Warum der Iran völkerrechtliche Verpflichtungen einhalten sollte

Die "Schutzverantwortung"5 ist ein neues Konzept der internationalen Politik und des Völkerrechts zum Schutze der Menschen vor schweren Menschenrechtsverletzungen und Brüchen des humanitären Völkerrechts. Sie wurde maßgeblich von der "International Commission on Intervention and State Sovereignty" (ICISS) in den Jahren 2000/2001 entwickelt und international verbreitet und nach der Zustimmung der Generalversammlung der UNO (2005) sogar in der Resolution 1674 des Sicherheitsrats erstmals in einem völkerrechtlich verbindlichen Dokument erwähnt. Der UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon veröffentlichte 2009 einen Bericht zur Umsetzung der Schutzverantwortung, die auf drei Säulen basiert und insbesondere die Bedeutung einer rechtzeitigen Erkennung und Einleitung von präventiven Maßnahmen bei derartigen Verbrechen hervorhebt.6

Die "Schutzverantwortung" trifft zunächst den Einzelstaat und beschreibt seine Pflicht, das Wohlergehen der ihm kraft seiner Personal- oder Gebietshoheit unterstellten Bürger zu gewährleisten. Bei der Wahrnehmung dieser Verantwortung wird er von der internationalen Staatengemeinschaft unterstützt, der eine subsidiäre bzw. unterstützende Schutzverantwortung zukommt. Ist jedoch die politische Führung des jeweiligen Staates nicht fähig oder willens wie im Falle Iran, die Bürger vor schweren Menschenrechtsverletzungen zu schützen, darf die internationale Staatengemeinschaft, vornehmlich die Vereinten Nationen, zum Schutz der bedrohten Menschen eingreifen. Dazu stehen ihr nach Maßgabe der Charta der Vereinten Nationen zivile und militärische Mittel zur Verfügung, über deren Einsatz der Sicherheitsrat entscheidet.

Die theoretische Grundlage der "Schutzverantwortung" ist die Definition von Souveränität als Verantwortung ("sovereignty as responsibility"), wonach ein Staat Verantwortung für den Schutz seiner Bevölkerung übernehmen muss, um als souverän zu gelten. Die "Schutzverantwortung" hilft damit, universelle Moralvorstellungen zum Schutz der Menschen als Einzelne und Gruppen international zu verwirklichen. Als zu verhindernde Menschenrechtsverletzungen werden Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnische Säuberungen identifiziert. Von daher sollte das kanadische Beispiel der parlamentarischen Verurteilung der Massenhinrichtungen iranischer Gefangener im Jahre 1988 als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" auch in Europa und den USA Schule machen.

Nach der vorliegenden Fassung gliedert sich die "Schutzverantwortung" in drei Teilverantwortlichkeiten: Die Pflicht zur Prävention, die Pflicht zur Reaktion und die Pflicht zum Wiederaufbau, wovon vor allem die Pflicht zur Prävention hier für mich zur Debatte steht.

Die Pflicht zur Prävention zielt auf die Vermeidung von Situationen, in denen es zu schweren Menschenrechtsverletzungen kommt, insbesondere durch den Aufbau einer guten Verwaltung ("good governance") und die Bekämpfung tiefverwurzelter Ursachen für Konflikte ("root causes"), die im Iran durch die institutionalisierte Verletzung der Menschenrechte vor allem in Form institutionalisierter ethnischer und konfessioneller Diskriminierungen unausweichlich sind. Auch eine Anklage vor dem Internationalen Strafgerichtshof ist insoweit denkbar, die im Falle Iran einer Zustimmung des Sicherheitsrates der UNO bedarf, weil der Iran das Abkommen zur Errichtung des "Internationalen Strafgerichtshof" zwar unterschrieben aber nicht ratifiziert hat.

Auch die Pflicht zur Reaktion verpflichtet zu einer Beseitigung bzw. Unterbindung von Menschenrechtsverletzungen. Mittel hierzu sind friedliche Zwangsmaßnahmen der Staatengemeinschaft wie Waffenembargos und das Einfrieren von Bankkonten. Als ultima ratio kommen auch militärische Interventionen in Betracht, wenngleich diese nur in zwei eng umrissenen Situationen gerechtfertigt sein sollen: im Falle eines Massensterbens und im Falle einer ethnischen Säuberung. Die Befugnis, eine solche militärische Intervention zu autorisieren, geht gemäß der "Schutzverantwortung" jedoch nicht auf einzelne Staaten über, sondern verbleibt beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, die gegenwärtig paralysiert ist.

