Deus Ex Algorithmo (Teil 3)

Quo vadis, Social Media?

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Wir kennen nun die grundlegenden Mechanismen sozialer Medien und ihrer Algorithmen. Wir haben gesehen, dass ihre Selbstreferentialität ins informationelle Niemandsland führt. Wir haben ergründet, wie und warum die von Algorithmen vorgeschlagenen Inhalte notwendigerweise immer radikaler werden. Nach der Pflicht nun also die Kür: Wie sorgen wir für demokratiekonforme Plattformen? Ein Brainstorming.

Seit Whistleblower Christopher Wylie den Skandal um die unheilige Allianz von Facebook und Cambridge Analytica aufdeckte – einer Firma, die nicht nur die von Facebook zusammengetragenen Persönlichkeitsprofile von 50 Millionen Menschen dafür missbrauchte, die US-Wahl 2016 zu manipulieren, sondern ohne die gemäß Wylie "der Brexit nicht möglich gewesen wäre" – müssen wir uns einer überaus unangenehmen Tatsache stellen: Unsere Demokratien und ihre Wahlsysteme scheinen für eine Welt, in der unser Konsum- und vor allem Wahlverhalten aus Myriaden von Daten zu rekonstruieren ist, in der zielgenau und für externe Beobachter unsichtbar Falschinformationen verbreitet werden können, nicht gerüstet zu sein.

Wege aus dem Spinnennetz

Rekapitulieren wir noch einmal die drei wichtigsten Ergebnisse der Diskussion der Wirkweise sozialer Netzwerke:

  1. Selbstreferentielle Algorithmen führen zu Radikalisierung.
  2. Persönlichkeitsprofile ermöglichen auf das Individuum abgestimmte Manipulation.

  3. Die Auswahl der Informationen, die ein Individuum erhält, ist intransparent. Das Konzerninteresse – Profitmaximierung – und das Interesse der Nutzer:innen – Informationsbeschaffung – stehen sich scheinbar unversöhnlich gegenüber.

Jeder Ansatz, der versucht, soziale Netzwerke zu einem konstruktiven Aspekt unserer Demokratie zu verwandeln, muss diese drei Probleme lösen. Jede "pick your poison"-Lösung (zu deutsch: "Wähle dein Gift"), die versucht, zwei dieser Probleme zu lösen und das dritte unter den Tisch fallen zu lassen, wird scheitern, ganz egal, für welche Kombination Sie sich entscheiden.

Geld statt Daten?

Häufig wird vorgeschlagen, soziale Netzwerke, aber auch Firmen wie Google, einfach mit Geld für ihre Dienste zu bezahlen, statt mit unseren Daten. Prof. Wolf Singer äußerte im Interview mit dem hpd kürzlich ebenfalls diesen Vorschlag.

Ein Bezahlsystem löst allerdings nicht automatisch das Problem der obszönen Datensammelei. Nach eigenen Angaben hat Facebook im Monat 2,5 Milliarden Nutzer und im Jahr 2019 einen Umsatz von 70 Milliarden US-Dollar erwirtschaftet. Gemäß aktiengesellschaftlicher Logik hat dieser Umsatz zu steigen, nicht zu sinken.

Was nun folgt ist die Karikatur einer Milchmädchenrechnung: Gehen wir mal großzügig davon aus, dass Facebook tatsächlich von zwei Milliarden verschiedenen Personen regelmäßig genutzt wird. Mit diesen zwei Milliarden Menschen müsste Facebook die Summe von 70 Milliarden US-Dollar plus X generieren, sprich 35 US-Dollar pro Nase und Jahr eintreiben – im Durchschnitt. Wenn wir uns nun in Erinnerung rufen, dass der Löwenanteil der Nutzer:innen nicht in Kontinentaleuropa oder den USA lebt, sondern in Südamerika, Südostasien und Indien, dann zeigt sich schnell, wo der Fehler liegt: Der Dienst wäre für den Großteil der Weltbevölkerung überhaupt nicht mehr bezahlbar.

