Der Traum vom Bürgerkrieg auf Telegram

"Wir sind die zweite Welle!"

Während der Corona-Pandemie hat der Messenger-Dienst "Telegram" starken Zulauf bekommen. Kein Wunder, denn Verschwörungstheoretiker und Gegner staatlicher Maßnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus können sich dort ungehindert organisieren.

Ginge es nach Pavel Durov, dem Gründer des Messengerdienstes Telegram, so hätte man staatliche Gesetze, Grenzen und Währungen längst abgeschafft, denn nach seinem Dafürhalten sind Staaten spätestens seit Beginn des 21. Jahrhunderts überholte Organisationsformen.

Dem jungen Russen gefällt es, anzuecken, seine großen Vorbilder: Der fiktive Charakter Neo aus Matrix – die optische Ähnlichkeit zu ihm unterstreicht er gerne durch öffentliche Auftritte ganz in schwarzer Garderobe – und Edward Snowden, den er als seinen persönlichen Helden feiert. Doch unlängst hat er sich selbst den Ruf einer Legende erarbeitet, als eine Mischung aus revoltierender Tech-Ikone und Skandalnudel, die in der Öffentlichkeit mit politisch-motivierten Jungenstreichen für halbernste Entrüstung sorgt und am Ende Sympathie erntet.

Wie damals in St. Petersburg, wo er zur Überraschung der Passanten Rubelscheine als Papierflieger aus dem mehrstöckigen Altbau seiner Firmenzentrale schweben ließ, ein Gag mit dem er wahrscheinlich seine Einstellung zu Geld demonstrieren wollte. Im Interview mit dem Wirtschaftsmagazin Forbes verkündete er, Geld sei ohnehin nicht mehr als eine virtuelle Einheit.

Seit seiner Flucht aus Russland leben Durov und sein Team als digitale Nomaden. Seine libertäre Weltanschauung bringt er auch in der Konzeption und in dem unternehmerischen Selbstverständnis von Telegram zum Ausdruck. Gerade deswegen ist Telegram nun zum Herzstück der Corona-Protestbewegung gegen die Präventionsmaßnahmen der Bundesregierung geworden.

Schutzraum für Oppositionelle, Paradies für Extremisten

Vor der Corona-Pandemie war Telegram als die harmlose Alternative mit Verschlüsselungsfunktion zu seinem großen Konkurrenten Whatsapp bekannt. Ebenso wie auf Whatsapp können über den 2013 gegründeten Messenger Textnachrichten, Fotos, Videos und Sprachnachrichten geteilt sowie Anrufe getätigt werden. Einige Unterschiede gibt es aber dennoch. Telegram bietet eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung an. Diese Funktion ermöglicht eine sichere Kommunikation, bei der Dritte nicht auf die Informationen zugreifen können.

Gerade in autoritären Regimen haben Telegrams geheime Chats für Aktivisten und Journalisten einen hohen Stellenwert, doch auch Terroristen, Drogendealer und Waffenhändler nutzen die App. Russlands Regierung forderte von Telegram immer wieder die Offenlegung der Datenschlüssel. Durov gab sich dennoch unbeugsam bis es 2018 dann zu Blockadebemühungen der russischen Behörden kam, die Telegram durch wechselnde IP-Adressen von Anbietern wie Amazon Web Service und Google Cloud sabotierte, so dass der Versuch erfolglos und mit wirtschaftlichen Verlusten in Milliardenhöhe für Russland endete.

Telegram ist obendrein weniger streng, was die maximale Größe von Gruppen betrifft. Gruppen können bei Telegram bis zu 200.000 Mitglieder umfassen, Kanäle haben sogar eine uneingeschränkte Reichweite. Whatsapp hingegen beschränkt die Gruppengröße auf 256 Nutzer. Das alles macht Telegram zu einem Hybriden aus Messengerdienst und sozialem Netzwerk, einem halböffentlichen Raum, in dessen vielen Waben den Nutzern noch mehr Anonymität garantiert wird als auf Facebook und anderen Plattformen.

Seit Jahren beobachten Extremismusexperten, wie Telegram sich zum populärsten virtuellen Treffpunkt für Neonazis, Verschwörungsideologen und Islamisten entwickelt. Fast religiös beharrt Telegram darauf, man würde seine Nutzer unter keinen Umständen von ihrer Meinungsäußerung abhalten, weshalb auch kein Algorithmus die Verbreitung von Hassrede und Falschinformationen beschränkt. Durov schert sich nicht um nationale Einschränkungen der Meinungsfreiheit, solange nicht deutlich terroristische Bestrebungen erkennbar sind; was auch bedeutet, dass das deutsche Verbot der Holocaustleugnung auf Telegram keine Rolle spielt. Freiheit bleibt für ihn das wichtigste Gut. Es steht außer Frage, dass Telegram einen wichtigen Schutzraum für Oppositionelle und Journalisten schafft in Staaten mit eingeschränkten Freiheitsrechten.