Von der "humanitären Intervention" unterscheidet sich die "Schutzverantwortung" in dreifacher Weise:

  1. Der dem Konzept der humanitären Intervention immanente Rechtfertigungszwang bedingt eine starke Zurückhaltung der Staaten, in innerstaatliche Konflikte aktiv einzugreifen. Diese Zurückhaltung zeigte sich insbesondere während des Völkermords in Ruanda – mit verheerenden Folgen. Allerdings werden zurzeit die Verantwortlichen vor dem "Internationalen Strafgerichtshof" in Genf zur Rechenschaft gezogen. Die Schutzverantwortung verlagert den völkerrechtlichen Rechtfertigungsdruck für ein Handeln der Staaten bei Menschenrechtsverletzungen, indem sie entsprechende Pflichten formuliert.
  2. Die Souveränität eines Staates und das daraus hervorgehende absolute Interventionsverbot, wie es Art. 2 Ziff. 7 der Charta der Vereinten Nationen gewährleistet, werden durch die Schutzverantwortung neu definiert. Als Folge eines Verstoßes gegen seine Schutzverantwortung verwirkt ein Einzelstaat sein Recht auf Nichteinmischung in seine internen Angelegenheiten.
  3. Die "humanitäre Intervention" betrifft allein die Rechtfertigung militärischer Maßnahmen und damit nur einen Teilaspekt der "Schutzverantwortung". Mit ihren Präventions-, Reaktions- und Wiederaufbauelementen verfolgt letztere einen weit umfassenderen Ansatz.7

Mit dieser völkerrechtlichen Grundlage präventiv-gewaltloser humanitärer Intervention ist völkerrechtlich die Möglichkeit gegeben, im Falle institutionalisierter Menschenrechtsverletzungen, jenseits der Einzelfallbeispiele der Menschenrechtsverletzungen wie bei Amnesty International, Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte als einen unverzichtbaren Aspekt der institutionellen Demokratisierung Irans zu initiieren.

Mit der in der "Schutzverantwortung" formulierten Pflicht zur aktiven Verteidigung der Menschenrechte können es die demokratischen Staaten nicht mehr wie bis jetzt bei Lippenbekenntnissen zu Menschenrechte belassen. Sie daran zu erinnern ist die Hauptaufgabe der Menschenrechtaktivisten.

Denn wer eine "humanitäre Intervention" als einen bewaffneten Eingriff in das Hoheitsgebiet eines anderen Staates zum Schutz von Menschen in einer humanitären Notlage ablehnt, hat keine andere Alternative als diesen Notlagen präventiv vorzubeugen. Und zwar gewaltlos. Die institutionalisierten Menschenrechtverletzungen und die institutionell vorprogrammierte blutige Eskalation jedes politischen Konfliktes um institutionelle Demokratisierung, wie wir nicht nur in Syrien erleben, sondern auch bei der blutigen Unterdrückung der "Grünen Bewegung" im Iran gesehen haben, machen die präventiv-gewaltlosen Interventionen unabdingbar.

Jede präventiv-gewaltlose humanitäre Intervention muss daher auf eine Institutionalisierung der Rahmenbedingungen gewaltloser Austragung der Konflikte hinzielen, bevor sie aus schierer Verzweiflung in blutige Bürgerkriege ausufern wie in Syrien. Denn diese Konflikte sind Manifestationen der nie endenden Macht- und Statuskämpfe und als solche die Struktureigentümlichkeit jeder menschlichen Beziehung, die sich mit zunehmender funktioneller Demokratisierung der Gesellschaften vervielfältigen und verschärfen.

Es geht dabei um eine nie enden wollende Auseinandersetzung um die Verschiebung der Machtbalance und der Selbstwertbeziehungen der interdependenten Menschen als Einzelne und Gruppen zu eigenen Gunsten. Es geht also um die Steigerung der eigenen Machtchancen und des Selbstwertgefühls auf Kosten der Anderen. Es geht dabei immer darum, das Verhalten anderer Menschen als Einzelne und Gruppen zu steuern für die Erweiterung der eigenen Chancen. Und da zuweilen mehr Macht gleichgesetzt wird mit mehr Selbstwert, entsteht eine eigene "Logik der Emotionen", die zu einem Teufelskreis der Eskalation der Konflikte beiträgt. Um die Eigendynamik dieser Eskalation hin zur gewaltsamen Austragung zu unterbinden, ist eine präventive gewaltlose humanitärere Intervention unabdingbar. Sie soll zur Förderung gewaltloser Konfliktaustragung dadurch beitragen, indem sie ihre institutionellen Rahmenbedingungen durch Sanktionierung folgender Forderungen erleichtert:

