Während der Corona-Pandemie hat der Messenger-Dienst "Telegram" starken Zulauf bekommen. Kein Wunder, denn Verschwörungstheoretiker und Gegner staatlicher Maßnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus können sich dort ungehindert organisieren.
Ginge es nach Pavel Durov, dem Gründer des Messengerdienstes Telegram, so hätte man staatliche Gesetze, Grenzen und Währungen längst abgeschafft, denn nach seinem Dafürhalten sind Staaten spätestens seit Beginn des 21. Jahrhunderts überholte Organisationsformen.
Dem jungen Russen gefällt es, anzuecken, seine großen Vorbilder: Der fiktive Charakter Neo aus Matrix – die optische Ähnlichkeit zu ihm unterstreicht er gerne durch öffentliche Auftritte ganz in schwarzer Garderobe – und Edward Snowden, den er als seinen persönlichen Helden feiert. Doch unlängst hat er sich selbst den Ruf einer Legende erarbeitet, als eine Mischung aus revoltierender Tech-Ikone und Skandalnudel, die in der Öffentlichkeit mit politisch-motivierten Jungenstreichen für halbernste Entrüstung sorgt und am Ende Sympathie erntet.
Wie damals in St. Petersburg, wo er zur Überraschung der Passanten Rubelscheine als Papierflieger aus dem mehrstöckigen Altbau seiner Firmenzentrale schweben ließ, ein Gag mit dem er wahrscheinlich seine Einstellung zu Geld demonstrieren wollte. Im Interview mit dem Wirtschaftsmagazin Forbes verkündete er, Geld sei ohnehin nicht mehr als eine virtuelle Einheit.
Seit seiner Flucht aus Russland leben Durov und sein Team als digitale Nomaden. Seine libertäre Weltanschauung bringt er auch in der Konzeption und in dem unternehmerischen Selbstverständnis von Telegram zum Ausdruck. Gerade deswegen ist Telegram nun zum Herzstück der Corona-Protestbewegung gegen die Präventionsmaßnahmen der Bundesregierung geworden.
Schutzraum für Oppositionelle, Paradies für Extremisten
Vor der Corona-Pandemie war Telegram als die harmlose Alternative mit Verschlüsselungsfunktion zu seinem großen Konkurrenten Whatsapp bekannt. Ebenso wie auf Whatsapp können über den 2013 gegründeten Messenger Textnachrichten, Fotos, Videos und Sprachnachrichten geteilt sowie Anrufe getätigt werden. Einige Unterschiede gibt es aber dennoch. Telegram bietet eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung an. Diese Funktion ermöglicht eine sichere Kommunikation, bei der Dritte nicht auf die Informationen zugreifen können.
Gerade in autoritären Regimen haben Telegrams geheime Chats für Aktivisten und Journalisten einen hohen Stellenwert, doch auch Terroristen, Drogendealer und Waffenhändler nutzen die App. Russlands Regierung forderte von Telegram immer wieder die Offenlegung der Datenschlüssel. Durov gab sich dennoch unbeugsam bis es 2018 dann zu Blockadebemühungen der russischen Behörden kam, die Telegram durch wechselnde IP-Adressen von Anbietern wie Amazon Web Service und Google Cloud sabotierte, so dass der Versuch erfolglos und mit wirtschaftlichen Verlusten in Milliardenhöhe für Russland endete.
Telegram ist obendrein weniger streng, was die maximale Größe von Gruppen betrifft. Gruppen können bei Telegram bis zu 200.000 Mitglieder umfassen, Kanäle haben sogar eine uneingeschränkte Reichweite. Whatsapp hingegen beschränkt die Gruppengröße auf 256 Nutzer. Das alles macht Telegram zu einem Hybriden aus Messengerdienst und sozialem Netzwerk, einem halböffentlichen Raum, in dessen vielen Waben den Nutzern noch mehr Anonymität garantiert wird als auf Facebook und anderen Plattformen.
Seit Jahren beobachten Extremismusexperten, wie Telegram sich zum populärsten virtuellen Treffpunkt für Neonazis, Verschwörungsideologen und Islamisten entwickelt. Fast religiös beharrt Telegram darauf, man würde seine Nutzer unter keinen Umständen von ihrer Meinungsäußerung abhalten, weshalb auch kein Algorithmus die Verbreitung von Hassrede und Falschinformationen beschränkt. Durov schert sich nicht um nationale Einschränkungen der Meinungsfreiheit, solange nicht deutlich terroristische Bestrebungen erkennbar sind; was auch bedeutet, dass das deutsche Verbot der Holocaustleugnung auf Telegram keine Rolle spielt. Freiheit bleibt für ihn das wichtigste Gut. Es steht außer Frage, dass Telegram einen wichtigen Schutzraum für Oppositionelle und Journalisten schafft in Staaten mit eingeschränkten Freiheitsrechten.
Aber auch die Schattenseiten der Unternehmensideologie nehmen zusehends Gestalt an. Vor zwei Jahren berichtete die taz erstmalig vom Hannibal-Netzwerk, ein Zusammenschluss aus rechtsextremen Preppern, die sich bei dem Messenger organisierten, den Aufbau von Waffenlagern umsetzten, Termine für Schießübungen planten und sich über die optimale Stückzahl an zu bestellenden Leichensäcken berieten, die man für den "Tag X", den Tag des großen Umsturzes, für die politischen Feinde benötigen würde. Das Netzwerk bestand nicht nur aus der rechtsextremen Gruppe "Nordkreuz" und dem Verein "Uniter", sondern auch aus Richtern und Verfassungsschutzmitarbeitern, Polizisten des Sonderschutzkommandos und Elitesoldaten wie André S., dem Drahtzieher, der alles aus der Graf-Zeppelin-Kaserne in Calw koordinierte.
Die taz hat zwar das Hannibal-Netzwerk durch ihren Enthüllungsartikel in das Bewusstsein der Öffentlichkeit befördert, doch das hat der Radikalisierung in dem digitalen Dickicht von Telegram keinen Abbruch getan. In internationalen Gruppen wie "Feuerkrieg-Division" und "Terrorwave redacted" wird unbehelligt antisemitische, rassistische und gewaltverherrlichende Propaganda verbreitet. Ein Blick in die Gruppen genügt und man wird vom kalten Grausen gepackt. "Give hate a chance" heißt es da auf mit Waffen und Totenköpfen illustrierten Bildern und "Ihr werdet nie so leben wie es sich eure Vorfahren erträumt haben, weil ein paar Ratten sich ihren Weg in machtvolle Positionen gegraben haben."
