Interview mit Rolf Pohl

Über das Eigene und das Fremde

Warum verhalten sich Menschen feindselig gegenüber anderen? Der hpd sprach mit dem Soziologen und Sozialpsychologen Rolf Pohl unter anderem über Gewalt, autoritäre Sehnsüchte und die Möglichkeit eines Kosmopolitismus.

hpd: Sie beschreiben die Kategorien "das Eigene" und "das Fremde" als zentrale Kategorien in Bezug auf Fremdenfeindlichkeit. Wie bilden sich diese Kategorien und welche Bedeutung haben sie für das Thema Gewalt?

Rolf Pohl: Diese Kategorien sind Arbeitshypothesen und theoretische Konstruktionen, um bestimmte Vorgänge zu erklären. Damit soll nicht nur erklärt werden, was Fremdenfeindlichkeit ist, sondern auch, wie sie funktioniert und wie das, was wir das "Fremde" nennen, mit dem "Eigenen" zusammenhängt. Und da gibt es offensichtlich einen engen Zusammenhang. Es wird aber so getan, als würde er nicht bestehen und als wäre Fremdenfeindlichkeit somit etwas, das allein durch den Anblick, den Kontakt und die reale Erfahrung mit Fremden erzeugt wird. 

Sozialwissenschaftlich betrachtet ist das jedoch vollkommen ungenügend. Denn Fremdenfeindlichkeit entsteht nicht im Kontakt mit den Fremden in der direkten Auseinandersetzung, sondern durch einen sehr komplizierten Prozess der Umwandlung von bestimmten eigenen Anteilen, die man als "fremd" erfährt, wahrnimmt und empfindet. Diese Transformation ist das eigentlich Entscheidende. Und wenn die einmal in Gang gesetzt ist, dann ist sie auch Quelle potenzieller Gewaltförmigkeit. Denn wenn das "Fremde" einmal als äußere Bedrohung für das "Eigene" konstruiert ist, dann gibt es eigentlich keinen Grund, sich dem nicht zur Wehr zu setzen, wenn man ihm nicht entfliehen kann. 

Sie sprechen in diesem Zusammenhang auch von Projektion. Deckt sich dies beispielsweise mit dem Erklärungsansatz für die Entstehung von Homophobie, bei der die eigene Homosexualität abgelehnt und in anderen bekämpft wird?

Das ist ein klassisches Beispiel. Aber es ist natürlich nicht immer so einfach, dass nur stellvertretend bei anderen das bekämpft wird, was man bei sich selbst auch nicht zulassen möchte. Das ist das einfache Muster, das es häufig genug gibt, aber meistens ist es viel komplexer. Bleiben wir bei dem Beispiel Homophobie: Alles das, was nicht mit den Vorstellungen des vorherrschenden Männlichkeitsideals übereinstimmt, führt dazu, dass bestimmte Eigenanteile als nicht männlich deklariert werden. Diese Eigenanteile werden aber in der dualen Geschlechterordnung, die immer noch besteht, als weiblich deklariert – denn nicht männlich heißt dort weiblich. Und die "extreme" Form dieser Gleichsetzung ist der Schwule.

Es ist also auch möglich, dass nicht nur eigene homosexuelle Tendenzen, sondern auch andere Dinge als nicht männlich empfunden werden und damit die Ablehnung von Homosexualität verstärken. Bei dem Homosexuellen wird also nicht nur die Homosexualität, sondern alles als nicht-männlich Geltende bekämpft. Das üben Kinder ja schon auf dem Schulhof ein, nämlich dass "schwul" ein Schimpfwort ist, bevor sie wissen, was Homosexualität überhaupt ist.

Was führt zur Feindlichkeit gegenüber Fremden, wenn es nicht der direkte Kontakt mit ihnen ist?

Es sind Ängste, die andere Quellen haben. Gerade in Ostdeutschland ist es die Angst abgehängt benachteiligt zu werden, verbunden sicherlich auch mit alten Traditionen, die aus der Geschichte der DDR kommen und nicht aufgearbeitet wurden. Es sind verschiedene Quellen, die sich bündeln. Im Zentrum stehen aber immer persönliche und soziale Ängste, die transformiert werden in die Angst vor Fremden. Deutlich wird das in Städten wie Dresden, in denen es kaum Ausländer gibt und davon nur ein Bruchteil muslimisch ist. Einen besseren Beleg gibt es eigentlich nicht, dass Angst vor Überfremdung und daraus entsprungender Fremdenhass mit den realen Fremden wenig zu tun hat. 

