Versammlungsrecht trifft Reformationsjubiläum

Übergriffe von Behörden auf die Kunstaktion "Der nackte Luther"

Was haben Augsburg, Berlin und Wittenberg gemeinsam? Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) feierte 2017 in diesen Städten das 500-jährige Reformationsjubiläum und dreimal verletzten die örtlichen Behörden/Polizei das Recht auf Versammlungsfreiheit der Kunstaktion "Der nackte Luther". Beim ersten Mal mag es Zufall sein, beim zweiten Mal noch Schicksal, aber beim dritten Mal hat es wohl Methode. Angesichts der offenbar systematischen Verletzung der Versammlungsfreiheit im Luther-Jubiläumsjahr schaut dieser Kommentar von Jacqueline Neumann vom Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) auf die Gründe, die von den Behörden geltend gemacht wurden.

Platz- und Sicherheitsgründe

Die Kunstaktion "Der nackte Luther" wurde in jedem der drei Fälle bei den Behörden ordnungsgemäß angemeldet, jedoch griffen die Behördenvertreter jeweils im Vorfeld bzw. am Veranstaltungstag fundamental in den Versammlungsverlauf mit Platz- und Sicherheitsbedenken ein. Nach derzeitigem Stand liegen gerichtsfeste Gründe für die Gefährdung der Sicherheit oder Ordnung durch die Kunstaktion in keinem der Fälle vor.

Artikel 8 Absatz 1 Grundgesetz schützt die Freiheit, mit anderen Personen zum Zwecke einer gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung örtlich zusammen zu kommen. Als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe ist die Versammlungsfreiheit für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung konstituierend (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 20. Dezember 2012 – 1 BvR 2794/10 –, juris).

Zwar kann die Behörde/Polizei die Versammlung von bestimmten Auflagen, z.B. hinsichtlich des Ortes und des Verlaufs der Versammlung, abhängig machen. Dies jedoch nur dann, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung – wie vom Versammlungsleiter geplant – unmittelbar gefährdet ist. Unter Berücksichtigung der Bedeutung der Versammlungsfreiheit darf die Behörde bei dem Erlass von Auflagen keine zu geringen Anforderungen an die Gefahrenprognose stellen. Als Grundlage der Gefahrenprognose sind konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte erforderlich; bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen reichen hierzu nicht aus (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 20. Dezember 2012 – 1 BvR 2794/10 –, Rn. 17, juris). 

Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen von Gründen für eine Auflage liegt bei der Behörde. Die Gefahrenprognose der Behörde ist gerichtlich voll überprüfbar.

Die Stellungnahme der Polizeidirektion Sachsen-Anhalt Ost in Dessau-Roßlau, der "Versammlungsleiter … hat sich für eine Aufstellung außerhalb des oben genannten Sicherheitsbereiches entschieden", ist angesichts der Dokumentation in den sozialen Medien zu den behördlichen Eingriffen in den Veranstaltungsverlauf wenig glaubhaft und wird vom Versammlungsleiter David Farago nicht bestätigt, da der Zugang zum Versammlungsort von Sicherheitskräften versperrt worden und es nicht seine Entscheidung gewesen sei, den Verlauf seiner Versammlung hin zu einem anderen abseitigeren Ort zu verlegen.

Den am 31. Oktober 2017 spontan vor Ort in Wittenberg durch Behördenvertreter vorgebrachten Sicherheitsbedenken trug der Versammlungsleiter Rechnung, indem er Mitwirkungsangebote zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit bei Durchführung der Versammlung machte. Diese Mitwirkungsangebote wurden von der Behörde nicht angenommen. Gleichzeitig musste der Versammlungsleiter beobachten, wie die Sicherheitskräfte eine zweistellige Anzahl von Personen passieren ließen, die gefüllte Kartons auf Sackkarren auf den für die Kunstaktion gesperrten Platz brachten, ohne dass die Kartons an der Sicherheitsschleuse einer grundlegenden Sicherheitsmaßnahme wie beispielsweise der Untersuchung auf Sprengstoff unterzogen wurden. Aus den Kartons wurden dann auf dem geplanten Versammlungsplatz der Kunstaktion kirchennahe und prochristliche Flyer an Veranstaltungsbesucher verteilt, während die Kunstaktion von der Behörde blockiert wurde ("Uns hingegen will man nicht mal kontrollieren - wir dürfen einfach so nicht hinein."). Die massive Polizeipräsenz in Wittenberg hätte nach dem Augenschein des Versammlungsleiters offenkundig eine Kontrollmöglichkeit wie auch die geplante Durchführung der Versammlung erlaubt. Sicherheitsgründe zur Einschränkung der Versammlungsfreiheit sind demnach nicht erkennbar.