Wie sich schon beim Hannibal-Netzwerk herausgestellt hat, bleibt es nicht nur beim Austausch. Die meisten Rechtsterroristen wie Brenton Tarrant und Anders Behring Breivik waren in einschlägigen Foren aktiv, bevor sie dann zur Tat schritten. Wenn Politiker wie Horst Seehofer Ego-Shootern die Schuld an der Radikalisierung junger Männer geben, ist das eine stark vereinfachte und in Folge falsche Schlussfolgerung, die zudem bereits mehrfach widerlegt wurde. Vielmehr sind es nicht die Spiele selbst, sondern die Tatsache, dass rechte Gruppierungen wie die Identitäre Bewegung auf Gaming-Plattformen wie Steam rekrutieren. Treffpunkt ist dann Telegram.
Zuwachs in der Krise
Die Nutzerzahl von Telegram ist in der Corona-Krise stark angestiegen. Nach Eigenangaben nutzen mehr als 400 Millionen User den Dienst monatlich, täglich kommen 1,5 Millionen hinzu. Die Süddeutsche Zeitung spricht bereits von einer "digitalen Infektion" auf Telegram, denn der Messenger ist zum Zentrum für die Protestbewegung gegen die Corona-Maßnahmen und Dreh- und Angelpunkt für die Planung der Kundgebungen geworden.
Mittlerweile wirbt Telegram in seinem Infochannel für einen offiziellen Kanal des Bundesgesundheitsministeriums, der Informationen zu Covid-19 bereitstellt. Ein ernstzunehmender Ausgleich für die Unzahl an lokalen Chats, die sich während der Krise formiert haben, ist das allerdings nicht. Die Abonnentenzahl von rechten Influencern wie Xavier Naidoo und Attila Hildmann haben sich seit April beinahe verdreifacht. In den zahlreichen Gruppen der selbsternannten "Corona-Rebellen" haben Rechte die Regie übernommen, rassistische Inhalte und Falschinformationen zu Covid-19 sind an der Tagesordnung, während auf Widerspruch oftmals mit Rauswurf reagiert wird.
Manche Behauptungen tauchen gehäuft auf und scheinen sich deshalb als tragende Grundgedanken manifestiert zu haben. Inbegriffen die Vergleiche von Angela Merkel mit Adolf Hitler und die steile These, wir würden seit dem Zweiten Weltkrieg in einer Diktatur leben. Als Zentrum des gemeinsamen Feindbildes steht die Trias aus Polizei, Journalisten und Antifa. Fotos von Journalisten werden in der Gruppe in Verbindung mit der Aufforderung geteilt, man möge die Personalien doch auskundschaften, zu welchem Zweck möchte man dann lieber nicht wissen.
Die beharrliche Behauptung, die Mehrheit der Demonstranten seien weder Extremisten noch Verschwörungsideologen, sondern lediglich Bürger, die schlicht mit den Corona-Maßnahmen der Bundesregierungen unzufrieden seien, vermag nicht ganz darüber aufzuklären, wie es dann zu offiziellen Slogans wie "Das Ende der P(l)andemie", "Wir sind die zweite Welle" und "Tag der Freiheit" kommt. Letzteres ist auch der Filmtitel eines NS-Propagandafilms von Leni Riefenstahl aus dem Jahr 1935, eine Dokumentation des siebten Reichsparteitages der NSDAP. Der Film sollte durch ausgesuchte Militärromantik dem Zuschauer ein Gefühl von nationaler Macht vermitteln sowie die Kriegsbereitschaft der Bevölkerung erhöhen.
Auch einige Veranstalter der geplanten Kundgebungen für September gegen die Corona-Politik, darunter der von der Ortsgruppe Ludwigsburg, werben unter diesem Motto. In dem Ludwigsburger Schreiben informiert man zusätzlich, man würde unabhängige Mediziner und Wissenschaftler anhören wollen. Im Rahmen der Redebeiträge kommt genau eine Ärztin zu Wort. Sie ist Allgemeinmedizinerin mit einer Spezialisierung auf Homöopathie, offenbar sorgt sie zusätzlich im Anschluss für die musikalische Untermalung.
In einer weiteren Gruppe unterstützte man sich kürzlich gegenseitig in der These, die Reichskriegsflagge hätte nichts mit dem "linksfaschistischen" Nationalsozialismus zu tun, der ja ohnehin nur Reaktion auf die "Parteidiktatur" der Weimarer Zeit gewesen sei, eine Tatsache, die jedem halbwegs gebildeten Menschen doch geläufig sein müsste. Die Reichskriegsflagge sei ausschließlich Symbol für das untergegangene Kaiserreich. Ein starker und ehrlicher Kaiser, danach sehnt man sich hier.
Die Verdrehung von Tatsachen, wie die Geschichte von der "Merkel-Diktatur", wirkt wie ein direkter Griff in die Trickkiste der rechtsextremen Propagandaklassiker. Der Spieß wird umgedreht und die eigenen antidemokratischen Bestrebungen werden dann dem Feindbild angelastet. Plump, aber leider wirkungsvoll. Durch die ungeheuerliche Schamlosigkeit und die beharrliche Wiederholung der Lügenkonstrukte in Wechselwirkung mit Versprechungen entsteht der Eindruck, irgendetwas müsse daran ja stimmen. Wer sollte sich solche Skurrilitäten schon ausdenken? Ergebnis ist eine umgedrehte Variante zu Max Frischs "Die Wahrheit ist die beste Tarnung".
Ein Cocktail aus fehlender Medienkompetenz und Existenzangst
In Echtzeit kann man beobachten, wie diese Masche bereits Früchte trägt. Als Außenstehender wirken die Zusammenschnitte der Demonstrationen geradehin verstörend und bizarr. Ein irres Glaubenskonstrukt hat in einigen Menschen Wut und Verzweiflung hervorgerufen. Telegram und andere Netzwerke scheinen wie eine Gefühlsschaukel zu wirken, für Unbeteiligte ist der aggressive Pathos und die alberne Überspanntheit, mit der sich beispielsweise über die Maskenpflicht empört wird, kaum noch nachvollziehbar.
Wenn man sich im Bekanntenkreis umhört, sind die Betroffenen meistens Mutter, Vater, Onkel oder Tante, die durch die Pandemie aus ihrer alltäglichen Routine gerissen wurden und jetzt das Internet mit seiner ungeheuren Informationsflut zum ersten Mal für sich entdecken. Ein Cocktail aus fehlender Medienkompetenz und Existenzangst.
Doch was kann man gegen die Wirkung jener Filterblasen auf Telegram tun, die so augenscheinlich zur Radikalisierung beitragen? Ist eine Entschlüsselung der Messengerdienste die Lösung, wie es Behörden fordern? Einige Experten wie Miro Dietrich und auch die Reporter ohne Grenzen halten das für einen vollkommen überzogenen Schritt, der nur vom Versagen eben jener Behörden ablenkt.
Ausreichend wären bereits geschulte Expertinnen für Rechtsextremismus, eine lebendige Gegenrede und mehr Engagement bezüglich der Deradikalisierung von Rechtsextremen mit geschlossenem Weltbild. Auch muss das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das Anbieter zu einem einheitlichen Umgang mit rechtswidrigen Inhalten verpflichtet, auf Telegram ausgeweitet werden. Bis dato ist dieser Schritt noch nicht erfolgt, weil Telegram als Plattform in Deutschland bisher zu klein war.
