Stephen Batchelor und die säkulare Vision des Dharma

Jenseits des Buddhismus

Die "säkulare Vision des Dharma" ist das Ergebnis eines von Stephen Batchelor erlebten und gelebten Buddhismus. Er wurde in Schottland geboren, mit neunzehn Jahren buddhistischer Mönch, ist Mitbegründer des Bodhi Colleges und nunmehr Meditations-lehrer, Schriftsteller und Philosoph. Seine erste Publikation "Alone with Others" erschien 1983. Das vorliegende Buch ist eine Synthese aller seiner seit damals erschienenen Veröffentlichungen. Als buddhistischer Insider und Kenner der westlichen Denkungsart entwickelte er die im vorliegenden Buch präsentierte Idee eines säkularen Buddhismus.

Vorwort

Mein Interesse an dieser Publikation betrifft primär die Fragestellung, ob und wie weit die Zielsetzungen von "Jenseits des Buddhismus" in eine echte östliche Alternative zum westlichen evolutionären Humanismus münden können. Gleichzeitig war sie mein erster nennenswerter Kontakt zum Buddhismus. Es freute mich, eine für das kulturelle Erbe der Menschheit bedeutsame Geistesrichtung aus erster Hand kennengelernt zu haben.

Im Gegensatz zu den abrahamitischen Religionen kennt die ursprüngliche Lehre Buddhas (Gotama-der Buddha) keine Dogmen. Der Religionsgründer sprach sich wiederholt gegen ein dogmatisches und metaphysisches Denken aus. Darum versucht Batchelor, dessen Lehre zu rekonstruieren und "von dieser Basis aus eine adäquate ethische, kontemplative und philosophische Praxis zu entwickeln, die menschliches Gedeihen in einem säkularen Zeitalter bestmöglich unterstützt". (S 50)

Lesbarkeit

Das Buch ist in seinem logischen Aufbau und inhaltlich schwer verständlich. Es ist ein tiefgehendes philosophisches und von einem Buddhisten für Buddhisten verfasstes Werk. Außenstehende können aus seiner Lektüre ohne Lernbereitschaft, Ausdauer und gehobenen Bildungsstand kaum einen echten Nutzen ziehen. Dazu kommt die Weitschweifigkeit der Texte und das häufige Verwenden von nicht erklärten Begriffen. Dem Buddhismus ist es nämlich immanent, nicht zu definieren, sondern zu beschreiben. Für mich als Außenstehenden war dies wiederholt eine nur mühevoll zu überwindende Hürde, um das jeweils Gesagte überhaupt zu verstehen. Deshalb konzentriere ich mich in meiner Rezension vor allem auf die Sachgebiete, die für die eingangs erwähnte Fragestellung sowie die Beschreibung des Inhalts notwendig und förderlich sind.

Die Übersetzung aus dem Englischen empfand ich als ein Meisterwerk. Auf Schritt und Tritt begeisterte mich die literarische Qualität der Texte. Unter ihnen gab es Passagen, die zu lesen für mich eine wahre Freude waren. Dafür ist dem Übersetzungsteam in besonderer Weise zu danken.

Säkulare Vision des Dharma

Die Publikation hat den Untertitel "Eine säkulare Vision des Dharma". Unter säkularem Dharma ist jener zu verstehen, der den Menschen eines bestimmten Zeitraums (Säkulums) hilft, bzw. geholfen hat, ihre Lebenssituationen zu meistern. Die Vision ist ein Konzept eines modernen Buddhismus. Er muss derart gestaltet sein, dass er für die heute Lebenden seine Funktion erfüllen kann. Das Anliegen ist nicht, einem verweltlichten Buddhismus das Wort zu reden, sondern einem, der auf die Bedürfnisse des heutigen Menschen ausgerichtet ist.

