Zivilcourage zu zeigen, ist nicht leicht. Doch gerade in Zeiten, in denen der Populismus immer größeren Zulauf hat, sind "Bürgermut" und die Fähigkeit, für andere mutig einzustehen, gefragt wie nie. Doch warum zögern wir so oft, uns für Gerechtigkeit einzusetzen? Und was unterscheidet die Zivilcouragierten von den anderen? Anna Baumert und ihr Team versuchen darauf Antworten zu finden. Sicher ist: Kluges und hilfsbereites Eingreifen kann man überall lernen – auch im Kleinen.
Frau Baumert, über Zivilcourage wird vor allem in der Presse oft sensationsheischend berichtet. Was ist Ihr Fokus?
Zivilcourage ist immer wieder auf dem Tableau des öffentlichen Interesses. Das mag das Thema bekannter machen, uns aber geht es um Grundlagenforschung. Was wir untersuchen, sind Situationen, in denen jemand Unrecht tut, Regeln bricht oder sich unmoralisch verhält – und die von einem Dritten beobachtet werden. Die psychologischen Prozesse und Mechanismen, die darüber entscheiden, ob jemand gegen einen Täter eingreift, sind vermutlich anders als beispielsweise die Prozesse, die entscheiden, ob jemand einem fremden Menschen hilft, der beispielsweise auf der Straße oder in einem Parkhaus liegt.
Wie zivilcouragiert sind wir Menschen denn?
Viel weniger Leute greifen ein, wenn Unrecht geschieht, als angenommen. Ich will mich selbst nicht ausnehmen. Ich würde mir wünschen, dass ich, wenn ich in eine brenzlige Situation komme, bereit bin, auf effektive Art zu intervenieren. Aber die Forschung bestätigt: Bloß weil ich denke, dass ich eingreifen würde, ist das real nicht unbedingt der Fall. Diese Diskrepanz macht die Forschung darüber besonders spannend.
Gibt es einen Typus, der immer helfen würde?
Es gibt Menschen, die überzeugt sind, dass sie sehr kompetent mit neuen Situationen umgehen können, die also - wie wir sagen - eine hohe Selbstwirksamkeit haben. Von diesen Menschen könnte man annehmen, dass es ihnen leichter fällt, zivilcouragiert zu handeln. Unsere bisherigen Befunde zeigen, dass sie in hypothetischen Fällen, die wir ihnen schildern, sagen, dass sie nicht zögern würden einzuschreiten. In einer echten Situation scheint jedoch die Selbstwirksamkeit einer Person keine Rolle zu spielen.
Warum ist das so?
Wir haben vergleichende Forschungen angestellt: Wir haben Teilnehmern eine Situation beschrieben, und wir haben sie in die tatsächliche Situation gebracht. Es wurde deutlich, dass es sehr große Diskrepanzen zwischen dem Vorhaben einzugreifen und dem tatsächlichen Eingreifen gibt. Viele Menschen überschätzen ihre Handlungsbereitschaft oder -fähigkeit. Sie überschätzen ihr Engagement und ihren Mut. Nur die allerwenigsten intervenieren wirklich. Auch die Intensität, mit der etwas getan wird, ist viel geringer als die Eigeneinschätzung vermuten lässt.
Es gibt aber immer wieder Menschen, die in schwierigen Situationen eingreifen. Was macht sie aus?
Darüber haben wir bisher nur Vermutungen.
Zunächst einmal geht es um eine moralische Disposition. Wie aufmerksam ist eine Person gegenüber moralischen Themen, wie wichtig sind ihr moralische Prinzipien, wie stark tendiert sie dahin, mit negativen Emotion zu reagieren, wenn sie Ungerechtigkeiten oder Unmoralisches erlebt. Zudem geht es um Impulsivität: Wie stark ist der Impuls, bei bestimmten Situationen sofort eingreifen zu müssen?
Darüber hinaus spielt möglicherweise auch die Bereitschaft eine Rolle, erlernte gesellschaftliche Regeln zu brechen. Die meisten von uns haben gelernt, sich kontrolliert zu verhalten, ihre Emotionen zu regulieren und andere Leute in Ruhe zu lassen.
Diese gesellschaftlichen Normen sorgen dafür, dass viele nicht eingreifen?
Genau, das ist unsere Vermutung. In Situationen, in denen es einen Täter gibt, den man aufhalten könnte, muss man erst einmal gegen viele erlernte Konventionen verstoßen. Das ist nicht so einfach.
Oft ist zudem nicht ersichtlich, ob das eigene Eingreifen berechtigt ist oder nicht.