Generell darf nicht vergessen werden, dass es sich bei den betreffenden Gruppierungen um lautstarke Minderheiten handelt, die exakt auf eine Fehleinschätzung ihrer eigenen gesamtgesellschaftlichen Bedeutung abzielen. Den Gefallen sollte man ihnen nicht tun, Wachsamkeit ist trotzdem geboten. Bislang ist der Großteil der Bevölkerung mit den Corona-Maßnahmen einverstanden, ebenfalls ist der Hang zu populistischen Denkweisen in Deutschland zurückgegangen.
Nichtsdestotrotz darf das Potenzial von Plattformen wie Telegram nicht unterschätzt werden und es braucht konkrete Maßnahmen, die eine fortschreitende Formierung von extremistischen Untergrundzellen unterbinden sowie die Radikalisierung in Momenten instabiler Gesellschaftsverhältnisse im digitalen Raum stoppen. Bis dahin bleibt Telegram Fluch und Segen zugleich.
18 Kommentare
Kommentare
A.S. am Permanenter Link
Mit solchen Artikeln gerät der hpd.de auf ein abschüssiges Gleis.
Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz ist freiheitsfeindlich und gehört meiner Meinung nach eingestampft.
Viele Maßregelungen in der Corona-Erkrankungs-Welle haben sich im Nachhinein als überzogen herausgestellt. Auch Regierungen irren, geschenkt.
Wir entwickeln gerade ein ungute Kultur darin, der herrschenden Klasse unerwünschte Meinungen zu verbieten.
Wie die Kirchen.
Was gegen Religion hilft, hilft auch gegen allerlei Unsinn im Netz:
"Blasphemie" und freie Meinungsäußerung.
Mir sind die Corona-Blasphemiker lieb und teuer, selbst wenn sie Unsinn sagen.
Die Corona-Ja-und-Amen-Sager setzen der Demokratiezerstörung im Namen der Mehrheit keinen Widerstand entgegen.
Blasphemie ist immer die Aufforderung, den Glauben, die vermeintlichen Gewissheiten zu hinterfragen.
Deswegen singe ich aus voller Überzeugung das hohe Lied der Blasphemie.
Für den gesellschaftlichen Fortschritt braucht es Foren für Blasphemiker, wie z.B. Telegram.
Die Machthabenden hingegen suchen permanent nach Möglichkeiten, die Kritik an den von ihnen dem Volk verkündeten "Wahrheiten" zu unterbinden. Egal welcher Staat, egal welches Regime.
Klaus am Permanenter Link
Man sieht an Ihrem Kommentar wie wichtig solche Artikel in hdp sind.
Menschen, die versuchen vernünftig mit der Corona-Pandamie umzugehen (das schließt auch begründete Kritik und Lernfähigkeit ein), werden pauschal als "Ja-und-Amen-Sager" diskreditiert.
Und jeder fundamental- oder pseudokritische Unsinn, der in gezielten Desinformationskampagnen verbreitet wird, soll dem "gesellschaftlichen Fortschritt" dienen. Etwas mehr historischer Background wäre schon wünschenswert!
Die augenblicklichen "Blasphemien" der Verschwörungsgläubigen sind nicht erkenntnisfördernd, sondern anti-aufklärerisch. Die Freiheiten unserer Demokratie werden nicht verteidigt, indem man "Corona-Diktatur" schreit, von "Impfzwang" phantasiert oder die Masken als staatliches Zensurinstrument betrachtet.
struppi am Permanenter Link
"Mir sind die Corona-Blasphemiker lieb und teuer, selbst wenn sie Unsinn sagen.
Die Corona-Ja-und-Amen-Sager setzen der Demokratiezerstörung im Namen der Mehrheit keinen Widerstand entgegen."
Daraus eine pauschale Diffamierung herauszulesen, zeigt wie heutige Debatten geführt werden. Verkürzend, Diffamierend und Einseitig.
Wie auch der Rest Ihrer Auslassungen zeigt - wo spricht A.S. von "Impfzwang" oder wo verliert er/sie ein Wort über Masken?
Ich galube darüber hinaus, dass auch die meisten Kritiker mit der Situation "vernünftig" umgehen. Zum einen sind die Strafen für kleinste "vergehen" sehr hoch und zum einen gibt es seit Monaten keine tatsächliche Lage mehr die eine wirkliche Gefahr darstellt.
Das aufgrund dessen die Maßnahmen weitestgehend unbegründet erscheinen, wird man wohl sagen dürfen ohne gleich mit beleidigenden Attribute belegt werden zu müssen.
Klaus am Permanenter Link
Wenn „Corona-Blasphemiker“, auch wenn sie Unsinn sagen „lieb und teuer“ sind und pauschal die Unterstützer der Corona-Politik als unkritische „Ja-und-Amen-Sager“ hingestellt werden, dann hat diese Aussage von A.S.
Ich unterstelle A.S. keineswegs, dass er selbst „pseudokritischen Unsinn“ verbreitet, aber er verleiht den Fundamentalkritikern mit seinem Beitrag sozusagen höhere Weihen.
(Ist mir auf hdp nun schon öfter begegnet: Man trifft die verschwörungsgläubige Aussagen nicht selbst, sondern äußert lediglich Verständnis. So kann man sich später leichter aus der Affäre ziehen.)
Weiterhin spricht A.S. im gleichen Satz von „Demokratiezerstörung“. Wer zerstört bitteschön mit welchen Maßnahmen unsere Demokratie? Ich nehme an, er meint die Corona-Politik. Sollte mal genauer erklärt werden.
Wenn weiterhin die Corona-Leugner als „Blasphemiker“ bezeichnet, so ist diese Begriffsverwendung schlicht unhistorisch und fehl am Platz. Blasphemie ist bekanntlich „Gotteslästerung“, d. h. die Infragestellung (in welcher Form auch immer) eines für eine Religionsgemeinschaft unumstößlichen Dogmas. Dies war und (ist leider in vielen Ländern immer noch) ein Straftatbestand. Corona-Fundamentalkritiker zu Blasphemikern zu erklären unterstellt, dass sie angeblich „heilige Wahrheiten“ angreifen und dies eigentlich verboten sei.
Was für eine Fehldeutung, um damit diese Kritik zu einem quasi paradigmatischen Systemkampf aufzuwerten.
Wenn Sie meinen Kommentar genau lesen, können Sie leicht entnehmen, dass ich mit „Corona-Diktatur“ etc. nicht die Aussagen von A.S. beschreibe, sondern die im Netz oder auf Demos häufig verbreiteten Parolen der Corona-Gegner.
