Als ich während der Ferien zum chilenischen Nationalfeiertag am 18. September eine Woche Urlaub in Kolumbien verbrachte, war die Reaktion meiner Gesprächspartner dort immer die Gleiche – eine Mischung aus belächelndem Mitleid und Bewunderung über das Land am äussersten Rande Südamerikas.
Belächelt vor allem wegen des eigenartigen Spanischen, das sich dort hinter den Anden über die Jahrhunderte entwickelt hat und das selbst viele Latinos nicht immer verstehen. Und bewundert wegen seines enormen wirtschaftlichen Aufstiegs der letzten zwanzig Jahre und der stabilen demokratischen Entwicklung seit Ende der Pinochet-Diktatur 1989. Chile ist in dieser Zeit zu einem begehrten Immigrationsstaat auf dem amerikanischen Subkontinent geworden.
Am eindrucksvollsten konnte ich das erfahren, als ich kurz nach meiner Einreise im März d.J. frühmorgens meinen chilenischen Ausweis abholen wollte. Als nach über einer Stunde Wartezeit die Ausländerbehörde um 08.30 Uhr endlich ihre Pforten öffnete, stand ich in Mitten einer Schlange von über 500 Wartenden. Und offenkundig war ich an diesem Morgen der einzige europäisch Aussehende – wohl alle anderen um mich herum kamen aus diversen Ländern Südamerikas. Und wahrscheinlich war ich auch einer der wenigen Glücklichen, der schon ein mehrjähriges Arbeitsvisum in seinem Pass hatte. Denn erfahrungsgemäss bilden die vielen Arbeitsimmigranten etwa aus Peru, Bolivien oder Brasilien eine Heerschar von Billiglöhnern meist ohne langfristige Anstellung. Und trotzdem geht es den meisten offenbar in Chile immer noch besser als zu Hause.
Die starke Position des Landes drückt sich auch in der Statistik aus. So liegt das Bruttoinlandsprodukt pro Person in Chile weit vor allen anderen Ländern Mittel- und Südamerikas. Chile hat sich somit in Lateinamerika wohl zum einzigen echten Industriestaat entwickelt. Gleichwohl aber ist auch in diesem Land der Reichtum noch immer extrem ungleich verteilt. Daran konnten auch die vielen Reformen der sozialistischen Präsidentin Batchelet mit ihrer sehr grossen Koalition, die von den Christdemokraten bis zu den Kommunisten reicht, bislang nur wenig ändern.
Insofern hat man als linker Humanist aus Deutschland schon ein eigenartiges Gefühl, ausgerechnet im wohlhabendsten und konservativsten Bezirk Santiagos und damit des ganzen Landes zu wohnen und zu arbeiten. Aber die Deutsche Schule Santiago gehört schon seit ihrer Gründung vor 125 Jahren zu den privilegiertesten – und wohl auch besten – Bildungseinrichtungen des Landes. Dabei ist das Schulgeld mit 400 – 500 Euro noch nicht einmal besonders hoch. So kostet ein Platz etwa an der vergleichbaren US-amerikanischen Schule mehr als das Doppelte. Bei einem Durchschnittseinkommen von knapp 1000 Euro (die Masse aber dürfte weit weniger verdienen) kann man sich denken, welche Klientel solche Schulen besuchen kann. Die staatlichen Schulen aber sind meist verarmt und vielfach marode. Gegen dieses ungerechte System wird seit Jahren massiv protestiert.
Auf der anderen Seite wirken viele der Auslandsschulen auch positiv in die eher patriarchalisch und mehrheitlich katholische Gesellschaft hinein. Gerade die Deutsche Schule Santiago ist für ihre Liberalität bekannt. So z.B. wehte um den Welt-Aids-Tag eine Woche lang eine überdimensionale Regenbogenfahne an prominenter Stelle über dem Schulgelände – an einer der vielen katholischen Privatschulen der Stadt undenkbar.
Eine der zahlreichen Reformen, um die Regierung und Parlament derzeit kämpfen, ist eine Liberalisierung des bislang absoluten Abtreibungsverbotes. Aber während die Mehrheit der Menschen dieses Vorhaben begrüsst, haben Opus Dei und andere konservative Kräfte ein mächtige Kampagne dagegen gestartet. Bezeichnenderweise sind die meisten Aufkleber gegen eine Liberalisierung an den grossen SUV-Karossen in unserem "schicki-micki"-Bezirk Vitacura zu sehen. Dabei weiss jeder Chilene, dass gerade die Reichen ihre entsprechenden "Probleme" ganz unauffällig in einer der vielen Privatkliniken lösen können.
Dass sich die Politik aber überhaupt an ein solches "heisses Eisen" wagt ist auch ein Zeichen für den grossen Kulturwandel in diesem traditionell eher konservativen Land. So spielen Kirche und Religion, von wenigen Feiertagen abgesehen, im öffentlichen Leben offensichtlich kaum eine Rolle. Und auch Sonntags sind die grossen Konsumtempel mit Sicherheit weit besser besucht als die Gottshäuser. Ein anderes Indiz für diesen Wandel ist ein zunehmender Ethik-und Philosophie-Unterricht in den Schulen, der jedoch immer wieder von konservativer Seite in Frage gestellt wird. Und mit einem Konfessionslosen-Anteil von 8 bis 15 Prozent (die Zahlen schwanken z.T. erheblich) liegt Chile damit hinter Kuba und Uruguay an dritter Stelle in ganz Lateinamerika. Zugleich aber nimmt auch der Einfluss von Evangelikalen zu.
