Replik

Nicht die Drogenfreigabe ist humanistisch – aber die Freiheit des Individuums ist es

Bei der Dekriminalisierung von Drogen geht es in erster Linie darum, den Schwarzmarkt auszutrocknen, eine gewisse Qualität zu garantieren und die Drogenkonsumenten aus der Beschaffungskriminalität herauszuholen. Mittlerweile kann man da auch auf etwas Erfahrung zurückblicken: Seit Jahren kann man sich in der Schweiz als diagnostizierter, langjähriger Heroinabhängiger seinen Stoff verschreiben lassen; der Staat ist bei uns so gesehen schon seit längerem ein veritabler Drogendealer. Was anfangs von Abstinenzpropheten als Ende der westlichen Zivilisation verschrien wurde – unter anderem auch mit dem Argument, es sei verantwortungslos, wenn der Staat Drogen durch eine kontrollierte Abgabe "verharmlose" – ist heute im öffentlichen Diskurs schlicht kein Thema mehr, denn die Erfolge sprechen für sich. Die Heroinabhängigen sind von der Strasse weggeholt worden, müssen keine Delikte mehr begehen, um an ihren Stoff zu kommen, wohnen meist in stabilen Verhältnissen und können sogar nach einiger Zeit wieder arbeiten gehen – trotz täglichem Heroin-Konsum. Dass so auch die psychische Verfassung der Betroffenen an Stabilität gewinnt, dass sie sich wieder zutrauen, aktiv an der Gesellschaft teilzunehmen, dass sie auf einmal Freunde ausserhalb des Drogensumpfes finden – dies sind ebenfalls Effekte, die sich aus der kontrollierten Heroinabgabe entwickelt haben. Ich habe noch die Zeiten erlebt, als Abhängige unter absolut unwürdigsten, elendsten Zuständen in der offenen Drogenszene am Letten (Zürich) und im Kocherpark (Bern) verkehrt haben, und ich will solche Bilder nie, nie mehr sehen – und habe sie, unter anderem seit Einführung der staatlichen Heroinabgabe, auch nie mehr gesehen.

Aber auch bei weichen Drogen sind die Effekte, die sich aus einer Dekriminalisierung ergeben, verblüffend: Wir haben positive Beispiele aus den Niederlanden (wo übrigens die Touristen aus restriktiven Staaten das Problem sind, nicht die Einheimischen), aus Spanien, aus Portugal, aus den USA – die Liste liesse sich weiter fortführen. Auf einmal muss die Polizei nicht mehr Joints nachrennen, sondern kann sich auf echte Probleme konzentrieren. Auf einmal ist der Stress beim Konsumenten weg, auf einmal kann sich ein echter Markt entwickeln, in dem die Nachfrage nicht nur den Preis, sondern auch die Qualität regelt. Und plötzlich ist eben auch ein echter Jugendschutz möglich, weil der Mann, der Gras verkauft, nicht auch in der anderen Hosentasche noch Heroin mit dabei hat.

Nein, ich möchte auch nicht, dass künftig jedermann Crystal Meth beim Bäcker kaufen kann (warum eigentlich ausgerechnet bei diesem?). Aber bleiben wir doch einmal kurz bei der Realität: Momentan diskutieren die politischen Gremien unserer Länder darüber, ob und allenfalls unter welchen Bedingungen man weiche Drogen wie Cannabis dekriminalisieren könnte – könnte, Konjunktiv! Noch sind wir meilenweit weg von einer entsprechenden Gesetzgebung, noch sind solche Pilotprojekte erst in der Konzeptphase. Riehles Dystopie einer vollständig verdrogten Gesellschaft kann deshalb nur als ein argumentativ und intellektuell höchst unredliches Konstrukt verstanden werden, bei dem nicht nachvollziehbar ist, wie und warum sich der Ist-Zustand ("unsere Politiker diskutieren darüber, Cannabis zu dekriminalisieren") jemals in einen postulierten Soll-Zustand ("beim Bäcker gibts Crystal Meth für alle") transformieren sollte.

Ausserdem: Dass es zwischen Cannabis und Crystal Meth einige Unterschiede gibt, sowohl was die Herstellung, wie auch die Wirkung, wie auch die Langzeitfolgen angeht, das sollte eigentlich auch Dennis Riehle bekannt sein. Dasselbe gilt für die hunderten anderen bekannten psychoaktiven Substanzen. Wenn Riehle in seinem Essay ein Glas Bier faktisch auf dieselbe Stufe stellt wie eine Heroinspritze, leidet die Glaubwürdigkeit seiner im Kern genommen löblichen Absichten. Seinem mir vom Begriff her eigentlich sympathischen (ich bin eben nicht nur ein alter Trekkie, sondern auch ein oller Sozi) "fürsorglichen Humanismus" tut er damit einen Bärendienst.

Selbstredend bin ich mit dem Autor einverstanden, wenn er Aufklärung und Sensibilisierung als wichtige Pfeiler in der Drogenprävention ansieht. Auch in einer Gesellschaft, die Drogen als Teil der Lebenswirklichkeit ansieht, hätten diese Pfeiler ihren Platz, wären sogar wichtiger denn je. Warum aber der Konsument bestraft werden sollte, warum Riehle lieber dem Dealer als dem Staat die Kontrolle über Qualität und Art der verkauften Ware anvertraut, diese Begründungen bleibt er uns Leserinnen und Lesern schuldig. Vielleicht kann er mir ja irgendwann einmal auch erklären, wie er auf den Schluss kommt, dass Menschen "evolutionsbedingt" gruppenorientierte Wesen sind, "um gegenseitig aufeinander zu achten". Denn so schön sich der Satz liest, er erschliesst sich mir weder logisch noch in Hinblick darauf, wie Evolution tatsächlich funktioniert.

Riehles Darstellung eines "fürsorglichen Humanismus" führt geradewegs in eine humanistische Diktatur, in der wenige darüber bestimmen, was sinnvoll und sinnstiftend ist. Aber Humanismus betrifft nicht nur die Menschen, sondern explizit auch den Menschen. Schon öfter wurde der Ansatz verfolgt, von oben herab über die Sinnhaftigkeit individueller Lebensentwürfe zu bestimmen, leider auch ein paar Mal unter dem Label "Humanismus". Und jedes Mal, das kann man mit Sicherheit sagen, jedes Mal ist dieser Ansatz vollständig in die Hosen gegangen. Es geht im Humanismus eben nicht nur um eine homogene Masse, sondern besonders auch um das Individuum als eigentliche Basis und Keimzelle einer übergeordneten Gesellschaft. Ein rein kollektiv gedachter Humanismus führt, wie jede nur kollektiv interpretierte Philosophie, direkt in eine Gesinnungsdiktatur.

Um zum Titel des Essays zurückzukommen: Nein, Drogenfreigabe an sich ist nicht zwingend humanistisch. Es wäre aber in höchstem Masse humanistisch, im Zweifelsfall den mündigen Menschen (und eben nicht die Menschen!) darüber entscheiden zu lassen, wie er sein Leben gestaltet. Ganz egal, ob es dabei um seine Freunde, seinen Beruf, seine politischen Ansichten, seine Hobbys, seine Familienplanung, seine sexuelle Ausrichtung geht – oder eben auch um die Substanzen, die er konsumieren will.

Überlassen wir die Fürsorglichkeit also doch lieber den Individuen, denn überfürsorgliche Staaten, die anstelle der mündigen Bürger über Sinn und Unsinn entscheiden, braucht nun wirklich niemand mehr. Auch dann nicht, wenn diese Luftblasenfolien-Fürsorglichkeit unter einer humanistischen Flagge segelt.