Chemische Evolution

Wie lebende Systeme aus toter Materie entstanden

Die Entstehung des Lebens bleibt eines der größten (noch) unbeantworteten Rätsel der Wissenschaft. Wie konnten sich die notwendigen chemischen Bausteine unter den Bedingungen der frühen Erde bilden und wie konnten sie sich zu einer ersten "lebenden" Protozelle verbinden? Der Chemie kommt bei der Beantwortung dieser Frage eine Schlüsselrolle zu und hier konnten in den letzten 20 Jahren aufregende Erfolge erzielt werden: Ein Rückblick.

Seit der sowjetische Biochemiker Alexander Oparin 1924 in seinem Buch "Die Entstehung des Lebens auf der Erde" die Hypothese aufstellte, dass wir nicht "von einem absoluten und grundsätzlichen Unterschied zwischen lebender und toter Materie sprechen müssen" und, dass "Leben eine neue Form der Existenz der Materie ist, die unbedingt als eine bestimmte Etappe in der historischen Entwicklung von Materie auftreten musste", versuchen Chemiker eine Brücke zur Biologie zu bauen.1 2 3

Um zu wissen, wonach gesucht wird, bedarf es zunächst einer Definition von Leben. Die gängige Definition aus biologischer Perspektive beinhaltet mindestens drei Kriterien: Reproduktion, Metabolismus und Mutation.3 Über zusätzliche Kriterien besteht bis heute kein Konsens, es besteht jedoch der Verdacht, dass diese ohnehin aus den erstgenannten ableitbar sind. Nur durch Reproduktion, gepaart mit gelegentlichen Veränderungen des Erbmaterials (Mutation) ist der Prozess der natürlichen Selektion vorstellbar. Ein Stoffwechsel (Metabolismus) ist notwendig, um nachhaltige Wachstums-Reproduktionszyklen zu durchlaufen und einen geordneten, d. h. energiereichen, Zustand des lebenden Systems zu erhalten. Dies bedeutet, dass zumindest eine Aufnahme von Molekülen erfolgen muss, die in diesem Kontext als Nährstoffe bezeichnet werden können. Da Viren keinen eigenen Metabolismus aufweisen, entsprechen sie dieser Definition von Leben nicht. Ohne den Metabolismus einer lebenden Wirtszelle auszunutzen, können sie sich nicht reproduzieren.

Die Protozelle

Trotz der beeindruckenden makroskopischen Vielfalt sind sich alle Lebewesen, so wie wir sie auf der Erde kennen, auf mikroskopischer Ebene verblüffend ähnlich. Die kleinste funktionale Einheit aller Lebewesen ist die Zelle und die Erbinformation besteht aus nur wenigen identischen chemischen Bausteinen. Diese Tatsache weist stark auf gemeinsame Vorfahren hin. Diese ersten hypothetischen Lebewesen werden Protozellen genannt.

Wissenschaftler versuchen nun herauszufinden, wie eine funktionierende Protozelle aufgebaut sein könnte, wie die einzelnen Bausteine zusammenfanden und wie diese Bausteine wiederum unter den primitiven Reaktionsbedingungen der Urerde entstanden sein könnten.

Wahrscheinlich waren Protozellen nur ca. 0,1 µm im Durchmesser, also etwa 10- bis 100-fach kleiner als die meisten heutigen Zellen. Auf schematischen Darstellungen sind daher schon die einzelnen Atome und die daraus gebildeten Moleküle erkennbar. Das derzeit einfachste und bekannteste Modell für eine Protozelle besteht aus nur 2 Molekülklassen: Lipiden und Nukleotiden. Die Zellmembran wird aus Lipiden aufgebaut und im Inneren der Zelle befinden sich Polynukleotide (siehe Titelbild).