Wie erklären Sie sich das aktuelle Erstarken autoritärer, kulturessenzialistischer Bewegungen, die sich weltweit finden lassen?

Wahrscheinlich hat es etwas mit der Krise der durch die Globalisierung vorangeschrittenen Modernisierung zu tun. Entgegen des Versprechens von Universalität gibt es keine universelle Durchsetzung von Menschenrechten. Es gibt eher gegenläufige und gegenaufklärerische Tendenzen, die wir momentan besonders krass am Beispiel von Donald Trump und der Idee der Abschottung vorgeführt bekommen. Doch der Wunsch nach einem Stopp von Modernisierung und einer Hinwendung zur "heilen" Welt überkommener Traditionen ist der größte Unsinn, den es überhaupt gibt. Er ist irrational, grundsätzlich ausgrenzend und tendenziell gewaltfördernd.

Es gibt zudem einen allgemeinen krisenhaften Zustand der Moderne, die immer wieder eine diffuse, angstauslösende Unzufriedenheit mit der Welt erzeugt. Die damit verbundene Entwicklung, die es historisch immer schon gegeben hat, ist das Auftreten von Rattenfängern, die diese Stimmung der Bevölkerung aufnehmen und in eine bestimmte Richtung kanalisieren. Die Transformation von Angst in Hass wird auf ausgewählte Feindbilder gerichtet, von dessen Beseitigung das eigene Seelenheil und das der gesamten Bezugsgruppe abhängen soll. Dabei mobilisieren diese Rattenfänger eigentlich nichts anderes als autoritäre Gläubigkeit an seligmachende Versprechungen und politische Allheilmittel, die gruppenpsychologisch immer gebunden sind an die Funktion eines Führers und seiner einfachen aber wirkungsvollen Ideen. Das scheint ein allgemeines Phänomen in vielen Ländern der Welt zu sein, über das man viel lernen kann, wenn man sich massenpsychologisch damit auseinandersetzt.

Welche Rolle spielt dabei die Religion?

Nach Sigmund Freud haben Religionen als eine Weltanschauung die Bedeutung von irrationalen Illusionen, die keine wirkliche Hilfe bringen, sondern seelische Entlastung vorgaukeln. Religionen haben damit ähnliche Funktionen wie politische Ideologien. Es handelt sich um ein Versprechen, das die Menschen mit dieser Welt versöhnen soll, wenn bestimmte Bedingungen in der gläubigen Anhängerschaft erfüllt werden. Dieses Versprechen kann aggressiver getönt sein, wie man es zurzeit sieht, oder defensiver. Man muss also differenziert betrachten, was Religionen sind und welche massenpsychologische Funktionen sie haben. Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass Religionen an sich militant ausgerichtet sind. Es ist aber auch verkürzt zu sagen, dass die Religion von militanten Bewegungen einfach nur missbraucht wird und grundsätzlich nichts mit Gewalt zu tun hat.

Bei der Integrationsdebatte ist weiterhin die Forderung eines Multikulturalismus präsent. Geht dieser nicht selbst von einem geschlossenen Kulturverständnis aus, das der Realität nicht gerecht wird?

Ja, genau. Deswegen ist es eigentlich überholt von Multikulturalismus zu reden. Der Begriff ist nicht nur zu einem Kampfbegriff geworden, sondern er hatte auch nie wirklich eine reale politische Bedeutung. Die Idee fester Grenzen unterschiedlicher, in sich einheitlicher Kulturen wird damit bestätigt.  

Zum Ende noch ein wenig Utopie: Was für Bedingungen müssten gegeben sein, damit ein kosmopolitisches Weltbürgertum entsteht?

Das ist tatsächlich eine utopische Vorstellung, auf die man ebenso utopisch antworten kann. Die Abschaffung aller Grenzen und aller Nationen wäre die erste Bedingung, denn solange wir in nationalen Kategorien denken, denken wir fast zwangsläufig in Nationalismen. Damit sind wir auf der fatalen Schiene der Identitätslogik mit der wir "das Eigene" gegen "das Andere" abgrenzen. Natürlich sollten Unterschiede nicht geleugnet werden. Aber die Idee von nationaler Größe und nationaler Minderheit ist eine Sackgasse des Denkens, die diese eher utopische Idee eines Universalismus verhindert.

Eine andere Bedingung ist sicher, dass der Mensch kein geknechtetes Wesen ist, aber in Verhältnissen lebt, die ihn immer wieder zum Knecht machen. Um das zu ändern, müssten die soziale Ungerechtigkeit und ihre strukturellen Ursachen in allen Dimensionen angegangen werden.