Nach G20-Präsidentschaft:

Zahl der Hinrichtungen in Saudi-Arabien steigt sprunghaft an

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Unter der Regentschaft von Kronprinz Mohammed bin Salman bemüht sich Saudi-Arabien seit Jahren um eine Modernisierung des eigenen Images. Progressiv und weltoffen, so will die Golfmonarchie gelesen werden. Einen faden Beigeschmack liefert nun ein aktueller Report der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, demzufolge die Zahl der Exekutionen im Vergleich zum letzten Jahr stark angestiegen ist. Saudi-Arabien richtete im vergangenen Jahr den G20-Gipfel aus.

"Just in dem Moment, in dem die Scheinwerfer der G20-Präsidentschaft nicht mehr auf Saudi-Arabien gerichtet waren, setzten die Behördern ihre gnadenlose Jagd auf all diejenigen, die ihre Meinung frei äußern oder die Regierung kritisieren, fort", schreibt Lynn Maalouf, Vizedirektorin für den Mittleren Osten und Nordafrika bei Amnesty. Die Menschenrechtsorganisation moniert unter anderem, dass Regierungskritiker:innen vor dem Specialized Criminal Court (SCC) erscheinen müssen, wo sie meist ein "extrem unfaires" Verfahren erwartet. Konzipiert ist der SCC als ein Gericht, das Fälle von Terrorismus verhandeln soll.

Wer "Menschenrechte" sagt, ist kriminell

Amnesty führt 13 Fälle auf, in denen sich Personen wegen friedlicher Meinungsäußerung oder friedlicher Solidarisierung mit Menschenrechtsgruppen vor dem SCC verantworten mussten. Mitglied oder gar Gründer:in einer Menschenrechtsorganisation zu sein, steht in Saudi-Arabien gemäß dem 2015 verabschiedeten Law on Associations (Deutsch etwa: "Mitgliedschaftsgesetz") unter Strafe, da das Gesetz die Nutzung des Begriffs "Menschenrechte" an sich verbietet.

Wer dennoch solche Organisationen ins Leben ruft, wird der "Gründung einer Vereinigung ohne staatliche Lizenz" bezichtigt und vor den Anti-Terror-Gerichtshof gezerrt. So unter anderem der Aktivist Mohammad al-Otaibi, dessen vierzehnjährige Haftstrafe im Januar 2021 noch einmal um drei Jahre verlängert wurde. Mohammads Verbrechen: Er ist Gründungsmitglied der Union for Human Rights.

Wie schnell man in den Augen des SCC ein Terrorist ist, zeigt auch das Beispiel von Abdelraman al-Sadhan. Der Aktivist wurde im April dieses Jahres zu 20 Jahren Haft verurteilt, nachdem er in einigen Tweets die ökonomischen Pläne der Regierung kritisiert und zu demokratischen Wahlen aufgerufen hatte. "Das Mastermind hinter der 'Vision2030' (Mohammed bin Salman, Anmerkung des Autors) will neue Steuern einführen, um die Wirtschaft des Landes zu modernisieren. Warum führen wir nicht demokratische Wahlen ein, um unsere Steinzeit-Monarchie zu modernisieren?", lautet einer der Tweets, der vom SCC mit dem Urteil "Unterstützung der Terrororganisation IS" quittiert wurde.

Auch die Aktivistin Israa al-Ghomgham brachten Posts in den Sozialen Medien vor den SCC. Das Gericht verurteile sie zu acht Jahren Haft, da sie "Protestierenden durch die Teilnahme an Beerdigungen seelischen Beistand" geleistet und "Fotos und Videos der Proteste auf Facebook geteilt" hatte.

Isolationshaft, Folter, Exekutionen

"Mit welchem Recht entführt jemand die eigenen Verwandten, nur aufgrund von Tweets und friedlicher Meinungsäußerung, und lässt sie dann für Jahre verschwinden? Die Ungerechtigkeit, die meinem Bruder widerfährt, ist extrem belastend für unsere Familie. Vor allem für meine Mutter, die seit über drei Jahren nicht mit ihrem Sohn sprechen konnte." So fasst Areej al-Sadhan, Schwester von Abdelraman al-Sadhan, die Zeit seit 2018 zusammen. Al-Sadhan wurde damals ohne Haftbefehl von den saudischen Behörden in Isolationshaft interniert, jegliche Kommunikation mit der Außenwelt wurde ihm verwehrt. Erst nach zweieinhalb Jahren, im Dezember 2020, durfte er seine Familie kontaktieren. Seit Verkündung des Urteils im April 2021 ist al-Sadhan erneut im saudischen Justizapparat "verschwunden".

Diese Form der Inhaftierung ist in Saudi-Arabien bis heute ein gängiges Mittel zur Einschüchterung von Regierungskritiker:innen, schreibt Amnesty. Die Organisation hat außerdem zahlreiche Belege dafür gesammelt, dass Gefangene vor und nach ihrer Verhandlung vor dem SCC auch physisch gefoltert wurden, beispielsweise mit Peitschenhieben oder Elektroschocks.

Amnesty International zufolge wurden im Jahr 2019 184 Menschen in Saudi-Arabien hingerichtet. 2020 sank diese Zahl rapide ab, auf 27 Menschen. Sicherlich hat auch die Corona-Pandemie ihren Anteil hieran, doch ausschlaggebender dürfte die G20-Präsidentschaft gewesen sein. Es ist bezeichnend, dass just in den drei Monaten vor dem G20-Gipfel im November keine Hinrichtungen durchgeführt wurden, allein im Dezember vergangenen Jahres allerdings neun Personen exekutiert wurden. Die G20-Präsidentschaft Saudi-Arabiens endete planmäßig am 30. November 2020. Zwischen Januar und Juli dieses Jahres mussten bereits 40 Menschen ihr Leben auf staatliche Anordnung hin lassen.

Häufig beruft sich der Specialized Criminal Court dabei auf Aussagen, die mutmaßlich unter Folter gewonnen wurden. So geschehen im Fall von Mustafa al-Darwish, der als shiitischer Muslim zu einer religiösen Minderheit in Saudi-Arabien gehört. 2018 hatte der SCC al-Darwish zum Tode verurteilt, da dieser gestanden haben soll, an mehr als zehn regierungskritischen Protesten in den Jahren 2011 und 2012 teilgenommen zu haben. Bei seiner Verhandlung beteuerte al-Darwish, er sei "bedroht, geschlagen und gefoltert" worden und habe das Geständnis nur aus Angst um sein eigenes Leben unterzeichnet. Er sei so intensiv gefoltert worden, dass er immer wieder das Bewusstsein verloren habe, sagte al-Darwish dem Gericht.

Menschenrechtsorganisationen kritisierten außerdem, dass al-Darwish zum vermeintlichen Tatzeitpunkt im Jahr 2011 noch minderjährig war. Doch alle Mühen blieben erfolglos: Im Juni wurde das Todesurteil vollstreckt, Mustafa al-Darwishs Leben endete mit gerade einmal 26 Jahren.

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