Aber auch die Schattenseiten der Unternehmensideologie nehmen zusehends Gestalt an. Vor zwei Jahren berichtete die taz erstmalig vom Hannibal-Netzwerk, ein Zusammenschluss aus rechtsextremen Preppern, die sich bei dem Messenger organisierten, den Aufbau von Waffenlagern umsetzten, Termine für Schießübungen planten und  sich über die optimale Stückzahl an zu bestellenden Leichensäcken berieten, die man für den "Tag X", den Tag des großen Umsturzes, für die politischen Feinde benötigen würde.  Das Netzwerk bestand nicht nur aus der rechtsextremen Gruppe "Nordkreuz" und dem Verein "Uniter", sondern auch aus Richtern und Verfassungsschutzmitarbeitern, Polizisten des Sonderschutzkommandos und Elitesoldaten wie André S., dem Drahtzieher, der alles aus der Graf-Zeppelin-Kaserne in Calw koordinierte.

Die taz hat zwar das Hannibal-Netzwerk durch ihren Enthüllungsartikel in das Bewusstsein der Öffentlichkeit befördert, doch das hat der Radikalisierung in dem digitalen Dickicht von Telegram keinen Abbruch getan. In internationalen Gruppen wie "Feuerkrieg-Division" und "Terrorwave redacted" wird unbehelligt antisemitische, rassistische und gewaltverherrlichende Propaganda verbreitet. Ein Blick in die Gruppen genügt und man wird vom kalten Grausen gepackt. "Give hate a chance" heißt es da auf mit Waffen und Totenköpfen illustrierten Bildern und "Ihr werdet nie so leben wie es sich eure Vorfahren erträumt haben, weil ein paar Ratten sich ihren Weg in machtvolle Positionen gegraben haben."

Wie sich schon beim Hannibal-Netzwerk herausgestellt hat, bleibt es nicht nur beim Austausch. Die meisten Rechtsterroristen wie Brenton Tarrant und Anders Behring Breivik waren in einschlägigen Foren aktiv, bevor sie dann zur Tat schritten. Wenn Politiker wie Horst Seehofer Ego-Shootern die Schuld an der Radikalisierung junger Männer geben, ist das eine stark vereinfachte und in Folge falsche Schlussfolgerung, die zudem bereits mehrfach widerlegt wurde. Vielmehr sind es nicht die Spiele selbst, sondern die Tatsache, dass rechte Gruppierungen wie die Identitäre Bewegung auf Gaming-Plattformen wie Steam rekrutieren. Treffpunkt ist dann Telegram.

Zuwachs in der Krise

Die Nutzerzahl von Telegram ist in der Corona-Krise stark angestiegen. Nach Eigenangaben nutzen mehr als 400 Millionen User den Dienst monatlich, täglich kommen 1,5 Millionen hinzu. Die Süddeutsche Zeitung spricht bereits von einer "digitalen Infektion" auf Telegram, denn der Messenger ist zum Zentrum für die Protestbewegung gegen die Corona-Maßnahmen und Dreh- und Angelpunkt für die Planung der Kundgebungen geworden.

Mittlerweile wirbt Telegram in seinem Infochannel für einen offiziellen Kanal des Bundesgesundheitsministeriums, der Informationen zu Covid-19 bereitstellt. Ein ernstzunehmender Ausgleich für die Unzahl an lokalen Chats, die sich während der Krise formiert haben, ist das allerdings nicht. Die Abonnentenzahl von rechten Influencern wie Xavier Naidoo und Attila Hildmann haben sich seit April beinahe verdreifacht. In den zahlreichen Gruppen der selbsternannten "Corona-Rebellen" haben Rechte die Regie übernommen, rassistische Inhalte und Falschinformationen zu Covid-19 sind an der Tagesordnung, während auf Widerspruch oftmals mit Rauswurf reagiert wird.

Manche Behauptungen tauchen gehäuft auf und scheinen sich deshalb als tragende Grundgedanken manifestiert zu haben. Inbegriffen die Vergleiche von Angela Merkel mit Adolf Hitler und die steile These, wir würden seit dem Zweiten Weltkrieg in einer Diktatur leben. Als Zentrum des gemeinsamen Feindbildes steht die Trias aus Polizei, Journalisten und Antifa. Fotos von Journalisten werden in der Gruppe in Verbindung mit der Aufforderung geteilt, man möge die Personalien doch auskundschaften, zu welchem Zweck möchte man dann lieber nicht wissen.

Die beharrliche Behauptung, die Mehrheit der Demonstranten seien weder Extremisten noch Verschwörungsideologen, sondern lediglich Bürger, die schlicht mit den Corona-Maßnahmen der Bundesregierungen unzufrieden seien, vermag nicht ganz darüber aufzuklären, wie es dann zu offiziellen Slogans wie "Das Ende der P(l)andemie", "Wir sind die zweite Welle" und "Tag der Freiheit" kommt. Letzteres ist auch der Filmtitel eines NS-Propagandafilms von Leni Riefenstahl aus dem Jahr 1935, eine Dokumentation des siebten Reichsparteitages der NSDAP. Der Film sollte durch ausgesuchte Militärromantik dem Zuschauer ein Gefühl von nationaler Macht vermitteln sowie die Kriegsbereitschaft der Bevölkerung erhöhen.