Ich halte die säkulare Vision des Dharma für eine im Buddhismus entstandene religiöse Bewegung. Derzeit sind drei Richtungen erkennbar. Die Eine hält sich an die bestehenden konservativen Strukturen, die Zweite fühlt sich zwar dem Dharma verpflichtet, hat aber keine Bindung zu buddhistischen Schulen. Auf Seite 462f schildert Batchelor die Nachteile von diesen "spirituellen Nomaden". In These 7 seiner "Zehn Thesen zum säkularen Dharma" sieht er deswegen als dritte Variante die Bildung autonomer Gruppen vor. (S 464) Wie und in welche Richtung sich diese Bewegung entwickeln wird, kann man nicht voraussagen. Kommt es zu einer Esoterik, einer Sektenbildung oder bleibt auch sie weiterhin eine Religion? In diesem Zusammenhang erhebt sich die Frage, ob und wieweit der säkulare Buddhismus überhaupt noch eine Religion sein will. Bei einigen "spirituellen Nomaden" oder "autonomen Gruppen" mag das der Fall sein, bei anderen nicht. Irreführend ist, dass sich alle zurecht Buddhisten nennen. Dadurch hat man ständig mit verschiedenen Auffassungen zu tun.

Aufbau des Buchs

Die Publikation besteht aus einem Vorwort, elf Kapiteln, einem Nachwort und mehreren Anhängen, wie z. B. einem gut aufbereiteten Sachindex und eine Kurzbeschreibung des Autors. Jedes Kapitel beginnt mit einem oder mehreren Schrifttexten, an die sich weitere Kommentare anschließen. Diese sind teils Exegesen, also Schriftauslegungen, und teils philosophische, zeitgeschichtliche, religionsgeschichtliche und kulturgeschichtliche Ausführungen, sowie Lebensbeschreibungen.

Kapitel 1 beschreibt die Problemstellung, Kapitel 11 deren angestrebte Lösung. Am besten versteht man den Buchaufbau, wenn man sich die Kapitel 2 bis 10 als die Entstehungsgeschichte der buddhistischen Religion vorstellt. In ihrem Verlauf werden schrittweise das soziale Umfeld, das Wirken und die Lehren des Religionsstifters sowie sein persönlicher Reifungsprozess eingeflochten.

Zu den Kapiteln 1 und 11

Kapitel 1 und 11 enthalten Aussagen, aus denen man sich ein Bild davon machen kann, ob die säkulare Vision des Dharma nur eine Unterform der buddhistischen Religion ist, oder tatsächlich mit einem monistischen Weltbild im Einklang steht.

Kapitel 1: Jenseits des Buddhismus

Auf Seite 34 schreibt Batchelor: "Ich stelle mir keinen Buddhismus vor, der alle Spuren von Religiosität ablegen will. Ich strebe keinen Dharma an, der wenig mehr als eine Anzahl von Selbsthilfetechniken ist, die uns helfen, in einer kapitalistischen Konsumgesellschaft gelassener und effektiver zu funktionieren ..." Diese beiden Sätze machen nachdenklich. Da selbst ein bisschen Religion, Religion ist, ist auch der säkulare Buddhismus nur eine der vielen Religionen der Welt. Insbesondere der zweite Satz ist bedeutsam. Will er aussagen, dass jene, die sich nicht für Religion interessieren, nur nach Selbsthilfetechniken Ausschau halten? Selbstfindung und Suchen nach persönlichem Well-being ist jedenfalls nicht nur im Rahmen einer Religion möglich!