Sicher sagen Sie jetzt, dass der Umsatz nicht vollumfänglich aus den Beiträgen der Nutzer:innen entstehen wird, es spielen ja auch noch Werbepartner mit. Da haben Sie natürlich Recht. Wir wollen jedoch alle der oben aufgeführten Probleme lösen, also auch den Aspekt der Persönlichkeitsprofile einbeziehen. Die in sozialen Netzwerken Werbenden haben sich bereits daran gewöhnt, ihre Anzeigen zielgruppen- und demografieorientiert zu gestalten und auszuliefern. Wenn ein Gesetz diese Praxis nun einschränkt: Warum sollten Firmen genauso viel oder mehr Geld für Werbung ausgeben, wenn sie nicht mehr sicher sein können, dass diese Werbung bei den richtigen Personen – und nur bei diesen Personen – ankommt? Erschwerend kommt hinzu, dass eine Bezahlschranke mit Sicherheit die Zahl der Nutzer:innen und damit auch den Etat, den Werbepartner zu investieren bereit sind, senken würde.

Staatseigentum?

Ein weiterer Vorschlag, der in den letzten Jahren häufiger aufkam, ist der, soziale Netzwerke zu verstaatlichen. Selbst Jan Böhmermann brachte diese Idee schon unters Volk.

Lassen Sie mich Ihnen mit zwei Worten erklären, warum das eine ganz fürchterliche Alternative ist: Donald Trump. Geben Sie einem Narzissten Regierungsverantwortung und ein Smartphone, und dieser spricht wochenlang nicht mit einem:einer einzigen Pressevertreter:in über die Tatsache, dass er ein halbes Dutzend Ressortleiter:innen aus der Hüfte heraus gefeuert hat. Stattdessen wird so viel Schwachsinn durch die Rohre gefeuert, dass Twitter kaum mit den Warnhinweisen hinterherkommt.

Funktional betrachtet ist ein soziales Netzwerk eine Art ziviler Verlag, in dem Privatpersonen ohne presserechtlichen Hintergrund als "Mini-Verleger" auftreten und Informationen verbreiten. Es gibt einen direkten Draht zwischen einem Account und denjenigen, die diesem Account folgen. Soziale Netzwerke zu verstaatlichen kommt dem Versuch gleich, das primäre Medium unserer Zeit in die Hände der Instanz zu legen, die zu überwachen die eigentliche Kernaufgabe der Medien ist.

Das mag gutgehen, solange die politischen Akteure sich an einen gewissen Kodex halten. Tun sie das nicht, wird das Netzwerk sofort zum Propagandainstrument. Und dass ein Gentleman's Agreement dazu geeignet wäre, dubiose politische Akteure im Zaum zu halten, wenn sie ein solches Werkzeug zur Verfügung haben, darf nach Cambridge Analytica und der Ära Trump getrost verworfen werden. Die Dämme des politischen Anstands sind längst gebrochen. Zurecht warnt die Soziologin Zeynep Tufekci davor, dass Trump selbst sein größter Stolperstein war und eine etwas intelligentere autoritäre Figur, mit "langsamer twitternden Fingern", soziale Netzwerke zur Machtzentralisierung missbrauchen könnte.

Abschließend sei kurz erörtert, warum Menschen sehr viel weniger Bedenken dabei haben, ihre Daten einer privaten Firma zu überlassen als dem Staat: Weil eine private Firma niemanden wegsperren kann. Facebook und Google haben kein Interesse daran, Ihnen zu schaden, weil Sie irgendeine Regierung kritisieren. Facebook und Google können Sie weder beim Finanzamt anschwärzen, noch können sie Sie in ein Umerziehungslager stecken, weil ihre Freundesliste aus Systemkritiker:innen besteht. Ein Staat allerdings könnte all das – und er würde, wenn man ihn nur ließe.

Soziale Netzwerke neu denken

Die Idee, die ich nun präsentieren möchte, ist keine leicht verdauliche Anleitung für die Rettung der Gesellschaft vor der Zerfaserung. Im Gegenteil, sie ist eine Skizze für den politischen Diskurs, den wir in den nächsten Jahren werden führen müssen. Und sie fußt auf der Frage: Wofür brauchen wir soziale Netzwerke eigentlich?

Auf den ersten Blick scheinen Plattformen wie Facebook oder Instagram gegenüber der offensichtlichen Sinnhaftigkeit einer Suchmaschine völlig wertlos. Welchen Wert sollte es haben, Plattitüden und Alltägliches mit einem Millionenpublikum zu teilen?

