Hunde können sehr verschieden aussehen, trotzdem lernen Kinder auf der ganzen Welt sie treffsicher zu erkennen. Ein Bauer hat "zwölf Stück Vieh", das klingt ein bisschen, als bezeichne man zwölf Teile aus einer Masse, wie Tortenstücke aus einer Torte. Die japanische Sprache sieht das tatsächlich so. Beschreibt oder schafft Sprache eine Realität? Leben wir in einer ganz anderen Welt als die Tiere, fragt Charles Taylor in "Das sprachbegabte Tier".
Man muss sich entscheiden. Entweder man sieht die Entwicklung vom noch sprachlosen Tier zum sprachbegabten Menschen als ein Kontinuum an. Dann wird man der Auffassung sein, dass man zum Denken die Sprache nicht unbedingt braucht. Oder aber man ist der Überzeugung, dass Sprache Wirklichkeit erzeugt und neue Bedeutungen von Wörtern nicht nur dadurch entstehen, dass man mit dem Zeigefinger auf Dinge zeigt und ihnen sozusagen im Innern der Vorstellung Zettelchen mit Wörtern anheftet, die sie benennen und die wir nur noch richtig kombinieren müssen. Dann wird man vielmehr der Ansicht sein, dass durch einen Prozess der Ausdifferenzierung der Worte unsere Wirklichkeit immer reicher wird. Dann geschah mit der Menschwerdung etwas grundsätzlich Neues. Der Mensch schuf sich mit der Sprache eine eigene Sphäre, in der er fortan lebte.
Als moderne Menschen möchten wir eigentlich beides vermuten. Wir denken uns selbstverständlich als Tier. Seit Wittgenstein erscheint es uns aber auch irgendwie naiv, anzunehmen, dass Wahrheit nur im Übereinstimmen mit der Wirklichkeit besteht. Denn Wirklichkeit erfassen wir dadurch, wie wir mit ihr umgehen, und im Handeln, aber wichtiger noch: als einen durch Sprache erst geordneten Horizont.
Charles Taylor versucht in seiner umfassenden Untersuchung "Das sprachbegabte Tier" nicht die Wahrheit in der Mitte zu finden. Aber er zieht wesentliche Aspekte und Faktoren in Betracht, die man als eine goldene Brücke bezeichnen könnte: die Körperlichkeit und die Emotion. Ein Baum wird von einem Kind zunächst als etwas wahrgenommen, worauf man klettern kann, kurz gesagt, was sich damit machen lässt. Von den Dingen, auf die man nicht mit dem Finger zeigend verweisen kann, begegnen wir zunächst unserer eigenen Emotionen: Rührung, Zorn, Stolz und Scham, Angst und Zuneigung. Das sind ziemlich genau die Emotionen, die schon Darwin an den Tieren beobachtete.
Dem 1929 geborenen kanadischen Philosophen ist es durchaus um die Moral zu tun. Sie entwickelt sich aus Haltungen, analysiert er. Diese sind zunächst als Körperhaltungen zu verstehen, die selbst quasi sprachliche Mitteilungsfunktion haben, sie werden zu Lebenshaltungen bis hin schließlich zu Lebenseinstellungen, sie reifen schließlich zu Ethiken der Lebensführung. Geht es dagegen um Regeln des Umgangs in einer Gemeinschaft, sind Regeln der Moral vonnöten. Eine asketische Lebensführung kann man in diesem Sinne als ethische Lebenshaltung bezeichnen. Das Gebot, kein Lebewesen zu töten, ist wohl eine Regel, die beide Bereiche betrifft. Die Ablehnung von Hedgefonds wäre demnach eindeutig eine Frage der Moral.
Auch Ethik erfährt man körperlich
Man sieht, wie viel die Lebenshaltung noch mit der eigenen Körperlichkeit zu tun hat. Auch die Frage zum Beispiel, ob man Fleisch essen darf. Bei der Entwicklung solcher Vorstellungen spielen Fragen der Reinheit und Unreinheit eine Rolle. Charles Taylor verweist auf erhellende Weise auf den Zusammenhang von Ritual und Moral. Ein Ritual realisiert einen Mythos, erhält aber auch eine Weltordnung aufrecht. Etwas von dieser Vorstellung schwingt selbst noch im Naturrecht mit, mit dem der Gesellschaftsvertrag sich legitimiert.
Hier wird ein anderer Aspekt deutlich: Das Verständnis mentaler Prozesse ist nur möglich, wenn man sich vor Augen führt, wie sie entstanden. Und dies heißt nicht nur, dass es eine Naturgeschichte des menschlichen Geistes gibt. Es gibt viele Geschichten. Über solche Geschichten erst können wir uns verstehen.