Der Begriff "religiös" hat für Batchelor zwei Bedeutungen. Zum einen versteht er unter ihm den Wunsch, "mit unserer Geburt und unserem Tod zurechtzukommen oder uns damit auszusöhnen." (S 31) Dabei zitiert er Paul Tillich und spricht von den "unbedingten Anliegen eines Menschen". Zum anderen versteht er darunter die formalen Mittel, die zur Religionsausübung gehören. (S 31) Was sind die des Buddhismus? Die drei Juwelen 1 Buddha-Dharma-Sangha? (S 195) Oder was sonst? Gibt es nicht die alte Weisheit, dass Gebete und Rituale die besten Vermittler von Glaubenswahrheiten sind? Kann etwa jemand, der weder an Gott noch an die Offenbarung glaubt, mit Andacht christliche Gebete sprechen oder beim Ostergottesdienst den auferstandenen Herren anbeten? Die innerliche Teilnahme an Riten – zu denen ja auch die Meditation gehört - ist ohne Identifikation mit dem, was sie aussagen wollen, nicht möglich. Zwischen dem religiösen Tun und dem Glauben bestehen immer Wechselwirkungen. Deshalb ist es für mich nicht vorstellbar, dass buddhistische Rituale ohne einer, wenigstens teilweisen, Internalisierung seines Weltbilds vollzogen werden können. Wählt man nicht den Entweder-oder-Standpunkt, kommt es unweigerlich zu einem faulen Sowohl-als-auch-Kompromiss.

Batchelor geht davon aus, dass viele Formen des traditionellen Buddhismus stagnieren. Die bisherigen Bemühungen, ihn von innen her zu reformieren, waren nicht besonders erfolgreich. Er vermutet, dass echte Erneuerungen nur von der nichtreligiösen Sphäre des Buddhismus kommen können. (S 29f) Er kennt jedoch auch die Bedrohungen, die durch die "spirituellen Nomaden" entstehen.

Der Abschluss des Kapitels weist darauf hin, dass zur Rekonstruktion des ursprünglichen Buddhismus mit der Zeit vor seinem Entstehen begonnen werden muss. Damit leitet er logisch auf Kapitel 2 über.

Kapitel 11: Eine Kultur des Erwachsens

Die Seiten 424-428 weisen auf die schicksalhafte Verknüpfung der Stammländer des Buddhismus mit seiner religiösen und kulturellen Umgebung hin. Zu ihnen gehört der Glaube an die Wiedergeburt und das Karma. Wiedergeburt ist der Kreislauf, Karma die Vergeltung von Taten im früheren Leben. Niemand kann es sich leisten, in diesen Ländern diesen Glauben in Frage zu stellen. Die emotionalen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen wären unabsehbar.

Dies lässt erkennen, dass eine Weiterentwicklung der buddhistischen Weltreligion, wenn überhaupt, nur in den westlichen Ländern möglich ist. (S 30) Obwohl es auch hier konservative Richtungen gibt, besteht bei vielen Angehörigen dieses Kulturkreises ein erkennbares Bedürfnis nach einem vorurteilslosen Denken. Für den säkularen Buddhismus ist das Chance und Gefahr zugleich. Ersteres deswegen, weil dadurch die Entwicklung zu einem religionsfreien Buddhismus geebnet wird, Letzteres, weil Leitbilder alleine keine Gemeinschaften aufbauen können. Ohne Kopf geht es nicht. Darum schätze ich den säkularen Buddhismus als eine Bewegung ein, deren Ende nicht absehbar ist. Unsere Zeit kennt die verschiedensten Bewegungen. Einige beginnen liberal und formieren sich in der Folge zu festen Organisationen, wie z. B. zu Sekten, Vereinen oder Parteien, andere lösen sich früher oder später wieder auf.

Zu den Kapiteln 2-10

Kapitel 2: "Mahanama: der Konvertit" führt in die sozialen, religiösen, gesellschaftlichen und familiären Verhältnisse Gotamas ein, aus denen sich der Buddhismus entwickelt hatte. Seite 67ff beschäftigen sich mit den Grundbegriffen, wie z. B "Achtfacher Pfad", "In-den-Strom-Eintreten", "Frei-fließendes-Leben" als Alternative zum Leben als "Wanderer" bzw. "heimatloser Medikant", "Anhänger und Anhängerinnen" die alle zusammen die "Edle Gemeinschaft" bildeten. Dabei kommen die Begriffe "Umfassendes Verstehen", "Wanderer", in den Strom eintreten", "Achtfacher Pfad" und die Beurteilung eines haltlosen Menschen zur Sprache, der zwar in den Strom eingetreten war, jedoch trotz Bemühens seine Schwächen nicht in den Griff bekommen hatte. Daran schließt sich in Kapitel 3 das Leben Gotamas und der Aufbau seines Werkes an.