Frau/Herrn A.S. ist dagegen vorzuhalten, dass sie/er wohl fundamentalkritischen „Unsinn“ (ich bleibe bewusst bei diesem Begriff, ohne ihn diffamierend zu meinen) höher bewertet als einen wissenschaftlich begründeten und lernfähigen Umgang mit der Pandemie.
struppi darf natürlich jederzeit sagen, dass er(?) die gegenwärtigen Corona-Maßnahmen für „weitestgehend unbegründet“ hält, er sollte aber dann mal genauer erklären warum!
Also, lieber struppi, etwas überlegter mit Diffamierungsvorwürfen umgehen!
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Alle Menschen die Tendenziell in Richtung Verschwörungstheorie affin sind, empfehle ich
das Sonderheft 2020 der Zeitschrift <Skeptiker> herausgegeben von der Gesellschaft zur
www.gwup.org (Kontaktformular). Darin können sie sich schlau machen über die realen Verhältnisse zu den Themen der Verschwörungstheoretiker.
F.M. am Permanenter Link
Schade, dass hpd.de jetzt auch nicht mehr bereit ist die "Fahne der Freiheit" zu schwenken; dieser Artikel macht sie vom Verhaltensniveau beginnend gleich einem Verleugner.
Freiheit, ist immer die Freiheit der anderen.
Freiheit beginnt mit Vertrauen, bedarf der Aufklärung, der Bildung, des Auslebens des Selbst, das Tolerieren des Anderen.
Kontrollieren und Verbieten hat noch nie zu Freiheit geführt.
Natürlich nutzen Menschen Sachen und Systeme um auch schändliche Aktionen durchzuführen; aber wenn wir wieder anfangen alles zu kontrollieren und zu korrigieren was uns nicht passt, werden wir wieder in den Faschismus abrutschen, es sind dessen Mittel.
Telegram schützt viele Menschen ihre freiheitlichen Gedanken auszutauschen.
Ich stimme meinem Vorredner A.S. zu, dass das Netzwerkdurchsetzungsgesetz eingestampft werden sollte. Das Internet, inklusive der Folgemedien, wurde geschaffen, dass Menschen frei sein und auf diesem Weg ihren Wunsch nach Freiheit proklamieren können.
Zitat der Autorin Elisa Stadler:"Wenn immer mehr Menschen glauben, sie leben in einer Diktatur, nur weil sie ihre Freiheitsrechte nicht zum Nachteil anderer ungehemmt ausleben dürfen, hat man es mit einer Entwicklung zu tun, der man entschlossen entgegentreten muss." Zitatende.
Demokratie und Freiheit ist halt nun mal nicht einfach, es ist ein ständiges Streben und Handeln danach.
Frei nach "dem Teufel"(Al Pacino) aus "Im Auftrag des Teufels":
"Freiheit ist wie Schmetterlingsflügel; einmal berührt tauchen sie nicht mehr zum Fliegen."
Frau Stadler ich kann Ihnen in diesem Text nicht zustimmen.
Thomas Amm am Permanenter Link
Telegram die Schuld an den Coronaleugner zu geben, halte ich für eine gewagte Hypothese oder eher für ein konstruiertiertes Argument von jemandem, der auch den letzten Winkel, wo jemand unbelauscht Gedanken austausche
Zur Untermauerung der aus autoritären Kreisen wohlbekannten Leier "wer nichts zu verbergen hat" werden dann auch stante pede die ebendort üblicherweise zu hörenden "Argumente" vorgetragen: Drogenhändler, Terroristen, Sittenstrolche nutzen Telegram (ehedem: "die Anonymität der Netzes", "Funktelefone", "ICQ", "Killerspiele" etc. pp).
Was solche autoritären Herrschaftsphantasien nun genau mit Humanismus zu tun haben sollen geht mir beim besten Willen nicht auf. Die Forderung nach lückenloser Überwachung und technischer Unterbindung von Dissent klingt mir viel eher nach der gegenteiligen Ecke auf dem weltanschaulichen Terrain.
Lars Temme am Permanenter Link
Donnerlüttchen,
woran erinnert mich das bloß? Jetzt weiß ich es: Ich habe auf meinem Dachboden eine vergilbte Ausgabe des hpd (Hamburger Pressedienstes) vom 9. September 1892, während der damaligen Cholera-Epidemie, gefunden. Dort schreibt eine Frau Stelisa Adler:
"Während der Cholera-Epidemie haben die Hinterhöfe von Wohnhäusern starken Zulauf bekommen. Kein Wunder, denn Verschwörungstheoretiker und Gegner staatlicher Maßnahmen gegen die Verbreitung des Cholera-Bakteriums können sich dort ungehindert organisieren.
Ginge es nach Davel Purow, dem Architekten des Hinterhofs Herbertstraße 14a, so hätte man staatliche Gesetze, Grenzen und Währungen längst abgeschafft, denn nach seinem Dafürhalten sind Staaten spätestens seit dem Ende der Napoleonischen Ära überholte Organisationsformen.
Dem jungen Russen gefällt es, anzuecken, seine großen Vorbilder: Der fiktive Charakter Robin Hood aus der gleichnamigen Volkssage, die optische Ähnlichkeit zu ihm unterstreicht er gerne durch öffentliche Auftritte ganz in grüner Garderobe, und Alexander Iljitsch Uljanow, den er als seinen persönlichen Helden feiert. [...] Seit seiner Flucht aus Russland leben Purov und seine Begleiter wie Nomaden. Seine libertäre Weltanschauung bringt er auch in der Bauweise der Hinterhöfe zum Ausdruck. Gerade deswegen sind Hinterhöfe nun zum Herzstück der Cholera-Protestbewegung gegen die Präventionsmaßnahmen des Senats geworden.
- Schutzraum für Oppositionelle, Paradies für Extremisten -
Vor der Cholera-Epidemie waren Hinterhöfe als die harmlose Alternative mit besserem Schutz vor Einsicht und Lärm zu großen Straßen bekannt. Gerade in autoritären Regimen haben dunkle Hinterhöfe für Aktivisten und Journalisten einen hohen Stellenwert, doch auch Anarchisten, Schmuggler und Pazifisten nutzen diese Orte. Russlands Regierung forderte immer wieder den Bau einsehbarer Hinterhöfe. Purov gab sich dennoch unbeugsam[...] Hinterhöfe können bis zu 200 Personen fassen[...] Das alles macht Hinterhöfe zu einem Hybriden aus Informationsaustausch- und Versammlungsort, einem halböffentlichen Raum, in dessen vielen Waben den Nutzern noch mehr Anonymität garantiert wird als auf Straßen, in Kneipen und anderen öffentlichen Plätzen.
