Glaube und Aberglaube bei WM-Spielen

Gott mit uns - oder das Pipi vom Keeper

Glatzenküssen, Bekreuzigen, Glücksunterhose: Bei einer Fußball-WM zeigen Religion, Aberglaube und Astrologie sich von ihrer ehrlichsten Seite.

Glaube ist nicht sinnlos, er erfüllt einen Zweck. Er dient der Selbstvergewisserung, der Stärkung des glaubenden Individuums. Dass die Inhalte der genutzten Religion dabei mehr oder weniger beliebig und austauschbar sind, lässt sich schon daran erkennen, dass die Religionen und Kulte einander seit der Entstehung der Menschheit ablösen, und dass die Inhalte langlebiger Religionen sich an veränderte gesellschaftliche Bedingungen anzupassen verstehen: Warf eine Religion etwa früher Hexen ins Feuer und versenkte Andersgläubige in ihre Folterkeller, so kann sie sich in zivilisierteren Zeiten als Hort der Mildtätigkeit und Liebe ausrufen. Hauptsache, man hat ein gutes heiliges Buch voller bizarrer Widersprüche, über das man die jeweils adäquate Schablone legen kann, um 95 Prozent des Inhalts auszublenden. 

Leistungssport und Religion haben dabei durchaus eine gemeinsame Geschichte. Sport als Wettkampf und als öffentliche Handlung scheint vielfach in Kulthandlungen zu wurzeln, so wuchsen nicht zuletzt die Olympischen Spiele der Antike im Schatten eines vorhandenen Kultbetriebs in einem heiligen Bezirk: Sport, so scheint es, kam als eine Form von Götterverehrung auf die Welt, und das Anrufen der jeweiligen Gottheit unmittelbar vor dem Wettkampf ist dem Wettkampf selbst eingeschrieben. Wie würde denn auch der Gläubige darauf verzichten wollen, der unsichtbaren Macht seinen Respekt zu erweisen und sie um Beistand zu bitten? In der Frühzeit wäre dies sicher, in einem quasi-religiösen Umfeld, ein No-Go, wenn nicht gar Frevel gewesen. Im Maße aber wie der Sport - und überhaupt das menschliche Leistungsvermögen - sich vom Glauben emanzipiert hat, haben sich auch die Kräfteverhältnisse umgekehrt: Wurde einstmals zu Ehren der Gottheiten gerannt und geschwitzt, so ist der Sport selbst zu einer gigantischen Feier des menschlich Erreichbaren herangewachsen, in der die Götter höchstens noch eine bescheidene Rolle als Glücksbringer spielen dürfen. Wie wenig Staat mit ihnen zu machen ist, weisen sie dabei ein ums andere Mal nach, und schon am pflichtgemäß-verhuschten Bekreuzigen bei der Einwechslung lässt sich ablesen, wie gering der Einfluss der Gottheit tatsächlich eingeschätzt wird: Jeder Kuss aufs Vereinswappen ist leidenschaftlicher, jede Werbebande hat mehr Präsenz. Ganz kurz blitzt die Behauptung eines Gottes nur auf, wenn ein gläubiger Spieler mal ein Tor geschossen hat: Mit einer Geste und seinen Blicken weist er dann in den Himmel, ohne dabei der Frage nachzugehen, warum der Gott sich für den Ausgang eines Fußballspiels interessieren sollte, das nicht einmal mehr ihm zu Ehren stattfindet, sondern zur Unterhaltung der Menschen und als Einnahmequelle eines in der Spitze verfaulten und korrupten Systems namens Fußballverband. Die Huldigung im Moment des Torerfolgs würdigt die Gottheit im Grunde mehr herab als jede Schändung religiöser Bildnisse oder Orte. Denn wo diese den Gott wenigstens noch als bekämpfenswert erscheinen lässt, so degradiert jene ihn zu einem Fußballmaskottchen, ja, fast scheint es, als sollte die transzendentale Geste des Torschützen eher ihn selber zu kosmischer Größe aufpumpen als dass sie einer Gottheit zur Ehre gereichte.

Längst ist die Religion vom viel stärkeren und wahrhaftig erlebbaren Fußball kleingemahlen worden, der das Beste der Kulthandlung übrig behalten hat – die Auszeit vom Alltag, den besonderen Versammlungsort, die Massenverschwisterung –, während er die Unzumutbarkeiten religiöser Kulte – Unterordnung, Langeweile, Befolgung bizarrer Regeln – ersetzt hat durch Spannung, Aufregung und Emotion, Dinge, die in einer sesshaften Gesellschaft viel zu kurz kommen und daher vom Sport ergänzt werden müssen, da kein gemeinsames Aufspüren und Jagen mehr stattfindet, das den Menschen über einen langen Zeitraum seiner Geschichte begleitet und geprägt hat.