In den Kapiteln 2, 4, 6, 8 und 10 wird das Leben von fünf Personen in den Mittelpunkt gestellt, um für die in der Tradition hervorgehobenen buddhistischen Heiligen ein Gegengewicht zu schaffen. Jeder von ihnen hatte seine persönlichen Schwächen. (S 381) Mahänama, Pasenadi und Jivaka blieben außerdem auch nach ihrem Erwachen weiterhin aktiv in der Welt. Damit dokumentiert Batchelor, dass zur engen Gemeinschaft Gotamas nicht nur Mönche gehörten, sondern Menschen aller Gesellschaftsschichten. (S 30) Meine weiteren Anmerkungen zu den Kapiteln 2 bis 10 führe ich im Abschnitt Dharma an.

Dharma

Die Bezeichnung Buddhismus wurde erst im 19. Jahrhundert von westlichen Gelehrten kreiert. Darum verwendet Batchelor den historischen Begriff Dharma, ohne dieses Wort zu übersetzen.

Um ihn zu verstehen, ist daran zu erinnern, dass der Buddhismus lieber Sachverhalte beschreibt als definiert. Darum ist die Beschreibung, wie man aus dem Dharma heraus lebt, wichtiger als dessen abstrakte Definition. Diese Information ist auch für das Verständnis des Buchs bedeutsam. In ihm beschreibt Batchelor, wie seiner Ansicht nach das Dharma von Gotama und dessen Anhängern verstanden und gelebt wurde. Dazu werden fünf Männer aus seinem inneren Kreis beschrieben: Mahänama (Kapitel 2), Pasenadi (Kapitel 4) Sunakkhatta (Kapitel 6) Jivaka (Kapitel 8) und Änanda (Kapitel 10).

Eine vierfache Aufgabe

Kapitel 3: Eine vierfache Aufgabe schildert den Prozess, den Buddha durchmachte, um erleuchtet zu werden. Am Beginn standen die drei Fragen, "Was ist die Freude des Lebens?" "Was ist die Tragik des Lebens?" "Was ist die Emanzipation des Lebens?", die ihn veranlasst hatten, von zuhause fort in die "Heimatlosigkeit" zu ziehen. "Es dauerte ungefähr sechs Jahre, bis er eine befriedigende Lösung fand. Durch dieses entdeckte Erwachen gelangte er zu einem "Perspektivenwechsel", der ihn zum Dharma hinführte. Seine Beschreibung finden wir auf S 88. Dort kann man auch über die zwei Grundpfeiler des Dharma lesen, die er bedingtes Entstehen und Nirwana nennt.

Der Prozess Gotamas Erwachen durchlief viele Stadien. Zur Lösung seiner Fragen gelangte er durch drei Erkenntnisse: Die durch das Leben bedingte Fröhlichkeit und Glück, ist die Freude des Lebens, seine Unbeständigkeit, Beschwerlichkeit und Veränderlichkeit, die Tragik des Lebens, und die Aufgabe und Beseitigung des Greifen des Lebens, seine Emanzipation. Mit diesem "Erwachen" war Gotama zu einem Dharma gelangt, das auf zwei Grundpfeilern ruhte. Der eine war das bedingte Entstehen, der andere das Nirwana. Ersteres stellt die Beziehung zwischen der Ursache und der Wirkung dar. Begehren, Hass und Verblendung verursachen Leiden. Letzteres zeigt die Möglichkeit auf, ein Leben zu führen, das frei von Reaktivität (Abhängigkeiten) oder gewohnten Neigungen ist. (S 88) In ihm enden also die genannten Verursacher des Leidens. (S 93)

Die darauffolgenden Seiten bis zur Seite 102 vertiefen und erweitern das Gesagte. Schließlich lesen wir im Kapitel 3 noch über das Verhältnis von Gotama zur Brama-Welt und die Vierfachen Aufgaben des Menschen, die sich aus dem Dharma ergeben: "Umfasse das Leben", "Lass alles Entstehende los". "Siehe sein Aufhören". "Handle!"

