Kolumne: Sitte & Anstand

Liebe Passagiere! Begegnen Sie jetzt Ihrem Schöpfer...

In einem vollbesetzten Flugzeug-Innenraum sitzt ja immer auch die Angst. All die fremden Menschen, die Enge, die Ausweglosigkeit, die komplett unnatürliche Fortbewegungsart. Zur tief sitzenden Furcht vor dem Absturz ist seit 9/11 verstärkt diejenige vor Entführungen und Anschlägen gekommen, und so ist mancher Mensch heilfroh, wenn er die Sardinenbüchse verlassen kann, die ihn und den ein oder anderen Mitreisenden im eigenen Angstschweiß gut durchgesotten hat. Wenn dann aber noch jemand anfängt, von seinem Gott zu erzählen...

Vorher aber, kurz vor der Befreiung, sitzt man noch einige Minuten zusammengepfercht im ausrollenden, einparkenden Fluggerät, und kein kundiger Thriller-Regisseur würde es sich nehmen lassen, mitten in dieses vorsichtige Aufatmen hinein noch einen weiteren Schockeffekt zu setzen. Etwa könnte ein unbekannter Mann sich des Bordmikrofons bemächtigen und beginnen, aus seinem Leben zu erzählen, von seinen Problemen und von seiner Zerrissenheit zu berichten, letztlich auf seine Gottheit zu sprechen zu kommen... Hilfe, nichts wie raus!

Genau so ist es kürzlich den Passagieren einer vollbesetzten Maschine passiert, die, aus Washington kommend, glücklich in Chicago gelandet war. Noch in die Sitzreihen geklemmt, erlebten sie eine komplett ansatzlose Ansprache eines Piloten außer Dienst, der, warum auch immer, einen immensen inneren Druck verspürte, aus den Abgründen seines Lebens zu erzählen: Als Kind sei er vergewaltigt oder sexuell missbraucht worden. Daraufhin habe er aus lauter Seelenpein jede Nacht seinen Gott angeschrien, da der sexuelle Missbrauch ihn schwul und sexsüchtig gemacht habe. Wahnsinnig viel Pornografie habe er konsumiert. Seine Ehe sei unglücklich gewesen. Er habe sich einem "schwulen Lebensstil" hingegeben...

Man braucht kein Nervenarzt zu sein, um zu bemerken: Da hat jemand ein psychisches Problem. Wie wird es sich auf den Flugzeuginnenraum auswirken? Wer sich Verfügungsgewalt über die Sprechanlage im Flugzeug verschaffen kann, kann sicher auch Bomben, Schusswaffen, Macheten einschmuggeln? Die Ausführungen steuerten dann allerdings auf einen anderen Abschluss zu: Er möchte, so der Freizeitpilot, mit allen Anwesenden die Liebe Christi teilen, man werde ihn jetzt gleich im Ausgangsbereich treffen, und wenn jemand sich unwohl fühle bei der ganzen Nummer, hey, dann sei das echt okay.

Oh wow, das ist aber nett. Das war dann ein Schnellkurs in Religion: Eine Kinderseele, die traumatisiert und der schlechtes Gewissen gemacht wird für ihre natürlichen Empfindungen, ein Leben in aufgezwungener Unehrlichkeit, schließlich der Drang, den Druck irgendwie, auf nicht ganz vorhersehbare Weise rauszulassen. Ihn weiterzugeben. Ob der Freizeitpilot sich jetzt besser fühlt? Wir jedenfalls wünschen uns, dass solche Monologe vielleicht lieber mit vorbereitender Ansage passieren, und vielleicht nicht unbedingt in einem Flugzeug, sondern eher im Warenhaus oder in der U-Bahn-Station oder in der Umkleidekabine, jedenfalls einem Ort, der Fluchtmöglichkeiten, Möglichkeiten zu Freiheit und Aufatmen lässt. Vielleicht sollte man Menschen wie dem Freizeitpiloten und Seinesgleichen eine Radiosendung geben, und vielleicht hängt man ihnen noch irgendeine Priesterweihe um, damit das Leben unterm eingebildeten Sündenjoch auch ein bisschen was Erhebendes hat. Und am Radiomikrofon merkt er ja auch gar nicht, ob das da draußen in der echten Welt niemand hören will. Im Flugzeug bekam er ein spontanes "Fuck you and your story!" zu hören.

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