Bei zivilcouragiertem Handeln besteht zweifellos die Gefahr, jemanden fälschlicherweise zu beschuldigen – und sich damit selbst in eine peinliche Situation zu bringen. Einschreiten kann genauso ein Fehler sein wie Nichteingreifen. Man muss sich letztlich fragen, welche Folgen welcher "Fehler" hat.
Muss ich mich schlecht fühlen, wenn ich nicht eingreife?
Aus psychologischer Perspektive gibt es viele Hindernisse, die das Nicht-Eingreifen verständlich machen, auch wenn sie es nicht unbedingt rechtfertigen. Jeder sollte sich jedoch klarmachen, dass das eigene Verhalten Konsequenzen für das Verhalten anderer hat. Wenn man selbst inaktiv bleibt, erhöht dies das Risiko, dass auch andere das gleiche Verhalten zeigen.
Heißt dies im Umkehrschluss auch: Wenn ich eingreife, schließen sich andere mir an?
Nicht notwendigerweise. Man muss jede Situation abwägen. Wir empfehlen, nicht in jeder Situation unmittelbar "dazwischen zu gehen". Sonst bringt man sich selbst in höchste Gefahr.
Was sollte man tun, wenn es brenzlig wird?
Im Grunde das, was auch die Polizei empfiehlt: andere Leute ansprechen und sie auf die Ungerechtigkeit, die geschieht, hinweisen. Man sollte Allianzen schmieden und Hilfe holen, und anschließend als Zeuge zur Verfügung stehen.
Sie möchten mit Ihrer Studie eine Charakterologie der mutigen Helfer entwickeln. Es gibt bereits viel Forschung über Zivilcourage. Was machen Sie in Ihrer Studie anders?
Der größte Teil der bisherigen Forschung geht von hypothetischen Szenarien aus: Personen werden Situationen über Ungerechtigkeit geschildert und anschließend fragt man sie, wie sie reagieren würden. Das Problem an diesem methodischen Zugang ist, dass die Antworten möglicherweise überhaupt nicht abbilden, was in Realität geschieht.
Für unsere Studie laden wir nur Personen ein, die in der Vergangenheit Zivilcourage gezeigt haben. Das sind zum einen Menschen, die für ihre Taten in Deutschland ausgezeichnet wurden. Zudem haben wir einen allgemeinen Aufrufgestartet. Die Teilnehmer müssen als Außenstehende Unrecht erlebt und in irgendeiner Form eingegriffen haben.
Alle, auf dies das zutrifft, erhalten von uns einen Fragebogen, der aus zwei Teilen besteht und online bearbeitet werden kann. Der erste Teil dauert etwa 15 bis 30 Minuten. Die Teilnehmer werden über die Situation befragt, in der sie eingegriffen oder gehandelt haben. Nach zwei Wochen werden sie dann zu einem zweiten Teil eingeladen, der mit Pausen etwa zwei Stunden dauert. Die Auswertung ist anonym.
Es gibt in Deutschland Trainingsschulen für Zivilcourage. Haben diese Zentren nicht viel Erfahrung mit Charakterbildung?
Diese Schulen sind sicher gut und hilfreich. Und die Trainer arbeiten mit vielen unterschiedlichen Menschen zusammen. Wir jedoch machen Grundlagenforschung. Und ich bin sicher, unsere Befunde können auch für diese Trainings relevant sein.
Es gibt viele Filme auf YouTube, die Menschen zeigen, die Zivilcourage an den Tag legen. Was halten Sie davon?
Den Erkenntnisgewinn dieser Filme, die oft mit versteckter Kamera gedreht werden, halte ich für gering. Außerdem ist das Vorgehen ethisch fraglich. Meist wissen die "Teilnehmer" nicht, dass sie gefilmt werden, noch haben sie ihr Einverständnis abgegeben, dass das Material später verwendet werden darf. Es ist wichtig, dass man die Leute – zumindest hinterher aufklärt. Und zwar nicht nur die Betroffenen, sondern auch diejenigen, die vorbeigehen. Viele bekommen gar nicht mit, wenn eine Situation vorgetäuscht war.
Kann man lernen, sich zivilcouragiert zu verhalten?
Das ist sehr individuell. Sicher ist aber, dass man nicht erst einen großen Konfliktfall erleben muss. Denn Zivilcourage ist überall nötig – in Schulen, in der Nachbarschaft oder auch am Arbeitsplatz. Es gibt viele kleine Situationen, in denen man gegen Unrecht einschreiten kann. Man kann überall lernen, gegenüber Ungerechtigkeiten aufmerksamer zu werden.
Die Fragen stellte Martin Roos für die Max-Planck-Gesellschaft.