Seit Jahren beobachten Regierungsagenten, wie Hinterhöfe sich zum populärsten reellen Treffpunkt für Pazifisten, Sozialdemokraten und Katholiken entwickeln. Fast religiös beharren Hinterhofarchitekten darauf, man würde deren Nutzer unter keinen Umständen von ihrer Meinungsäußerung abhalten, weshalb auch kein Blockwart die Verbreitung von Hassrede und Falschinformationen beschränkt. Purov schert sich nicht um nationale Einschränkungen der Meinungsfreiheit, solange nicht deutlich anarchistische Bestrebungen erkennbar sind; was auch bedeutet, dass das deutsche Verbot der Monarchenbeleidigung auf Hinterhöfen keine Rolle spielt. Freiheit bleibt für ihn das wichtigste Gut. [...]
Vor acht Jahren berichtete die taz erstmalig vom Reinsdorf-Netzwerk, ein Zusammenschluss aus Anarchisten, die sich auf Hinterhöfen organisierten, um das Attentat auf Kaiser Wilhelm I. am 28. September 1883 vorzubereiten[...]"
Und so geht es weiter. Die Autorin schließt u.a. so:
"Nichtsdestotrotz darf das Potenzial von Orten wie Hinterhöfen nicht unterschätzt werden und es braucht konkrete Maßnahmen, die eine fortschreitende Formierung von extremistischen Untergrundzellen unterbinden sowie die Radikalisierung in Momenten instabiler Gesellschaftsverhältnisse im reellen Raum stoppen. Bis dahin bleiben Hinterhöfe Fluch und Segen zugleich. [...]
Auch muss das Architekturdurchsetzungsgesetz, das Vermieter zu einer Verhinderung unsittlichen Verhaltens ihrer Mieter in ihren Wohnungen verpflichtet (Kuppelei!), auf Hinterhöfe ausgeweitet werden."
Nein, wie sich die Zeiten gleichen :-(
Frau Stadler, es sind nicht die Straßen, die Verbrechen begehen, sondern die Menschen, die auf diesen Straßen zum Tatort gehen. Deshalb belassen Sie es doch bitte bei Ihrer eigenen Aussage: "Ausreichend wären bereits geschulte Experten für Rechtsextremismus, eine lebendige Gegenrede und mehr Engagement bezüglich der Deradikalisierung von Rechtsextremen mit geschlossenem Weltbild" und fordern Sie nicht zusätzlich die Abschaffung der Straßen, will sagen: Zensurmaßnahmen, zur Einschränkung der Meinungsfreiheit. Meinungsfreiheit kann und wird immer irgendwie mißbraucht werden, aber ohne Meinungsfreiheit nimmt der Mißbrauch von Macht erfahrungsgemäß Ausmaße an, die uns die Meinungsfreiheit ganz schnell zurück wünschen lassen. Hoffentlich ist es dann nicht schon zu spät.
René am Permanenter Link
Telegram, Telegram, Telegram. In jedem Absatz etwa fünfmal. Immer jeweils im Verbund mit dem nächsten Übel, was es zu beklagen gilt, oder auch bloß in der nächsten schmähenden Formulierung des selben Sachverhalts.
Wenn man die Ursache für bestimmte gesellschaftliche Probleme nicht zu beleuchten fähig ist, kann man natürlich immer das Kommunikationsmedium blamen, was in der jeweiligen Phase gerade am populärsten ist. "Das Telefon" bot bestimmt seinerzeit auch einen krassen Vorschub für schnelle Verabredungen zu Straftaten, gell?
Nach dem zwanzigsten oder dreißigsten Auftreten des Wortes "Telegram" ist mir der Text langsam entglitten. Ich glaube nicht, dass ich dadurch viel verpasst habe. Der Grundtenor wurde, denke ich, an der Stelle meines Ausstiegs bereits bis zum Erbrechen verdeutlicht.
Klaus am Permanenter Link
In einem Text über Telegram kommt dieses Wort zwangsläufig häufiger vor.
Ganz klar, die gesellschaftlichen Ursachen einer zunehmend faktenfreien Kommunikation liegen nicht bei diesem Messengerdienst. Man muss deshalb auch die neuen Medien nicht kulturpessimistisch blamen, nur weil sie neu sind. Man sollte aber trotzdem etwas genauer hinschauen als Sie es offensichtlich gewillt sind zu tun.
Telegram ermöglicht jedenfalls neben anderen Plattformen einer wachsenden Minderheit den menschenverachtenden Missbrauch von Meinungsfreiheit (Ich habe das unten schon etwas näher ausgeführt). Und es scheint durchaus zum Geschäftsmodell zu gehören, diesen Tendenzen zur inflationären Verbreitung von Desinformation gerade in Coronazeiten nicht entgegenzuwirken.
Auch wenn Telegram nicht "der Bösewicht" ist, sollte man doch nicht so naiv sein, die digitalen Netzwerke mit der Einführung des Telefons zu vergleichen. Etwas mehr analytisches Interesse wäre wünschenswert. Also nicht gleich Klappe zu, wenn etwas nicht ins eigene Weltbild passt.
Frau Stadlers Text ist durchaus sinnvoll und aufschlussreich.
Klaus am Permanenter Link
Es verwundert schon sehr mit welcher Naivität (oder Absicht?) hier der Messengerdienst Telegram quasi zum letzten Hort freier Meinungsäußerung stilisiert wird.
Zunächst macht es stutzig, wenn man erfährt, dass Telegram lediglich unter einer Londoner Firmenadressen registriert ist, welches seinen Hauptsitz auf den Seychellen hat. Gesellschafter dieses Unternehmens sind wiederum zwei Firmen mit Sitz auf den Jungferninseln und in Belize (Wikipedia). Über die Spender schweigt sich der Dienst aus.
„Telegram schützt viele Menschen ihre freiheitlichen Gedanken auszutauschen“ meint FM.
Das mag in manchen diktatorischen Staaten wie Iran oder Russland durchaus eine gewisse Rolle spielen.
Ist damit in demokratischen Staaten aber auch die „Freiheit“ gemeint, dass auf dieser Plattform, die so gut wie keine Einschränkungen macht und dem User eine hohe Sicherheit (d. h. Anonymität) verspricht, jeder alles sagen kann, was er will?
• So benutzte das Terrornetzwerk des IS Telegram jahrelang als digitale Basis bis zur überfälligen Sperrung ihrer Kanäle. Trotzdem sind hier nach wie vor IS-Unterstützer aktiv.
• So nutzen Rechtsradikale und Neonazis diesen Dienst immer häufiger für ihre Mobilisierungs- und Hasskampagnen. In den geheimen Gruppen dürfen sie schon mal über Umsturzpläne phantasieren.
• So können Rassisten jeglicher Couleur ihre Hetzposts unbehindert verbreiten.
• So hat gerade in den letzten Monaten Telegram einen ungeheuren Zulauf bei Verschwörungsideologen und Corona-Leugnern gefunden, wo sie nach Belieben ihre fake-news unters Volk bringen und Desinformationskampagnen organisieren können.