Charles Taylor geht noch einen Schritt weiser: Auch uns selbst deuten wir über Geschichten. Insofern hat das Poetische nicht nur eine unterhaltende Funktion, sondern eine konstituierende. Nicht nur, dass wir uns entwerfen, wie wir sein wollen. Wenn wir unsere Handlungen einer kritischen Prüfung unterziehen, "lesen" wir unser Leben wie eine Geschichte, die ihren Sinn haben kann oder ihren Sinn verfehlen kann. Wir können ihr dann unter Umständen einen anderen Verlauf geben, eine andere Richtung.
Das kann man für eine sehr romantische Sicht halten, und das ist kein Zufall. Taylor knüpft ausdrücklich an Wilhelm von Humboldt und Herder an und ist der Überzeugung, dies erlaube, Locke und Hume hinter sich zu lassen. Doch in eine poetische Beliebigkeit will er keineswegs abdriften. Es geht ihm umgekehrt darum, Beliebigkeit eine Abfuhr zu erteilen.
Richtigkeit ist älter als Wahrheit
Gerettet wird "die Wahrheit" oder besser gesagt, die Sicherheit, dass unser Vertrauen gerechtfertigt ist, dass wir einige Dinge mit Gewissheit sagen können, dadurch, dass wir uns gewahr werden, dass das, was "richtig" ist, in der Gemeinschaft ausgemacht wird. Und zwar durchaus in der Doppeldeutigkeit des Wortes "Richtigkeit" als das angemessene Handeln und das angemessene Sprechen. Wahrheit entsteht unter uns. Nicht solipsistisch im Geist und auch nicht, ihn ablösend in seiner Funktion, als Impuls im Gehirn verborgen unter der Schädeldecke. Damit wendet sich Charles Taylor auch deutlich gegen Descartes und alle heutigen Cartesianer im Geiste.
Es folgt daraus auch, dass Sprache für ihn auch nicht atomistisch, erst aus wenigen, dann zunehmend immer mehr Wörtern besteht, analog eines vorgestellten Prozesses, wonach ein Ding nach dem anderen einen Namen bekommt. Sprechen und Denken – für ihn immer ein und dasselbe - ist immer holistisch. Wenn das Baby Mama sagt, dann weil Mama für ihn die Welt ist, könnte man in diesem Sinne sagen.
Klar, wir haben unsere Schwierigkeit damit. Wir wissen heute, was für komplizierte Dinge Tiere denken können. Auch ohne Sprache, aber durchaus analog zu solchen Kategorien wie Ursache und Wirkung. Sie verfügen über eine episodische Erinnerung und über eine Theory of Mind, Das heißt, sie können denken, was andere darüber denken, was sie selbst denken. Selbst Raben können das. Sie können planen, sogar unter Miteinbeziehung sich verändernder Konditionen in der Zukunft. All das geht ohne Worte. Auch sie können gerührt sein ob der Hilflosigkeit eines anderen Wesens. Es kann ihnen dauern um ein anderes Wesen.
Und hier könnte man auch mit der Faustregel des Ockamschen Rasiermessers ansetzen: Wozu mehr annehmen, wenn es auch mit weniger geht? Wozu Sprache als conditio sine qua non setzen, wenn bei den Tieren offensichtlich so vieles ohne sie geht?
Ist damit Taylors Abhandlung schon überholt? Einerseits. Aber auf die gewaltige figurative Kraft der Sprache hingewiesen zu haben, ist wichtig. Auf ihre schöpferische Kraft. Und auf ihre bindende Kraft und ihre Quellen. Kurz, warum wir sprechen. Denn Sprechen ist kein stummes Selbstgespräch. Durch Sprechen schaffen wir Menschen uns immens komplizierte und wunderschöne Dinge. Und die sind wirklich. Wie die Menschenrechte oder das Pariser Klimaschutzabkommen. Auch wenn sie nur aus Worten bestehen.
Charles Taylor: "Das sprachbegabte Tier", aus dem Englischen von Joachim Schulte, Suhrkamp Berlin 2017, 655 S. 38 €
1 Kommentar
Kommentare
Andrea Pirstinger am Permanenter Link
Richtig, menschliche Sprache (Sprachfähigkeit) spielt eine nicht unbedeutende Rolle.
Beispiel Menschenrechte: Diese Rechte durch menschliche Sprache dargestellt nützen nichts, wenn sich Menschen in ihrem Verhalten/Handeln nicht danach "richten".
Nun bin ich - wieder einmal - bei nicht-menschlichen Tieren: sie handeln/verhalten sich.
Dazu brauchen sie keine menschliche Sprache.