Ruft man sich jedoch in Erinnerung, dass das häufigste Gesprächsthema in Büros das aktuelle Wetter ist, kommt man der Sache auf die Spur. Die vermeintliche Banalität des Alltags ist diejenige Komponente, die uns vor der inneren Kapitulation vor einer unsteten Welt bewahrt. Soziale Netzwerke können die gleiche Funktion erfüllen, die persönliche Gespräche mit Menschen erfüllen: Sie vermitteln ein Gefühl von Zugehörigeit, von Gemeinsamkeit und von Anerkennung für eigentlich banale Leistungen, wie zum Beispiel das appetitliche Anrichten eines Abendessens.

Gleichzeitig sind sie jedoch für immer mehr Menschen die primären Nachrichtenkanäle. Wie das Pew Research Center 2017 feststellte, nutzt die Hälfte aller US-Amerikaner:innen Facebook als Nachrichtenquelle. Wiederum die Hälfte hiervon – also ein Viertel aller US-Bürger:innen – nutzt ausschließlich Facebook, um sich zu informieren.

Ein Teil der öffentlichen Infrastruktur

Was sich auf den ersten Blick auszuschließen scheint, zeigt, wie tief das Konzept des sozialen Netzwerks mittlerweile in unser Leben eingedrungen ist. Wir haben uns daran gewöhnt, immer und überall mit jedem Menschen, den wir kennen, in Kontakt treten zu können. Wir haben uns daran gewöhnt, beim Scrollen abwechselnd mit Katzenfotos und mit Videobeiträgen über Terroranschläge konfrontiert zu werden. Wir haben uns daran gewöhnt, uns in digitalen Gruppen zu organisieren, die alten Klamotten per Facebook-Flohmarkt zu verscheuern und einen Klick später mit zielgerichteter Wahlwerbung bombardiert zu werden. Soziale Netzwerke sind keine Plattformen mit einem dezidierten geschäftlichen Angebot mehr, sie sind ein Teil der öffentlichen Infrastruktur geworden.

Aus dieser Erkenntnis folgt die Frage, ob privatwirtschaftliche Unternehmen wirklich in der Lage sind, einen Teil des öffentlichen Raums zu verwalten. Die Antwort lautet: Nein. Egal, welche Löschaufträge wir Facebook geben, egal, was wir Googles Algorithmus gesetzlich vorschreiben – am Ende ist es das Grundkonstrukt der Profitorientiertheit, das die Bedürfnisse der Plattform-Unternehmen mit den Bedürfnissen der Nutzer:innen dieser Plattformen unvereinbar macht. Ein Mark Zuckerberg ist nicht persönlich dafür verantwortlich, dass sein Netzwerk für Desinformation, Spaltung und sogar für die Organisation von Genoziden missbraucht wird. Schauen Sie ihm mal in die Augen, wenn er das nächste Mal einen Skandal vor dem US-Kongress zu rechtfertigen versucht. Was Sie sehen werden, ist eine endlose Leere. "Bitte, bitte helft uns", sagen diese Augen.

Wir können also konstatieren, dass soziale Netzwerke eine Daseinsvorsorgefunktion erfüllen. In einer auch geografisch immer flexibleren Welt sind diese Netzwerke das primäre Mittel geworden, um Kontakt zu halten; gleichzeitig sind sie Flohmarkt, Innenstadt, Kaufhaus, Unterhaltungsprogramm. Wenn wir wollen, dass diese Dienste nicht durch vollständig gläserne Bürger erkauft werden, wenn wir wollen, dass sich Einzelne nicht am öffentlichen Raum bereichern, müssen wir die Konstruktion sozialer Netzwerke als privatwirtschaftliche Unternehmungen infrage stellen. Was wir diskutieren müssen, ist eine neue Form des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, nämlich "öffentlich-rechtliche soziale Netzwerke".

In Teil 1 der Serie "Deus Ex Algorithmo" ging es um die Grundfunktionsweisen sozialer Medien und ihrer Algorithmen, Teil 2 behandelte, wie und warum in den sozialen Netzwerken Radikalisierung und Desinformation stattfinden. Teil 4 wird sich der Art und Weise widmen, mit welchen Methoden wir alle durch digitale Werkzeuge und Plattformen überwacht werden.

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