Der Grund ist offensichtlich, nachdem facebook nun langsam (halbherzig) begonnen hat, Fake-Seiten zu sperren und bei Whats-up die Weiterleitung von Posts zahlenmäßig beschränkt wurde.
So wird von immer mehr Leuten Telegram als ideale Plattform gesehen, um unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit die Radikalisierung und Spaltung von Teilen der Gesellschaft voranzutreiben. Und den Worten folgen meist Taten.
Dies zu kritisieren hat nichts mit „autoritären Herrschaftsphantasien“ zu tun, sondern erinnert (was Manche zu vergessen scheinen), wann in einer Demokratie das hochgeschätzte Gut der Meinungsfreiheit ihre klaren Grenzen hat:
Immer dann, wenn andere Menschen diskreditiert, beleidigt, erniedrigt, bedroht oder in ihrer Gesundheit gefährdet werden.
Gerade deshalb ist der Artikel von Frau Stadler so wichtig!
Lars Temme am Permanenter Link
"...wann in einer Demokratie das hochgeschätzte Gut der Meinungsfreiheit ihre klaren Grenzen hat:
Ich musste laut lachen. Denken Sie über Ihre Auflistung nochmal gründlich nach. Ich helfe:
- Diskreditierung: Selbstverständlich darf man jemanden "diskreditieren", also "unglaubwürdig" machen, m.a.W.: seinen Ruf schädigen. Nämlich dann, wenn derjenige es verdient hat. Man darf einen Lügner einen Lügner nennen, auch bzw. gerade weil ihn das diskreditiert!
- Beleidigung: Ist in gewissen Grenzen ebenfalls statthaft. Wenn in einer Folge von "Die Anstalt" eine Reise ins Gehirn von Andreas Scheuer stattfindet, und dieses Gehirn als leere Wüste dargestellt wird, ist das zweifellos eine Beleidigung, die in den Mantel der Satire gehüllt straffrei bleibt.
- Erniedrigung: Siehe Beleidigung. Oder googlen Sie doch mal nach "tilly karneval merkel nackt".
- Bedrohung: Da gehe ich mit Ihnen konform.
- Gesundheitsgefährdung: Dafür wird es hier vollends lächerlich. Bitte geben Sie nur mal ein Beispiel, wann der Satz "Deine Meinungsäußerung gefährdet meine Gesundheit!" zu Recht geäußert werden könnte. Auf was wollen Sie hinaus - Bluthochdruck, weil sich jemand über die Meinung eines anderen aufregt? Tinnitus, wenn die Meinungsäußerung mittels Megafon direkt am Ohr des Zuhörers stattfindet? Bitte kommen Sie mir nicht mit "Schneeflöckchen", die "safe spaces" zugunsten ihrer psychischen Gesundheit fordern, weil sie nicht gelernt haben, mit abweichenden Meinungen umzugehen. Das Problem ist die Überempfindlichkeit solcher Personen, nicht die geäußerten Meinungen.
Klaus am Permanenter Link
Lieber Herr Temme,
lachen Sie erstmal ruhig, das soll ja bekanntlich befreien.
Dann helfen wir uns doch nochmals gegenseitig, ohne uns der Lächerlichkeit überführen zu wollen.
Diskreditieren:
Ist sicher eine mildere Form der Grenzüberschreitung. Nur so einfach, wie Sie es sich machen, ist es auch wieder nicht. Nicht umsonst gibt immer wieder Gerichtsverfahren wegen Rufschädigung. Ob das jemand verdient hat, wird also nicht immer allein der Akteur entscheiden können.
Natürlich ist es zunächst kein Problem, Trump einen Lügner zu nennen, wenn er selbst ständig in diesen Kategorien argumentiert.
In Twitter- und Co-Zeiten sind allerdings derartige Diskreditierungsformen schon fast zur Normalität geworden mit den Folgen einer zunehmenden Verrohung und Erosion des demokratischen Diskurses.
Beleidigung/Erniedrigung (letzteres ist für mich die verletzendere Variante):
Ist wohl nicht mehr ganz so „lächerlich“. Ist generell in einer öffentlichen Diskussion eine klare Überschreitung der Meinungsfreiheit. In diese Kategorie gehören auch (gruppenbezogen) rassistische oder antisemitische Äußerungen.
Gerade hier zeigen sich in vielen digitalen Netzwerken die fatalen Auswirkungen eines grenzen- und verantwortungslosen Meinungsgebrauchs. So darf ein Herr Hildmann seit Monaten antisemitische Hetze betreiben, ohne dass bislang eine Anklage erfolgt ist. Feiner Trick, er spricht nicht von Juden, sondern von „Zionisten“.
Die Kunstfreiheit (etwa der Satire oder der bildenden Kunst) gewährt auch der Beleidigung einen größeren Spielraum. Das ist völlig in Ordnung, weil dies meist in einer spezifisch verfremdeten Form geschieht.
Bedrohung:
Schön, dass Sie wenigstens hier uneingeschränkt zustimmen können, wobei man unterschiedliche Ausprägungen von subtilen Androhungen bis zur offenkundigen Morddrohung unterscheiden müsste. Letzteres passiert gerade aus den fanatisierten Netzblasen heraus immer häufiger.
Gesundheitsgefährdung:
Das ist nicht „vollends lächerlich“, sondern hat gerade in Coronazeiten eine neue Qualität bekommen. Wenn der amerikanische Präsident das Schlucken von Desinfektionsmitteln als eine mögliche Therapie gegen Corona empfiehlt und dies von einer beträchtlichen Zahl von Menschen in den USA und Afrika ausprobiert wird (mit den Folgen intensivstationärer Behandlung und einigen Todesfällen), dann ist diese faktenfreie Meinungsäußerung eine klare Grenzüberschreitung.
Nun geht es nicht nur um diesen wahrlich skurrilen Einzelfall. In wissenschaftsleugnenden, meist esoterischen Kreisen kursieren eine Menge an Empfehlungen und Mittelchen, um sich sozusagen auf „natürliche“ Weise vor Ansteckung zu schützen bzw. zu „immunisieren“. Dies kann in vielen Fällen harmlos, weil unwirksam sein, in anderen jedoch eine ernste Gesundheitsgefahr darstellen. Auch schon allein deshalb, weil Menschen offen oder indirekt dazu angehalten werden, sinnvolle und wirkungsvolle Hygiene-Maßnahmen zu unterlassen.
Ich weiß, dass diese Grenzüberschreitungen im Einzelfall schwierig dingfest zu machen sind. Nichtsdestotrotz sollte man dieser Art von Desinformationsstrategien mehr Aufmerksamkeit widmen.
Ihre ironischen Anmerkungen, will ich mal als Ausdruck eines Missverständnisses stehenlassen.
Nun Herr Temme, vielleicht sind meine Überlegungen gar nicht so lächerlich.
Und der zunehmende Missbrauch unserer Meinungsfreiheit ist leider schon gar nicht zum Lachen.