Die Hülle der Protozelle

Zur Klasse der Lipide gehört z. B. die Decansäure. Das Geheimnis eines solchen Moleküls ist, dass es aus zwei Teilen besteht, die sehr unterschiedliche Eigenschaften haben, aber durch eine chemische Bindung fest miteinander verknüpft sind. Der Säureteil ist sehr gut wassermischbar (wie Essigsäure), wohingegen der Decanteil nicht wassermischbar ist (wie Wachs). Gibt man solche Moleküle in Wasser, lagern sich diese selbstständig so zusammen, dass der wassermischbare Säureteil zum Wasser gerichtet ist und die nicht mischbaren Decanteile vom Wasser abgeschirmt werden. Es gibt verschiedene Gebilde, die diese Bedingung erfüllen. Es können kleine kompakte Kugeln sein (Mizellen) oder größere Zellen (wissenschaftlich Vesikel genannt), deren Wand aus einer Doppelschicht von Decansäure besteht. Der Säureteil der inneren Schicht zeigt dann nach innen und der Säureteil der äußeren Schicht nach außen, so dass sowohl im Inneren als auch außen von der kugelförmigen Zelle Wasser ist. Genau aus solchen Doppellipidschichten sind auch heute alle Zellmembranen aufgebaut. Ob eher Mizellen oder Vesikel (Zellen) bevorzugt gebildet werden, hängt von der Sorte der Lipidmoleküle und den äußeren Bedingungen ab, z. B. dem Säuregehalt des Wassers. Wichtig zu erwähnen ist, dass die Lipidmoleküle sich nur lose zusammenlagern und nicht fest miteinander verbunden sind. Innerhalb der Zellmembran tauschen sie ihre Plätze, sind ständig in Bewegung und können auch zeitweise die Zelle verlassen und in die Zellmembran einer anderen Zelle eingebaut werden. Es handelt sich sozusagen um eine "flüssige" Membran. Dadurch können kleine Nährstoffmoleküle in die Zelle eindringen. Alle diese Strukturen sind sehr klein und homogen im Wasser verteilt, so dass man sie mit dem Auge nicht sehen kann. Klar ist, dass die Bildung von Vesikeln ein normaler physikalischer Selbstorganisationsprozess ist, der keine separate Erbinformation benötigt, sondern rein durch die Eigenschaften der einzelnen Lipidmoleküle zu erklären ist. Dieser Prozess ist schon lange gut verstanden und wird in der chemischen Industrie aktiv ausgenutzt. Seife besteht ebenfalls aus solchen Molekülen und die Einlagerung von wasserunmischbarem Fett in die kugelförmigen Seifenmizellen ist dafür verantwortlich, dass wir nach dem Grillhähnchen essen wieder unsere Hände und Hemden sauber kriegen. Auch Seifenblasen lassen sich so erklären, nur dass noch Luft als dritte Komponente hinzukommt. Interessanterweise scheint die selbstständige Bildung von Seifenblasen weniger Verwunderung hervorzurufen, als dies Selbstorganisationsphänomene im Kontext der Evolution tun.

Ungeklärt war lange Zeit, wie unter milden Bedingungen Zellwachstum und Zellteilung stattfinden können. Hierzu wurden in Harvard im Labor des Nobelpreisträgers Jack Szostak faszinierende Studien durchgeführt. Seine Gruppe konnte 2009 zeigen, wie Zellen wachsen, wenn neue Lipidmoleküle in die wässrige Lösung gegeben werden. Noch wichtiger war aber zu beobachten, dass bei weiterer Zugabe lange Filamente aus der Zelle wachsen und die gesamte Zelle schließlich aus verzweigten dicken Filamenten besteht. In diesem Zustand reichen leichte Erschütterungen, um eine Teilung in mehrere kugelförmige Tochterzellen zu bewirken.4 Ein solches System erfüllt somit schon zwei Bedingungen des Lebens. Es kann Nahrung aufnehmen und es kann sich reproduzieren. Schwer vorstellbar ist allerdings wie sich eine solche Zelle weiterentwickeln könnte, da der Fortpflanzungserfolg rein von den Umgebungsbedingungen, z. B. der Nahrungszufuhr, abhängt und in keiner Form in der Zelle kodiert und an die Nachkommen weitergegeben wird. Hier kommt die zweite Komponente der Protozelle ins Spiel: Die Polynukleotide.

Selbstreplizierende Erbinformation

Wie der Name andeutet, handelt es sich bei Polynukleotiden um eine Kette aus einzelnen Nukleotidbausteinen. Da es vier verschiedene Nukleotidbausteine in diesem Modell gibt, können sie auf verschiedene Weise zu Ketten verknüpft werden. Schon eine Kette aus nur 10 Nukleotiden kann auf 410, d. h. gut eine Million Arten, verknüpft werden. Die einzigartige Verknüpfungssequenz eines Polynukleotids stellt die Erbinformation dar. Durch das Studium zellulären Lebens wurden bereits zwei eng miteinander verwandte Polynukleotide gut erforscht, DNA und RNA. Beide verwenden vier Nukleotidbausteine, die molekulare Struktur dieser Bausteine unterscheidet sich jedoch leicht. Heutige Zellen verwenden DNA zum Speichern ihrer Erbinformation, wohingegen RNA zum Übertragen von Informationen und zur Beschleunigung von chemischen Reaktionen (Katalyse) eingesetzt wird. Die Entdeckung der Katalysefunktion durch Thomas Chech und Sidney Altman wurde 1989 durch einen Nobelpreis ausgezeichnet. Diese Doppelfunktion der RNA, sprich Speicherung von Erbinformation und Reaktionsbeschleunigung, ist auch von zentraler Bedeutung für das vorgeschlagene Modell einer selbstreplizierenden Erbinformation.

