Religion und auf ihre eigene Sprache nicht aberkannt werden darf. Denn mit der Scharia als Bezugsrahmen der Rechtsansprüche der Menschen können völkerrechtlich abgestimmte Menschenrechte praktisch außer Kraft gesetzt werden. Mit diesem Regelfetischismus verletzt aber die "Islamische Republik" systematisch eklatant das Gebot von Rechtsschutz und Gerechtigkeit als Voraussetzung der beanspruchten "Souveränität".

Zu Rechtsschutz und Gerechtigkeit als Voraussetzung der "Souveränität"

Nicht einmal die regelmäßige Verurteilung der Menschenrechte durch die UNO-Generalversammlung hat daran etwas geändert. Der Menschenrechtsausschuss der UNO kann zwar Individualbeschwerden einzelner Bürger von Staaten, die das Zusatzprotokoll unterzeichnet haben, annehmen und verhandeln. Unterbinden kann sie die Menschenrechtsverletzungen nicht. Seit Jahrzehnten wurden sogar diverse Menschenrechtsbeauftragte bestellt, die vergeblich die institutionalisierten Menschenrechtsverletzungen, trotz Kooperationsweigerung der "Islamischen Republik", dokumentierten. Vergeblich waren diese dokumentierten Menschenrechtsverletzungen, weil keine ernsthafte Sanktionierung dieser Rechte durch die sich demokratisch definierenden Staatengemeinschaft folgte. Diese an ihre rechtsmoralische Verpflichtung zu erinnern, ist daher die Aufgabe der demokratischen Opposition, die mit Hilfe der demokratischen Weltöffentlichkeit die Respektierung der "politischen Gerechtigkeit" durchzusetzen beabsichtigt. Denn die entsprechenden Gerechtigkeitsprinzipien, die die Grundordnung einer Staatsgesellschaft betreffen, legitimieren auch das Gewaltmonopol jedes Staates, das heißt dessen "Zwangsbefugnis". Dazu gehört die das Recht auf "nationale Souveränität" garantierende "Schutzverantwortung" des Staates, zu deren Einhaltung die "Islamische Republik" gezwungen werden muss.