Die Wahrheit loslassen

Kapitel 5: Die Wahrheit loslassen ist eine philosophische und textkritische Auseinandersetzung zwischen der ursprünglichen Lehre Gotamas und der insbesondere nach seinem Tode entstandenen Auffassungen von Wahrheit.

Zur Zeit Buddhas wurden heilige Texte nur mündlich verbreitet. Anwesende lernten die vorgetragenen Lehren auswendig und gaben sie an andere weiter, die sie sich ebenfalls wörtlich einprägten. Dadurch entstanden offene Informationsketten.

Die von Gotama erstellten Informationen wurden erst in späterer Zeit, schriftlich und nach Sachgebieten geordnet, erfasst. Eines von ihnen besteht aus den ihm zugerechneten Lehrreden.

"Der Pali-Kanon ist die in der Sprache Pali verfasste, älteste zusammenhängend überlieferte Sammlung von Lehrreden des Buddha Siddhartha Gautama. Die Sammlung ist ein buddhistischer Kanon und wird durch die Bezeichnung Pali- von anderen derartigen Sammlungen wie dem "Sanskrit-Kanon" oder dem "Chinesischen Kanon" unterschieden." 2 Die von Batchelor benützten Kanons werden im Vorwort der Publikation auf Seite 8 angeführt.

Im Blickfeld des vorliegenden Kapitels 5 "Die Wahrheit loslassen" steht der insbesondere nach dem Tode des Religionsstifters erfolgte Bedeutungswandel des Begriffs "Wahrheit". Die Auffassungsdifferenzen könnten bereits zu Lebzeiten Buddhas begonnen haben. Damals standen Buddha und seine Gefolgsleute mit dem Weltbild der Brahmanen in Kongruenz. Darum musste sich auch der Buddhismus mit der theoretischen Begründung seiner Lehre beschäftigen. Auszugehen ist davon, dass in der etwa 400-jährigen Zeitspanne zwischen dem Tod Gotamas und dem Abschluss des Pali-Kanons die ursprünglich Lehre Buddhas Veränderungen erfuhr. Batchelors Bemühungen, möglichst genau die unverfälschten Lehrinhalte zu rekonstruieren, bedürfen nicht nur enormer textkritischer Arbeiten. Immerhin müssen die Texte mit denen anderer Kodizes verglichen und die verwendeten Worte und Begriffe in eine heute lebende Sprache übersetzt werden. Bei den bestehenden Auffassungsdifferenzen der Übersetzer, die ja auch die Wortwahl in ihren Arbeiten beeinflussten, kein leichtes Unterfangen. Zusätzlich sind die philosophischen Einflüsse anderer Kulturen auf den Buddhismus zu beachten. Kapitel 5 ist somit eine wissenschaftliche Abhandlung über Grundsatzfragen, die Durchschnittsmenschen in vieler Hinsicht überfordert.

Persönliche Überlegungen zu Kapitel 5

Es wird gesagt, der Buddhismus sei eine offene Lehre und hätte sich im Laufe der Zeit an die verschiedensten Gegebenheiten anpassen können. Nun behauptet Batchelor, dass die Entwicklungen nach dem Tode Gotamas Fehlentwicklungen waren und versucht, den Ur-Buddhismus zu rekonstruieren. Kann es nicht sein, dass die Lehre des Religionsstifters nach dessen Tod aus inneren Gründen nicht mehr unversehrt bleiben konnte? Sie mögen zwar zu Lebzeiten Gotamas seinen Anhängern genügt haben, hatte er aber nicht ebenfalls viele Gegner? Als er als "Kopf" weggefallen war, wurden unerfüllte Bedürfnisse laut. Die einzige Autorität für Buddhisten war der Dharma, der aus unpersönlichen Gesetzen bestand. Die Gemeinschaft verwaltete sich ohne Führer oder Leader und ohne hierarchischen Strukturen selbst. Solch eine Konzeption widerspricht allen gruppendynamischen Wirklichkeiten. Das durch den Tod des Gründers entstandene Vakuum musste ausgefüllt werden. Änanda war nicht die Persönlichkeit, die befähigt gewesen wäre, die Leaderstellung Gotamas weiterzuführen. Es bot sich auch niemand anderer an, der im Sinne des Religionsgründers hätte beurteilen können, wie sich die unpersönlichen Gesetze des Dharma intrasystematisch weiterentwickeln sollten. Die Situation war ein Eldorado für Machtmenschen, Ehrgeizlinge und fundamentalistisch Ausgerichtete. Außerdem gibt es sogenannte Gemüts- und Verstandesmenschen. Wer reißt das Ruder an sich?

