Kolumne: Sitte & Anstand

Glaube, Pinkeln und Gewalt

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Manneken Pis (Brüssel)
Manneken Pis

Soweit wir wissen, ist der Mensch das einzige Tier, das überwiegend in einer eingebildeten, symbolischen Welt lebt. Alle anderen Tiere haben in erster Linie mit realen Gegebenheiten zu tun: Schutz vor Räubern, Schutz vor den physikalischen Einwirkungen der Natur, Futtersuche. Der Mensch hat sich im Laufe seiner Kulturgeschichte von vielen dieser Zwänge relativ weit abgenabelt – und ist entsprechend beleidigt, wenn die Natur ihn hin und wieder an seine basale Ausgeliefertheit erinnert, etwa durch eine Pandemie.

Meist aber hat er weitgehend Ruhe. In seiner gewonnenen Zeit beschäftigt er sich nun mit Dingen, die nur in seiner Vorstellungswelt existieren, die für alle anderen Tiere unsichtbar und un-erlebbar sind, und er verwendet viel Energie darauf, seine jeweilige Symbolwelt gegen andere, ebenso denkbare Symbolwelten durchzusetzen. Er glaubt an die Weisungsbefugnis von Ampeln, glaubt an den Wert von Gold (weil es glitzert), glaubt an den Wert von Geld, glaubt an Privateigentum, glaubt an Hierarchien, an Amtsbefugnisse, an Würdenträger, an Heiligtümer, glaubt an Nationen, Rassen, Gesetze, die Polizei, das Finanzamt, glaubt an Gott. Alles Dinge, die nur in seinem Kopf existieren, als eine Übereinkunft einer bestimmten Gruppe, die sich von diesen Dingen einen Vorteil verspricht. Wobei: Der Polizist, der Finanzbeamte, der Richter – sie schmecken letztlich, wie die Löwen bei Perscheid sagen würden, alle nach Schimpanse. Vor der Natur sind sie alle gleich und alle geglaubten Dinge gleich nichtig. Weswegen diese Dinge letztlich mit Gewalt durchgesetzt werden müssen, um sich gegenüber dem Zweifel und dem Achselzucken zu behaupten.

Die vielleicht absurdesten, weil auf den ersten Blick sinnlosesten dieser Gedankenkonstrukte sind die Religionen: Kann man die Idee einer Polizei und Gerichtsbarkeit noch nachvollziehen und die Vorstellung von Privateigentum (Haus, Auto, Grund, meins, meins, meins! Mehr, mehr, mehr!) zumindest als Gedanken eines Zweijährigen noch menschlich finden, so macht das Hirn schlapp, sobald es auf das Phänomen der Religion stößt, das am ehesten einer kollektiv geteilten Wahnvorstellung ähnelt. Zu welchen bizarren Handlungen diese Wahnvorstellung viele Menschen verleiten kann, ist hinlänglich bekannt und erstaunt doch immer wieder neu. In Pakistan etwa hat sich kürzlich folgendes hoch skandalöse Ereignis abgespielt, das zu massiven Gewaltausbrüchen, zig Festnahmen und einem Eingreifen des Staatschefs geführt hat: Ein Junge von geschätzten acht bis zehn Jahren – es gibt da keine verlässliche Überlieferung – hat gepinkelt. Oder jedenfalls will jemand ihn dabei beobachtet haben, wie er gepinkelt habe.

Die Folge: Im Gegensatz zu fast allen anderen Jungs auf der Welt, die irgendwohin gepinkelt haben, wurde dieser Junge von der Polizei ins Gefängnis gesteckt. Seine Familie tauchte ab. Menschen gingen in das religiöse Haus von anderen Menschen, in dem hinter Glas Statuen standen; sie zerschlugen dort alles, schmissen das Glas ein, schrien, hauten von unten die Ventilatoren kaputt. (Männer, natürlich!) Und warum das alles? Weil der Junge, von Hindus abstammend, an einem Ort gepinkelt haben soll, der von einer anderen religiösen Gruppe, den Muslimen, als irgendwie "heilig" empfunden wird, einer Koranschule wohl.

So einfach geht das also. So leicht ist alles Geglaubte massiv in Frage gestellt, nur durch die Präsenz eines Jungen. Weil er erstens einer anderen Religion zugerechnet wird – und also, wenn man nur eine Sekunde nachdenkt, alle anderen Religionen grundsätzlich in Frage stellt, sowie, gönnt man sich eine zweite Sekunde, das Konzept von Religion an sich. Und weil zweitens das Pinkeln in als heilig oder geweiht definierten Räumen magisch-religiöse Gehirne noch mehr in Panik versetzt: Es erinnert daran, dass die Realität der Natur, so sehr man auch dagegen anzuglauben versucht, die wesentlich größere Evidenz hat als alle Götter.

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