Lars Temme am Permanenter Link
Sehr geehrter Klaus,
ich antworte hier auf Ihre beiden Antworten zusammen.
Wir sind uns einig darin, dass man seine Meinungsfreiheit dazu nutzen kann, um seinen Mitmenschen zu schaden. Das Wort "Missbrauch" ist mir dafür aber zu pauschal, da ich der Überzeugung bin, dass man seinen Mitmenschen durchaus schaden darf. Das mag auf den ersten Blick bösartig klingen, aber wenn wir uns vergegenwärtigen, dass schon alleine in Konkurrenzverhältnissen, seien sie etwa geschäftlicher, sportlicher oder persönlicher Natur, das dem-anderen-schaden Grundvoraussetzung für den eigenen Erfolg sein kann (Beispiele: Dem Konkurrenten einen Kunden abwerben, einen Knock-out beim Boxen erzielen, einen Nebenbuhler ausstechen), wird klar, dass dem anderen zu schaden ein Bestandteil des menschlichen Lebens ist.
Dabei haben wir Menschen uns allerdings Regeln gesetzt, die das Austragen unserer Konflikte in allgemein anerkannte Bahnen lenken sollen. Die Einschränkungen, denen dabei das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung unterliegt, stehen bereits seit Jahrzehnten fest und haben sich bewährt. Man sollte sich diese Einschränkungen nun ebenfalls vergegenwärtigen, bevor man das Recht auf freie Meinungsäußerung weiter einschränken möchte. Ihre Aufzählung war mir bei weitem zu pauschal geraten und hat auf mich nicht den Eindruck gemacht, dass sie die bereits existierenden Einschränkungen berücksichtigt.
Beispiel Diskreditierung: Ich sehe das hier tatsächlich ganz einfach. Bei allem, was sie anführen, ist prinzipiell zu fragen, ob es sich um "üble Nachrede" oder sogar "Verleumdung" handelt. Beides ist bereits verboten, und eben darum werden Prozesse geführt. Nur ist eben nicht jede Form der Diskreditierung üble Nachrede oder Verleumdung. Sehen Sie da tatsächlich Bedarf, weitere Straftatbestände einzuführen? Wenn nicht, war Diskreditierung in ihrer Auflistung die falsche Wortwahl, und sie hätten direkt von Verleumdung und übler Nachrede sprechen sollen, dann wäre Ihnen mein Widerspruch erspart geblieben.
Bei Beleidigung und Erniedrigung gestehen Sie ja selbst zu, dass solche statthaft sind, wenn gewisse Regeln eingehalten werden.
Bei der Gesundheitsgefährdung haben Sie mit Donald Trump tatsächlich ein Beispiel für unverantwortliches Handeln gebracht; streng genommen aber kein Beispiel dafür, das jemand eine Meinungsäußerung als direkte Gesundheitsgefährdung betrachten kann. (Gesundheitsgefährdend ist das Schlucken von Desinfektionsmitteln, nicht der Rat dazu.) Ich denke, man sollte auch hier unterscheiden, und zwar zwischen ehrlichen Meinungsäußerungen und bewussten Lügen. Ich weiß auch nicht, wie der juristische Fachbegriff dafür lautet, wenn man beispielweise jemanden dazu bringt, giftige Pilze zu essen, obwohl man selbst weiß, dass sie giftig sind; vielleicht handelt es sich um Körperverletzung in mittelbarer Täterschaft. Jedenfalls handelt es sich um juristisches und moralisches Unrecht und hat mit Meinungsäußerung nichts zu tun. Wenn man aber ehrlich davon überzeugt ist, dass die Pilze ungiftig sind und das auch kundtut, ist es juristisch und moralisch nur noch von Belang, ob man es besser hätte wissen sollen. Ein Pilzsammler sollte es besser wissen, vom Durchschnittsmenschen kann man wohl nur verlangen, dass er sich darüber im Klaren sein sollte, das ihm unbekannte Pilze prinzipiell giftig sein können. In Sachen Masken und Corona mag es Ihnen nun nicht passen, wenn Leute Masken für unnütz und überflüssig halten, und das auch kundtun und deshalb den Verzicht darauf fordern, aber angesichts der widersprüchlichen Aussagen von Wissenschaftlern und RKI, um nur zwei Instanzen mit Autorität in der Sache zu nennen, halte ich es nicht für einen Missbrauch von Meinungsfreiheit, andere dazu aufzufordern, ihre Masken abzulegen. Im übrigen wird man für das Ablegen ja auch bereits je nach Gegebenheit mit einem Bußgeld sanktioniert.
Ich finde nicht, dass wir zusätzliche Einschränkungen der Meinungsfreiheit benötigen. Pauschale Auflistungen wie Ihre bereiten allerdings den Weg für solche Einschränkungen, weshalb ich ihnen immer widersprechen werde. Wir sind auf diesem Weg sowieso schon zu weit fortgeschritten. Das im Artikel erwähnte Netzwerkdurchsetzungsgesetz verlagert die Beurteilung der Frage, ob eine Äußerung justiziabel ist und aus der Diskussion entfernt werden muss, weg von Gerichten hin zu privaten Konzernen. Das ist in keinem Fall hinzunehmen. Was wir brauchen ist nicht Zensur, sondern ein Klima der Toleranz und der aktiven Gegenrede, also gerade noch mehr auch tatsächlich genutzte Meinungsfreiheit, damit Positionen sich entwickeln können und am Ende die besseren Argumente gewinnen und nicht die gerade vorherrschende politische Korrektheit. Das wird immer bedeuten, dass Zeit vergeht, bevor unsinnige und meinetwegen gefährliche Meinungen überwunden sind, aber es gibt leider keine einfache Lösung zwischen dem Ertragen dieser Meinungen und der langsamen Erstickung der Meinungsfreiheit durch Selektion der jeweils genehmen Meinungen.
Klaus am Permanenter Link
Lieber Herr Temme,
Ihr sachlicherer Ton vermittelt mir den Eindruck, dass wir wahrscheinlich gar nicht so weit auseinander liegen.
Mir ging es nicht darum, einen Katalog von Einschränkungen der Meinungsfreiheit auszuweiten.
Ich will mich jetzt auch nicht am Begriff der „Diskreditierung“ aufhängen, wenn er unter andere Kategorien zu subsumieren ist.
Bei der „Gesundheitsgefährdung“ argumentieren Sie ja auch schon differenzierter.
Ich bin allerdings der Meinung, dass nicht erst eine aktive Handlung darunterfällt, sondern bereits die auf einer bewussten Falschinformation (Lüge?) bestehende Empfehlung. Die dabei gegebenen juristischen Einschränkungen habe ich bereits erwähnt.