Und so funktioniert die Selbstreplikation: Ein Nukleotidmolekül besteht aus drei Teilen: einer Nukleinbase, Ribose und einem Phosphat. Im Polynukleotid sind die Phosphatteile mit dem Riboseteil des nächsten Nukleotids in der Kette verknüpft, so dass sich Ribose und Phosphat im Rückgrat der Kette befinden, wohingegen die Nukleinbasen seitlich abstehen. Die korrekte Verknüpfungsreaktion zwischen einzelnen Nukleotiden zur RNA läuft aber nicht ohne Hilfestellung ab. Die Phosphatgruppe und die Ribosegruppe müssen nah zusammengebracht werden, um miteinander zu reagieren. Nun haben die seitlich von der RNA-Kette abstehenden Nukleinbasen noch eine besondere Eigenschaft. Sie bevorzugen die Anlagerung genau einer der vier Nukleinbasen. Dieser Prozess ist gut verstanden und folgt einem Schlüssel-Schloss-Prinzip. Die vier Nukleinbasen werden mit dem Anfangsbuchstaben ihres Namens abgekürzt, A für Adenin, C für Cytidin, U für Uracil und G für Guanin. Die bevorzugten Paare sind GC und AU. Man nennt diese komplementär zueinander. Nehmen wir jetzt eine kurze RNA-Sequenz aus sechs Nukleotiden von CCGUAG an. Gibt man nun eine Mischung aller vier Nukleotide in die Lösung zu unserer RNA-Sequenz, so werden sich diese entsprechend an dieser "Mini-RNA-Kette" anlagern, d. h. GGCAUC. Durch diese Anlagerung werden die Phosphatteile und Riboseteile der Nukleotide nah zusammengebracht und können sich leichter verknüpfen. So entsteht eine zweite RNA-Kette, die komplementär zur ersten ist. Bei etwas höheren Temperaturen können sich die beiden RNA-Ketten dann voneinander lösen. Das Interessante dabei ist, dass die neue komplementäre RNA-Kette natürlich auch als Vorlage für die Bildung der ursprünglichen RNA-Kette dienen kann. Somit enthält RNA nicht nur den Bauplan für eine komplementäre RNA, sondern im Prinzip auch den Bauplan für sich selbst. Nach diesem Prinzip könnten sich RNA-Ketten innerhalb von Zellen reproduzieren.

Nukleotide lagern sich über ein Schlüssel-Schloss-Prinzip an einer existierenden RNA-Kette an
Abb.: Nukleotide lagern sich über ein Schlüssel-Schloss-Prinzip an einer existierenden RNA-Kette an und reagieren miteinander, um eine komplementäre RNA-Kette zu bilden. Quelle: Jan Sütterlin. Lizenz: Public Domain.

Der Haken an der Sache ist, dass die Reaktivität der Nukleotide auch mit diesem Anlagerungsprozess immer noch nicht ausreicht, um effektiv längere RNA-Ketten zu bilden. Eine weitere Hilfestellung ist nötig und hier kommt die Doppelfunktion der RNA ins Spiel. RNA-Ketten sind nicht steif, sondern sind im Wasser wie eine Spaghetti flexibel. Schauen wir uns unsere erste Beispielsequenz CCGUAG noch einmal an, sieht man, dass die Cytidinbase am Anfang der Kette sich auch an die Guaninbase derselben RNA-Kette anlagern könnte, so dass sich ein Ring bildet. Hat man nun deutlich längere Sequenzen, kann man sich vorstellen, dass sich viele solcher losen Querverbindungen durch Basenpaarung innerhalb derselben Kette bilden können, welche zu einer komplexen Knäuelbildung der "Spaghetti" führen. In diesem Knäuelzustand kann RNA auch als Katalysator wirken. Man nimmt also an, dass man für die Herstellung von RNA sowohl eine RNA-Kette als "Bauplan" und Vorlage benötigt, als auch eine "geknäuelte" RNA Kette, welche bei der Verknüpfung der einzelnen Nukleotide hilft.

In der Tat hatte man 1996 RNAs gefunden, die in der Lage sind, die Bildung anderer RNA-Sequenzen zu beschleunigen.5 Die ersten Exemplare waren aber noch sehr ineffektiv und konnten nur ca. 10 Nukleotide miteinander verknüpfen. Solche kurze Sequenzen reichen aber nicht aus, um ein wiederum katalytisch aktives "Knäuel" bilden zu können. Man nimmt an, dass man hierzu mindestens 30–40 Einheiten benötigt. Außerdem hatte man lange Zeit das Problem, dass eine effiziente Verknüpfung nur an RNA-Ketten mit vielen C-Einheiten als Vorlage funktionierte. Forscher am Scripps Research Institute in Kalifornien konnten 2016 jedoch eine RNA-Sequenz finden, welche auch an C-ärmeren Vorlagen als Katalysator zur Bildung von über 70 Einheiten langen RNAs funktionierte, welche wiederum selbst als Katalysator für andere chemische Reaktionen funktionierten.6 Allerdings sind noch weitere Verbesserungen in Reaktionsgeschwindigkeit und Kompatibilität mit komplexen RNA-Sequenzen nötig, um eine vollständige Selbstreplikation zu ermöglichen. Zwar scheint dieses Ziel in greifbarer Nähe zu sein, aber wie schon einleitend erwähnt, ist das Kriterium der Reproduktion nicht ausreichend für Leben.