Am beeindruckendsten aber war bislang für mich das enorme Renommee und auch der reale Einfluss, den europäische und insbesondere deutsche Spitzentechnologien hier "am anderen Ende der Welt" haben. Kaum eine Branche, kaum ein Grossprojekt, an dem nicht Firmen wie Siemens, Bosch oder Strabag beteiligt sind. Viele meiner chilenischen Eltern haben in Deutschland studiert und sind jetzt an der Erneuerung des Landes beteiligt – von der Energieeinsparung bis zur modernen Lebensmitteltechnik. So sind deutsche Firmen und Spezialisten daran beteiligt, die weltgrösste Kupfermine in der Atacama-Wüste im Norden vom Tagebau in Zukunft unter Tage zu verlegen (Chile ist der grösste Kupferproduzent auf dem Globus und generiert darüber ein fünftel seines Staatshaushaltes). Mehrere europäische Forschungseinrichtungen haben mittlerweile grosse Dependancen. So etwa die deutsche Fraunhofer-Gesellschaft, die vor fünf Jahren mit dem "Fraunhofer Center for Systems Biotechnology" in Santiago das erste Forschungszentrum der Gesellschaft in Südamerika gründete und das u.a. an der Verbesserung der Lachszuchten arbeitet (Chile ist eine der grössten Lachsexporteure der Welt) .Vor einem Jahr kam das "Center for Solar Energy Technology" hinzu.
Gerade am Beispiel der Solartechnik wird auch die Widersprüchlichkeit des Landes deutlich. Während auf den 2000 km des Landes nördlich von Santiago praktisch das ganze Jahr über die Sonne scheint, liegt der Anteil dieser nachhaltigen Energieform noch immer bei unter 5 Prozent. Eine Mutter einer meiner Schüler war vor kurzem in meinem Geografie-Unterricht und hat von den Hoffnungen und Schwierigkeiten bei der weiteren Modernisierung des Landes berichtet. Sie ist Deutsche und leitet Projekte zur erneuerbaren Energie.
Den Arbeitsaufenthalt in Chile hätte ich mir kaum spannender vorstellen können.
6 Kommentare
Kommentare
Horst Herrmann am Permanenter Link
Höchst informativ, dieser Beitrag über ein Land im Aufbruch.
Dr. Bruno Osuch am Permanenter Link
Lieber Horst Herrmann,
vielen Dank für die ebenfalls sehr interessanten Erfahrungen mit lateinamerikanischen Bischöfen.
Aber das Land ist so vielschichtig, dass man sicher noch eine Weile benötigt, um vieles erst richtig zu verstehen.
Herzlichts
Ihr Dr. Bruno Osuch
Arnold am Permanenter Link
Ein sehr spannender, informativer und lesenswerter Bericht, den ich so nicht erwartet habe.
Dr. Bruno Osuch am Permanenter Link
Lieber Arnold,
Mit besten Grüssen
Dr. Bruno Osuch
AN Quint am Permanenter Link
Ich hab seid 13 Jahren eine eigene Firma in Chile und die Erfahrung gemacht, das trotz augenscheinlicher Hochtechnologie, tief im Inneren Chile immer noch eine sehr provinzieller, sehr ländlicher und leider auch ein s
Die deutschen Zweigfirmen werden von innen her eh verselbständig und wer sich als internationale Grossfirma mit einem chilenischen Partner einlässt wird sehr warscheinlich übers Ohr gehauen bzw absichtlich unrichtig informiert. Das ist schon Krupp, HHLA und anderen so gegangen.
Alles in Allem ist für mich Chile in den letzten 13 Jahren keinen Schritt voran gekommen sondern ist immer noch da stehen geblieben wo es einzuordnen ist. Auf dem Stand eines etwas besser gestellten Drittwelt - Landes.
Dr. Bruno Osuch am Permanenter Link
Lieber An Quint,
Gleichwohl ist durchaus bekannt, dass die chilenische Wirtschaft letztlich von ein paar Dutzend Grossfamilien beherrscht wird, die in nahezu allen Parteien bzw. deren Vorständen ihre Leute haben. Und über diverse Korruptionsskandale konnte man gerade in der letzten Zeit viel lesen. Vetternwirtschaft und Bürokratie sind offenbar auch in Chile noch immer weit verbreitet.
Das ändert aber m.E. nichts an der Tatsache, dass das Land als Ganzes in den vergangenen 20 Jahren zu einer ökonomischen und wohl auch relativen politischen Stärke und Stabilität gelangt ist, die es so wohl in kaum einem anderen lateinamerikanischen Land gibt (und nur das kann der Massstab sein). Warum gilt die chilenische Polizei als die am wenigsten Korrupte in ganz Südamerika? Warum sonst kommen so viele Arbeitsmigranten aus fast allen Nachbarländern nach Chile? Und selbst aus Spanien reisten auf dem Höhepunkt der dortigen Krise unzählige junge Leute an, um hier ihr Glück zu suchen. Dass die deutsch-chilenische Handelskammer die grösste bilaterale Einrichtung dieser Art in Chile ist, spricht auch für sich.
Es mag sein, das mein Blick vielleicht stark von der Perspektive der erfolgreichen und international vernetzten Institutionen und Unternehmen geprägt, deren Familien oftmals auch zum Umfeld der Deutschen Schule Santiago oder auch der Schweitzer Schule in dieser Stadt gehören. Zugleich aber ist mir durchaus bewusst, dass es auch die Seite der Schwachen und der Verlierer gibt. Aber ein "Dritte Welt-Land" sieht m.E. anders aus. Vielleicht einigen wir uns auf die Formulierung "Schwellenland im Aufbruch"?
Seien Sie ganz herzlich gegrüsst!
Und vielleicht können wir uns auch einmal begegnen?
Dr. Bruno Osuch