Was die Masken anbelangt, darf selbstverständlich jeder seine persönliche Meinung dazu kundtun. Doch andere zum Ablegen von Masken aufzufordern, halte ich für eine Grenzüberschreitung. Die „Widersprüchlichkeit “ der Masken-Beurteilung von Wissenschaftlern und RKI galt bestenfalls für den April/Mai. Mittlerweile zeigen einige nationale und internationale Studien, dass Masken das Risiko einer Ansteckung auf jeden Fall vermindern. Kaum verifizierbar bleibt sicherlich das genaue Ausmaß.
„Ich finde nicht, dass wir zusätzliche Einschränkungen der Meinungsfreiheit benötigen.“
Kann ich Ihnen nur zustimmen.
Mir geht es nicht um zusätzliche Einschränkungen, sondern um eine ernsthafte und wirkungsvolle Umsetzung der bestehenden Grenzen. In diesem Zusammenhang halte ich ebenso das Netzdurchsetzungsgesetz für äußerst problematisch. Den Missbrauch von Meinungsfreiheit zu ahnden, ist eine Sache der Gerichte. Allerdings muss man die Strafverfolgungsbehörden dazu auch technisch und personell so ausstatten, dass sie dazu überhaupt in der Lage sind.
„Was wir brauchen ist nicht Zensur, sondern ein Klima der Toleranz und der aktiven Gegenrede,…“
Kann ich prinzipiell auch zustimmen, halte aber die Hoffnung, dass „am Ende die besseren Argumente gewinnen“ für gut gemeint, doch etwas zu idealistisch.
Man sollte diesen Weg der Einhaltung rationaler Habermas’scher Diskursregeln möglichst lange beschreiten. Man sollte sich aber auch darüber im Klaren sein, dass in vielen digitalen Netzwerken ein offenes Diskursklima längst obsolet geworden ist. Verschwörungsgläubige, Hetzer und ihre Anhängerschaft (die bis zum amerikanischen Präsidenten reicht) sind leider nicht mit den besseren Argumenten erreichbar. Sie missbrauchen demokratische Freiheiten gezielt, um Desinformation zu verbreiten und Verwirrung (auch sprachliche) zu stiften.
Wer sich mit den historischen Vorläufern dieser Entrüstungs- und Hetzkultur in der Weimarer Zeit beschäftigt, weiß wohin eine tolerante Duldung dieser Entwicklung führen kann. Ohne die augenblickliche Situation mit der Weimarer Republik vergleichen zu wollen (Unsere Zivilgesellschaft ist heute wesentlich stärker.), sollten wir diesen Tendenzen nicht zu blauäugig begegnen.
Letzendlich will ich nicht einer verstärkten Zensur das Wort reden und schon gar nicht „politische Korrektheit“ einfordern.
Allerdings bedürfen die Ausbreitung demokratiefeindlicher Gruppen einer entschiedeneren zivilgesellschaftlichen Gegenwehr (Viele Demos machen da Mut!) und einer wesentlich effektiveren Ahndung der schon bestehenden Grenzen der Meinungsfreiheit.
Klaus am Permanenter Link
Noch ein paar ergänzende Bemerkungen zu meiner Replik:
Ad Diskreditierung:
Mir ist klar, dass der Verleumdungsvorwurf besonders von Firmen oder Organisationen auch missbräuchlich verwendet werden kann, ivor allem um unliebsame Kritiker mundtot zu machen. Ich verweise aus aktuellem Anlass auf den fast skandalösen "Apfelprozess" in Bozen.
Andrerseits kann man beispielsweise beim dem Bildzeitungs-Bericht über Christian Drostens Viruslast-Studie, wo dessen Ergebnisse als "grob falsch" dargestellt wurden, von einer gezielten Diskreditierungskampagne sprechen, in dem der Ruf eines international renommierten Virologen beschädigt werden sollte. Und das vor dem Hintergrund, dass Herr Drosten seit Monaten zur Projektionsfigur für den Hass von Corona-Leugnern geworden ist. Nicht umsonst wurde Bild gerade jüngst in dieser Angelegenheit vom deutschen Presserat gerügt.
Also, Diskreditierung kann durchaus einen ernstzunehmenden Missbrauch von Meinungsfreiheit darstellen.
Ad Gesundheitsgefährdung:
Vielleicht sollte man besser von Beihilfe zu körperlicher Schädigung sprechen.
Diese Kategorie ist mit Sicherheit am wenigsten juristisch bzw. strafrechtlich zu fassen,
weil die Motivklärung schwierig bleibt und das sog. "Opfer" auch eine Eigenverantwortung trägt.
Es bleibt jedoch für mich gerade in Coronazeiten eine zumindest moralisch und politisch zu verurteilende Grenzüberschreitung der Meinungsfreiheit.
Natürlich hat jeder die Freiheit, jeden Unsinn zu vertreten, solange das seine persönliche Meinungsäußerung bleibt. In dem Augenblick aber, wo Menschen versuchen gegen besseres Wissen, andere gezielt zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen oder davon abzuhalten, das deren Gesundheit schädigen kann, kollidiert dies mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit.
Ich kann gegenwärtig beispielsweise jederzeit Masken für unwirksam oder Unsinn erklären. Wenn ich aber Mitmenschen öffentlich dazu auffordere keine Masken zu tragen bzw. sie abzunehmen, wird das für mich vom Grundrecht auf Meinungsfreiheit nicht mehr gedeckt. Denn dieses Verhalten impliziert eine mögliche gesundheitliche Gefährdung anderer.
A.S. am Permanenter Link
Für so ziemlich jeden Service/Dienst gibt es nützlich und schädliche Verwendungsmöglichkeiten. Auch für die Grundrechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit.
Wenn jeder Mißbrauch als Vorwand genutzt wird, den entsprechenden Service oder Dienst oder Freiheitsrechte einzustellen, wo kommen wir da hin? In eine Gesellschaft, die faktisch ein Gefängnis ist, wo man sich nicht treffen darf und die verschiedenen Meinungen nicht formulieren darf.
Nur die extremsten Spitzen dürfen staatlicherseits gekappt werden. Und das sind Aufrufe zur Gewalt. Der Rest muss hingenommen werden, um der Freiheit willen.
Und generell gilt in einer freiheitlichen Demokratie: Alle Maßnahmen des Staates, die Freiheitsrechte der Bürger einschränken, müssen gut begründet, zweckmäßig und verhältnismäßig sein.
Die Diskussion über die Begründung, die Zweckmäßigkeit und die Verhältnismäßigkeit darf nicht unterdrückt oder diffamiert werden.
Aber genau diese Diskussion wird derzeit unter Feuer genommen, auch von Leuten wie z.B. Frau Esken, wenn sie pauschal von "Covidioten" spricht.
Michael Schneider am Permanenter Link
Ich habe von einem Psychologen, der im Arbeitsschutz als Dozent tätig ist, den Satz gehört: "Wir arbeiten mit Fakten, wir fragen den Papst nicht bei Eheproblemen und auch keinen Vegetarier nach einem Gulaschreze