Auch einige Veranstalter der geplanten Kundgebungen für September gegen die Corona-Politik, darunter der von der Ortsgruppe Ludwigsburg, werben unter diesem Motto. In dem Ludwigsburger Schreiben informiert man zusätzlich, man würde unabhängige Mediziner und Wissenschaftler anhören wollen. Im Rahmen der Redebeiträge kommt genau eine Ärztin zu Wort. Sie ist Allgemeinmedizinerin mit einer Spezialisierung auf Homöopathie, offenbar sorgt sie zusätzlich im Anschluss für die musikalische Untermalung.

In einer weiteren Gruppe unterstützte man sich kürzlich gegenseitig in der These, die Reichskriegsflagge hätte nichts mit dem "linksfaschistischen" Nationalsozialismus zu tun, der ja ohnehin nur Reaktion auf die "Parteidiktatur" der Weimarer Zeit gewesen sei, eine Tatsache, die jedem halbwegs gebildeten Menschen doch geläufig sein müsste. Die Reichskriegsflagge sei ausschließlich Symbol für das untergegangene Kaiserreich. Ein starker und ehrlicher Kaiser, danach sehnt man sich hier.

Die Verdrehung von Tatsachen, wie die Geschichte von der "Merkel-Diktatur", wirkt wie ein direkter Griff in die Trickkiste der rechtsextremen Propagandaklassiker. Der Spieß wird umgedreht und die eigenen antidemokratischen Bestrebungen werden dann dem Feindbild angelastet. Plump, aber leider wirkungsvoll. Durch die ungeheuerliche Schamlosigkeit und die beharrliche Wiederholung der Lügenkonstrukte in Wechselwirkung mit Versprechungen entsteht der Eindruck, irgendetwas müsse daran ja stimmen. Wer sollte sich solche Skurrilitäten schon ausdenken? Ergebnis ist eine umgedrehte Variante zu Max Frischs "Die Wahrheit ist die beste Tarnung".

Ein Cocktail aus fehlender Medienkompetenz und Existenzangst

In Echtzeit kann man beobachten, wie diese Masche bereits Früchte trägt. Als Außenstehender wirken die Zusammenschnitte der Demonstrationen geradehin verstörend und bizarr. Ein irres Glaubenskonstrukt hat in einigen Menschen Wut und Verzweiflung hervorgerufen. Telegram und andere Netzwerke scheinen wie eine Gefühlsschaukel zu wirken, für Unbeteiligte ist der aggressive Pathos und die alberne Überspanntheit, mit der sich beispielsweise über die Maskenpflicht empört wird, kaum noch nachvollziehbar.

Wenn man sich im Bekanntenkreis umhört, sind die Betroffenen meistens Mutter, Vater, Onkel oder Tante, die durch die Pandemie aus ihrer alltäglichen Routine gerissen wurden und jetzt das Internet mit seiner ungeheuren Informationsflut zum ersten Mal für sich entdecken. Ein Cocktail aus fehlender Medienkompetenz und Existenzangst.

Doch was kann man gegen die Wirkung jener Filterblasen auf Telegram tun, die so augenscheinlich zur Radikalisierung beitragen? Ist eine Entschlüsselung der Messengerdienste die Lösung, wie es Behörden fordern? Einige Experten wie Miro Dietrich und auch die Reporter ohne Grenzen halten das für einen vollkommen überzogenen Schritt, der nur vom Versagen eben jener Behörden ablenkt.

Ausreichend wären bereits geschulte Expertinnen für Rechtsextremismus, eine lebendige Gegenrede und mehr Engagement bezüglich der Deradikalisierung von Rechtsextremen mit geschlossenem Weltbild. Auch muss das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das Anbieter zu einem einheitlichen Umgang mit rechtswidrigen Inhalten verpflichtet, auf Telegram ausgeweitet werden. Bis dato ist dieser Schritt noch nicht erfolgt, weil Telegram als Plattform in Deutschland bisher zu klein war.

Generell darf nicht vergessen werden, dass es sich bei den betreffenden Gruppierungen um lautstarke Minderheiten handelt, die exakt auf eine Fehleinschätzung ihrer eigenen gesamtgesellschaftlichen Bedeutung abzielen. Den Gefallen sollte man ihnen nicht tun, Wachsamkeit ist trotzdem geboten. Bislang ist der Großteil der Bevölkerung mit den Corona-Maßnahmen einverstanden, ebenfalls ist der Hang zu populistischen Denkweisen in Deutschland zurückgegangen.

Nichtsdestotrotz darf das Potenzial von Plattformen wie Telegram nicht unterschätzt werden und es braucht konkrete Maßnahmen, die eine fortschreitende Formierung von extremistischen Untergrundzellen unterbinden sowie die Radikalisierung in Momenten instabiler Gesellschaftsverhältnisse im digitalen Raum stoppen. Bis dahin bleibt Telegram Fluch und Segen zugleich.

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