Interview mit dem Vorstandsvorsitzenden der Charité

"Wissenschaft kann nur Entscheidungshorizonte aufspannen"

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Prof. Dr. Heyo Kroemer, Vorstandsvorsitzender der Charité
Prof. Dr. Heyo Kroemer

Die Initiative Gesichter der Demokratie widmet dem fragilen Spannungsfeld von Demokratie und Wissenschaft derzeit ein mehrteiliges Interview-Special unter dem Titel "Corona: Demokratie und Wissenschaft im Stresstest" und versucht die Frage zu beantworten: Kann Demokratie Wissenschaft? Im ersten Teil spricht Sven Lilienström, Gründer der Organisation, mit dem Vorstandsvorsitzenden der Berliner Charité, Prof. Dr. Heyo Kroemer, über das Verhältnis von Demokratie und Wissenschaft und die Frage, ob wir in der Krise mehr "Diktatur" wagen müssen.

Sven Lilienström: Herr Prof. Dr. Kroemer, Sie sind seit 2019 Vorstandsvorsitzender der Berliner Charité. Auch von Ihnen möchten wir gerne wissen: Was bedeuten Demokratie und demokratische Werte für Sie ganz persönlich?

Prof. Dr. Heyo Kroemer: Demokratie und demokratische Werte sind für mich in zweierlei Hinsicht die Basis unseres Zusammenlebens in Deutschland. Auf der einen Seite ist es wichtig, dass wir die demokratisch getroffenen Mehrheitsentscheidungen respektieren, während wir aber auf der anderen Seite die Bedürfnisse der Minderheiten nicht aus den Augen verlieren dürfen.

In der Wissenschaft haben demokratische Prinzipien keinen Platz. Wie sehen Sie das Verhältnis von Demokratie und Wissenschaft, oder anders gefragt: "Kann Wissenschaft Demokratie?"

Ich möchte zunächst einmal bestreiten, dass in der Wissenschaft demokratische Prinzipien keinen Platz haben. Das trifft sicherlich für die Wahrheitsfindung oder Wahrheitsdiskussion in experimenteller Wissenschaft zu. Wenn Sie sich aber beispielsweise Auswahlprozesse für wissenschaftliche Positionen in der Bundesrepublik ansehen, gibt es nur wenige Prozesse mit einer höheren Partizipation.

Das Verhältnis zwischen Demokratie und Wissenschaft ist ja gerade in den letzten Monaten ganz besonders in den Fokus gerückt. Ich denke, dass unter dem Druck der Pandemie zum Teil übersehen wurde, dass Wissenschaft nur Entscheidungshorizonte aufspannen kann – demokratisch legitimierte Politik hingegen diese Entscheidung zu treffen hat!

Unser Special heißt: "Corona – Stresstest für Demokratie und Wissenschaft". Muss sich die Wissenschaft stärker dem Dialog stellen? Was, wenn wissenschaftliche Expertise politisch instrumentalisiert wird?

Wir haben während der Corona-Pandemie eine ungewöhnliche Interaktion demokratisch legitimierter Entscheidungsträger mit der Wissenschaft gesehen. Dadurch hat sich ein Überschneidungsbereich ergeben, den es in dieser Form vorher nicht gab. Das Problem liegt meines Erachtens darin, dass beide Seiten – sowohl die Wissenschaft als auch die Politik – davon überzeugt sind, dass dieser Überschneidungsbereich nach jeweils ihren Regeln funktioniert. Die Politik auf der einen Seite, die eine Entscheidung nicht mehr revidieren möchte. Auf der anderen Seite die Wissenschaft, für die es immanent ist, Meinungen auf Basis neuer Erkenntnisse weiterzuentwickeln, zu adaptieren oder auch grundsätzlich zu ändern.

Das Coronavirus nimmt keine Rücksicht auf zeitintensive demokratische Entscheidungsprozesse. Können Demokratien die Pandemie effektiv bewältigen oder müssen wir in der Krise mehr "Diktatur" wagen?

Nein, ich glaube keinesfalls, dass wir mehr Diktatur wagen müssen. Wir sollten vielmehr die demokratischen Entscheidungsfindungsprozesse neuen Anforderungen entsprechend anpassen – auch nach der Corona-Pandemie. Dies gilt insbesondere dann, wenn Entscheidungen in kurzer Zeit getroffen werden müssen. Ich glaube, dass wir die Demokratie entsprechend weiterentwickeln müssen. Mein Lieblingsbeispiel hierfür ist die Digitalisierung: Teils rasante Entwicklungsprozesse, die dennoch demokratisch Legitimation bedürfen, darauf müssen wir uns besser einstellen.

Wissenschaftler werden von Populisten gerne als "volksferne Eliten" kritisiert. Was sagen Sie den Zweiflern, die lieber auf populistische Floskeln vertrauen als auf wissenschaftliche Erkenntnisse?

Wir können nur versuchen – wenngleich mit überschaubarer Erfolgsaussicht – sachlich zu argumentieren und darauf hinweisen, dass wir uns bei Entscheidungen, die mitunter sehr komplexe Sachverhalte betreffen, nicht auf Populismus verlassen dürfen, sondern auf Fakten vertrauen sollten. Inwieweit wir damit am Ende des Tages "durchdringen", wird sich zeigen. Aber ich sehe das als alternativlos an!

(...)

Vielen Dank für das Interview Herr Prof. Dr. Kroemer!

Das Interview in voller Länge findet sich auf der Website der Initiative Gesichter der Demokratie.

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