Im Fußball hat die Religion den Platz, der ihr zusteht - an der Seite von abergläubischen Praktiken, deren Sinnhaftigkeit von den Ausführenden niemals hinterfragt und auch niemals ausgewertet wird, weil logisches Denken und Empirie den Zauber nur zerstören würden. Der Mann, der vorm Anstoß oder bei seiner Einwechslung sich bekreuzigt oder eine gut sichtbare Gebetshaltung einnimmt, stellt die Religion auf eine Stufe mit dem Tragen von Glückssocken, mit dem Verbuddeln magischer Gegenstände am Elfmeterpunkt und mit dem Bepinkeln des Strafraums, für das einst der argentinische Nationaltorwart Sergio Goycochea berühmt war. Er war damit nicht sehr weit weg von Giovanni Trapattoni, der auf dem Erkenntnisgrund katholischer Überzeugung bei der WM 2002 das Spielfeld mit Weihwasser besprenkeln ließ, das ihm seine Schwester, eine Nonne, verschafft hatte: Warum die Italiener in diesem Turnier wohl frühzeitig aussschieden? War die Gottheit beleidigt ob der Profanisierung ihres heiligen Leitungswassers, oder war doch einfach noch zu wenig davon vorhanden, und sind die Kleinkäfer auf den Grashalmen zu ihrer eigenen Verdutzung ins Paradies aufgefahren, nun, da sie geweiht waren? Woher rührt die Grundannaheme, dass das Weihwasser sich auf den Spielverlauf auswirke, je nach Nationalität dessen, der es herbeigeschafft  hat? Hat der liebe Gott es vielleicht gerade gut mit den Italienern gemeint, ihnen mal in ihrer fußballerischen Selbstherrlichkeit einen Dämpfer zu verpassen?

Ganz ohne Moral kommt er eben nie aus, der abrahamitische Mono-Gott: Wenn der Glaube an ihn schon keine in der materiellen Welt messbare Auswirkung hat, eine hat er eben doch immer, ein schlechtes Gewissen; das Gefühl, etwas schuldig zu sein. Die Wirkungslosigkeit ist dabei dieselbe, die auch der Astrologie oder dem Lesen aus dem Gekröse zu eigen ist. Oder, um beim Fußball zu bleiben: Das Heiligsprenkeln der Grünfläche steht auf einer Stufe mit dem Torwart-Glatzenkuss der französischen Equipe im Jahr 1998, mit den blauen Unterhosen, die kolumbianische Torwartlegende René Higuita auf Anraten einer Wahrsagerin trug, mit den astrologischen Erwägungen des Trainers Raymond Domenech, der keine "Skorpione" in seinem Team spielen lassen wollte. Direkt ablesbaren Einfluss auf das Spiel haben all diese Formen des (Aber-)Glaubens dabei nicht, sieht man einmal vom Fall des Spielers Kolo Touré ab, der fest davon ausging, er müsse den Rasen immer als Letzter aus seiner Mannschaft betreten: In einem Champions-League-Spiel seines FC Arsenal wurde ein Mannschaftskollege noch bei Beginn der zweiten Halbzeit in der Kabine behandelt, weshalb auch Touré sich weigerte, den Rasen zu betreten und sein Team zunächst mal mit neun Spielern weitermachen musste...

Das war einer der wenigen Fälle, in denen Folgen des (Aber-)Glaubens sich wirklich auf dem Spielfeld niederschlugen. Wie oft er vielleicht dennoch den Ausschlag gegeben hat, lässt sich schwer beurteilen: Vielleicht spielt ja der Stürmer doch unsicherer, wenn sein Glücksunterhemd versehentlich gewaschen worden ist? Vielleicht fördert die Versenkung ins Gebet die Konzentrationsfähigkeit? Der menschliche Geist ist für vieles offen, und seien es auch nur Einflüsse, die aus ihm selber kommen, anders als Wetter und Wind, Einflüsse einer großen, mächtigen Einbildungskraft, die dem Gläubigen die Illusion einer Geborgenheit auf der Welt verschafft, welche er nicht missen mag; nicht mal auf dem großen Rasenviereck, das die vielleicht wahrhaftigste Transzendenz bereithält, die wir jemals erleben werden: eine komplett andere Welt mit eigener Zeit und eigenen Regeln, eine kleine Ewigkeit für neunzig Minuten.