  1. Die Respektierung der Menschenrechte, zu dem die "Islamische Republik" durch die Ratifizierung von internationalen Menschenrechtsabkommen verpflichtet ist.
  2. Die Respektierung der rechtsstaatlichen Grundsätze. Damit soll die Ausübung staatlicher Macht nur auf der Grundlage der Verfassung und von formell und materiell verfassungsmäßig erlassenen Gesetzen mit dem Ziel der Gewährleistung von Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zulässig sein. So soll die Respektierung der in der Verfassung verankerten Grundrechte der Bürger bedingungslos garantiert werden.
  3. Die Respektierung der Minderheitenrechte und des Diskriminierungsverbots als unabdingbare Komponente der Demokratie; sonst wäre das "Dritte Reich" der demokratischste Staat in der Geschichte, denn zuweilen wird die "Diktatur der Mehrheit" als "Demokratie" definiert. In diesem Sinne behauptet auch Khamenei, dass der Iran das demokratischste Land der Welt sei.
  4. Die Abschaffung der institutionalisierten  ethnischen, und konfessionellen Diskriminierung sowie der Diskriminierung von Frauen, von Andersdenkenden und Anderslebenden.
  5. Die Freilassung der, rechtswidrig und aufgrund erpresster Geständnisse verurteilten, politischen sowie andersdenkenden und andersgläubigen Gefangenen wie Bahais, Sufis, Christen und andere.
  6. Die international garantierten freie Wahlen, da selbst nach Khomeini "die Wahlstimme der Maßstab ist".
  7. Ein Verfassungsreferendum, weil sogar nach Khomeini, der als Begründung der Notwendigkeit der Neugründung des nachrevolutionären Staates durch ein Referendum ausdrücklich hervorhob: "Es ist das Recht der neueren Generationen ihre eigene Staatsform zu bestimmen".

Diese Forderungen sind allerdings ohne entsprechende internationale Sanktionen kaum durchsetzbar. Jedoch gibt es inzwischen eine unüberhörbare international vernehmbare Stimme, die einen "Verzicht auf Regimewechsel" als einen angemessenen Lohn für iranischen Verzicht auf atomare Ausrüstung des Irans propagiert. Dabei suggeriert sie die Annahme, dass die geforderten humanitären Interventionen eine Aufforderung zum extern gesteuerten Regimewechsel im Iran bedeutet, was die überwiegende Mehrheit der Iraner aus eigenen historischen Erfahrungen strikt ablehnen. Die praktische Konsequenz dieser Forderung ist eine ethisch inakzeptable Toleranz gegenüber den institutionalisierten Menschenverletzungen Irans.

Diesen Kuhhandel abzuwehren sollte das Hauptanliegen aller internationalen Bemühungen zur aktiven Verteidigung der Menschenrechte im Iran sein, ohne eine friedliche Regelung dieses Konfliktes zu torpedieren.

Eine Diskussion über die gegenwärtig angemessenen Formen der gewaltlosen humanitären Interventionen zum Schutz der Menschenrechte im Iran sollte - als Alternative zu dieser schrecklichen Form der Toleranz gegenüber den institutionalisierten Menschenverletzungen – für die Unterstützung einer nachhaltigen friedlichen Koexistenz durch eine zivilgesellschaftlich gestützte Demokratisierung des Irans sorgen. Die gewaltlose humanitäre Intervention in Form aktiver Unterstützung zivilgesellschaftlicher Entwicklungsprozesse reduziert prophylaktisch die Gefahr blutiger Austragung sozialer Konflikte und erhöht die Chance der gewaltlosen Überwindung bestehender institutioneller Blockaden sozialer Mobilität und die Aussicht auf friedliche institutionelle Demokratisierung der iranischen Staatsgesellschaft. Damit bekommt auch die Möglichkeit der friedlichen Koexistenz im Nahen und Mittleren Osten eine reale Chance.


  1. Vergl. Joachim Bentzien, Die völkerrechtlichen Schranken der nationalen Souveränität im 21. Jahrhundert, Peter Lang, Frankfurt am Main 2007. ↩︎
  2. Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 394 ff. ↩︎
  3. Vergl. Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999, S. 42 ff. ↩︎
  4. Vergl. Ajatollah Chomeini, Der Islamische Staat, Berlin 1983, S. 37 ↩︎
  5. Vergl. Wikipedia, Artikel "Schutzverantwortung" ↩︎
  6. Zusammenfassung des UN-Berichts zur Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft. genocide-alert.de. 5. April 2009. ↩︎
  7. Vergl. Wikipedia ↩︎