Hingegen gab es nach Aussage von Behördenvertretern ungesetzliche Gründe: Denn es ist keiner der gesetzlichen Gründe, die zu einer Beschränkung oder einem Verbot einer angemeldeten Versammlung nach § 13 Landesversammlungsgesetz Sachsen-Anhalt führen dürfen, dass die Kunstaktion denen "da oben" nicht gefällt (Aussage von Polizisten vor Ort in Wittenberg am 31. Oktober 2017 zu Protokoll gegeben vom Pressesprecher der Aktion Maximilian Steinhaus).

Der Schutz vor Kritik durch die Kunstaktion "Der nackte Luther" fällt nicht unter das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung.

Sondernutzungsrecht der Veranstalter des Kirchentages

Eine Sondernutzung für eine kirchliche Veranstaltung ermöglicht nicht die Einrichtung einer von etwaigen kritischen Äußerungen unabhängigen "Bannmeile". Eine "negative Meinungsfreiheit", verstanden als das Recht, von der Konfrontation mit abweichenden fremden Meinungen in jeglicher Weise verschont zu bleiben, gibt es nicht (Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 25. April 2007 – 1 S 2828/06 –, Rn. 29, juris). 

Nach dem einschlägigen Beschluss des OVG Bautzen (27. Mai 2016, 3 B 130/16) zum Kirchentag in Leipzig im Jahr 2016 "stehen auch öffentliche Flächen, für die eine Sondernutzungserlaubnis erteilt wurde, grundsätzlich unter dem Schutz der Versammlungsfreiheit des Art. 8 Abs. 1 GG. … Die Versammlungsfreiheit verbürgt die Durchführung von Versammlungen … dort, wo ein kommunikativer Verkehr eröffnet ist. … Somit besteht auf den Flächen, für die dem 100. Deutschen Kirchentag e.V. von der Antragsgegnerin eine Sondernutzungserlaubnis erteilt wurde, grundsätzlich Versammlungsfreiheit, zumal der kommunikative Verkehr vom Veranstalter des 100. Deutschen Katholikentags e.V. durch die Sondernutzung nicht ausgeschlossen, sondern geradezu erwünscht ist."     

Allein die Tatsache, dass auf der Fläche X bereits eine Veranstaltung stattfindet, kann überdies nie dazu führen, dass keine zweite Veranstaltung dort mehr zuzulassen ist. Bei konkurrierenden Nutzungswünschen hat die Versammlungsbehörde unter strikter Wahrung des Neutralitätsgrundsatzes einen Ausgleich herzustellen und für größtmöglichen Schutz beider Veranstaltungen zu sorgen (BVerfG NVwZ 2005, 1055). 

Bewertung

Die Kunstaktion "Der nackte Luther" war auch in Wittenberg eine angemeldete Versammlung. Die Durchführung von angemeldeten Versammlungen ist seitens der Behörden zu schützen. In den beiden zurückliegenden Fällen am 25. Mai 2017 in Berlin und am 25. Juni 2017 in Augsburg hatten die amtlicherseits angeführten Gründe des Eingriffs in die Kunstaktion keine Substanz, schufen jedoch vor Ort in dem Moment des behördlichen Handelns nicht korrigierbare Fakten. Zu dem Fall am 31. Oktober 2017 in Wittenberg liegt nun zusätzlich die Vermutung nahe, dass der Veranstalter des Reformationsjubiläums auf dem kurzen Dienstweg (Polizistenaussage "die ‚da oben‘") ungeachtet der amtlichen Versammlungsanmeldung vor unliebsamer Kritik geschützt werden sollte, und hierfür das Grundrecht der Versammlungsfreiheit verletzt wurde. Es besteht also öffentlicher Aufklärungsbedarf über die Verhältnisse in Wittenberg des Jahres 2017, noch mehr als über die des Jahres 1517.

Erstveröffentlichung: Institut für Weltanschauungsrecht, 02.11.2017