Vor derselben Situation steht heute auch die säkulare Vision des Dharma: Die "spirituellen Nomaden" und "autonomen Gruppen" können schalten, walten und streiten, wie sie wollen.

Nach mehrmaligem Durchstudieren des Kapitels erkannte ich, dass ich seinen Inhalt noch immer nicht voll verdaut hatte. Schwer verständlich für mich waren insbesondere die Aussagen über Wahrheit, Erkenntnis und Wissen und die zutage getretene Angst, die Suche nach Wahrheiten könnte die Spiritualität stören.

Wenn ich das Autogene Training übe, weiß ich sehr wohl über die Grundfunktionen meines Körpers Bescheid. Trotzdem fiele es mir nie ein, dabei abstraktes Wissen erwerben zu wollen. Wissen ist der Hintergrund meines Trainings, dieses besteht aber in der Erzeugung einer Gefühlslage, an die ich mich hingebe. Ich erlebe die Entstehung von Wärme in meinen Händen, Füßen, und meinem Sonnengeflecht und durchlebe, wie mein Atem geht, mein Herz schlägt, wie ich mich entspanne und in einen hypnoiden Zustand falle. Gehe ich dann in die Oberstufe über, versenke ich mich in Bildvorstellungen. Visuelle oder Akustische gelingen mir nicht. Stattdessen erlebe ich in meiner Gedankenwelt die Auswirkungen des Urknalls sowie das Zusammenspiel der Kräfte von Physik und Chemie im All. Wie beeinflusst es doch den von uns als wunderbar empfundenen Sternenhimmel, in dem Gestirne entstehen und vergehen, sowie die Beschaffenheit des Planeten Erde! Wie wunderbar ist es, dass sich die erste DNA entwickeln konnte und aus ihr alle irdischen Lebewesen in ihrer Vielfalt entstanden. Wie aufregend ist es, das eigenes Gehirn als Zentrum meines Ich zu begreifen und sich in seine evolutionäre Entwicklung zu versenken. Was ist nun mein "Das Alles"? Versteht man darunter "eine unsentimentale Bestandsaufnahme von flüchtigen, tragischen, unpersönlichen Erfahrungen" (S 209), dann gehört zu meinem "Das Alles" auch das gesamte Wissen, das ich aus dem kulturellen Umfeld geschöpft habe. Warum sollte ich mich nicht in dieses versenken und daraus Kraft für mein Leben schöpfen? Besseres Wissen kann doch niemals die Spiritualität stören.

Im Zusammenhang damit sehe ich auch die Lehre von den beiden Wahrheiten. (Z. B. S 194f) Für mich liegen ihr Begriffsstreitigkeiten zugrunde, die für die buddhistische Theologie, nicht jedoch für mich als Außenstehender, interessant sind. Nahmen sie ihren Ausgang von einem Übersetzungsfehler? Soll man den Begriff "Wahrheit" als die Tugend der Wahrhaftigkeit auslegen? Ist "höchste Wahrheit" mit der "Endgültigen" und "Unveränderlichen" identisch? Das undifferenzierte Vermischen der verschiedensten Begriffsinhalte schuf bei mir nur Verwirrung.

Erfahrung

Im Kapitel 7: Erfahrung geht es um die Frage, welche Dharmapraxis angemessen ist, die auf den Seiten 108ff näher beschriebenen vierfachen Aufgaben zu erfüllen. Dazu bedarf es Vorstellungen von Mensch und Welt. Sie sind nicht transzendent, sondern beziehen sich ausschließlich auf die menschliche Erfahrungswelt. Ein Weg ist das Modell der fünf Bündel des Anhaftens" (S 268ff), ein anderes findet sich in Gotamas Darstellungen von Name und Form. (S 279ff) Davon ausgehend geht das Buch u. a. auch auf den Zusammenhang von Bewusstsein und Weisheit, (S 284) das Selbst und die Person, (290ff) sowie die Willensfreiheit (S 294ff) ein. Auf die Frage, ob es ein Selbst gibt, verweigerte Gotama die Antwort mit der Begründung, dass sie in jedem Fall eine metaphysische Aussage sei. (295f)

Das alltäglich Erhabene

Kapitel 9: Das Alltäglich Erhabene widmet sich der Meditation als Bestandteil des täglichen Lebens. Da ich in der buddhistischen Meditationspraxis weder paktische Erfahrungen noch theoretische Kenntnisse habe, kann ich zu Details dieses Abschnitts keine Aussagen machen. Mir fällt nur auf, dass die buddhistische Meditation untrennbar mit einer unverhandelbaren Ethik verbunden ist. Menschen, die sich für einen säkularen Buddhismus interessieren, haben keine andere Wahl, als sich diese Grundsätze zu eigen zu machen. Somit könnte man ihn als eine der vielen Methoden der Selbstfindung ansehen. Wer sie benützt, ist an ihre Standards gebunden. Dann allerdings sind seine ethischen Vorstellungen und Zielsetzungen ebenfalls nur eine von vielen Wertvorstellungen, die vertreten, aber nicht monopolisiert werden können.

Weltanschauung und Methode

Der Evolutionäre Humanismus ist eine Weltanschauung 3 und keine psychologische oder psychotherapeutische Methode. Einige dieser Methoden sind nur im Zusammenhang mit einer bestimmten Weltanschauung, andere jedoch unabhängig von einem solchen vorstellbar. Soweit der Säkulare Buddhismus nur eine Methode der Selbstfindung ist, die durch die praktische Übung der vierfachen Aufgaben erreicht wird, kann er keine Alternative zur Weltanschauung des Evolutionären Humanismus sein. Er kann jedoch als Religion und religionsfrei ausgeübt werden. Entscheidend dafür ist, welcher Weltanschauung der Ausübende anhängt. Dies im Einzelfall festzustellen, wird dadurch erschwert, dass der Buddhismus lieber beschreibt als bindende Definitionen verwendet und es offenkundig viele "spirituellen Nomaden" gibt. Darum ist abzuwarten, ob und wie sich die Theorie in der Praxis bewähren wird

Batchelor Stephen, Jenseits des Buddhismus: eine säkulare Vision des Dharma; aus dem Englischen von einem Übersetzungsteam, Berlin 2017 (edition steinrich), 536 S, ISBN 978-3-942085-60-1 Print EUR 28.00 (D) EUR 28,80 (AT)
ISBN ebook 3-942085-61-8 EUR 24,99 (D)
Original: After Buddhism, Yale University Press, 2015 © by Stephen Batchelor

Vgl. auch: Veranstaltung mit Stephen Batchelor in Heidelberg - Gibt es einen "Säkularen Buddhismus"?


  1. Wikipedia, Drei Juwelen, https://de.wikipedia.org/wiki/DreiJuwelen (Abgefragt 18.7.17) ↩︎
  2. Wikipedia, Pali-Kanon, https://de.wikipedia.org/wiki/Pali-Kanon (Abgefragt am 13.7. 2017) ↩︎
  3. Vergl. hierzu Wikipedia, Weltanschauung, https://de.wikipedia.org/wiki/Weltanschauung (abgefragt 20.7.2017) ↩︎