Chemische Evolution

Wie lebende Systeme aus toter Materie entstanden

Mutation: Die Evolution beginnt

Sehr selten kann es zu einer Fehlpaarung am Vorlage-RNA-Strang kommen. Anstatt GC, könnte eine GA-Paarung auftreten. Dadurch ist der neu gebildete RNA-Strang nicht mehr komplementär, sondern unterscheidet sich durch eine Punktmutation. In den meisten Fällen verliert die RNA dann ihre katalytische Funktion oder funktioniert schlechter als zuvor. In seltenen Fällen kann es aber vorkommen, dass die Mutation eine Beschleunigung der Selbstreplikation verursacht. Findet dieser Prozess in einer Zelle statt, kommt es in der Zelle zur Bildung einer erhöhten Anzahl von RNA-Ketten inklusive der verbesserten Variante. Teilt sich die Zelle in mehrere Tochterzellen, ist es unwahrscheinlich, dass beide Varianten zu gleichen Teilen vorliegen, so dass sich die Tochterzelle mit der erhöhten Anzahl der besseren Variante mit größerem Erfolg gegen andere Zellen durchsetzen wird, denn: Bei zu langsamer RNA-Selbstreplikation kann es vorkommen, dass eine Tochterzelle nur eine einzige RNA-Kette enthält. Dies reicht nicht aus, um den Selbstreplikationsprozess fortzusetzen und die Zelle stirbt. Nun wird auch die Bedeutung der Zelle für das Leben deutlich. Eine RNA mit verbesserter Selbstreplikation, die frei in Lösung herumschwimmt, würde schlechtere RNA-Varianten mit gleicher Wahrscheinlichkeit vervielfältigen.7 Der Prozess der natürlichen Selektion funktioniert wesentlich besser bei räumlicher Trennung von verschiedener Erbinformation.

Nun sind auch Mutationen denkbar, die nicht direkt die Geschwindigkeit der Selbstreproduktion erhöhen, sondern die Geschwindigkeit anderer chemischer Reaktionen beschleunigen können, die der Zelle beim Überleben nützlich sind. Zum Beispiel könnten auch RNA-Ketten entstehen, die die Herstellung der Lipidmoleküle aus einfacheren Bausteinen ermöglichen. Dadurch könnte die Zelle auch in Umgebungen überleben, wo keine fertigen Lipidmoleküle vorliegen. Das gleiche ist denkbar für die vier Nukleotide. In späteren Evolutionsstufen könnten andere Sorten von Lipiden hergestellt werden, die zuvor gar nicht verfügbar waren, und helfen die Zellmembran stabiler zu machen. Die Synthese von Farbstoffmolekülen, welche sich in die Zellmembran einlagern, um Sonnenlicht in Wärme umzuwandeln, könnte als zusätzliche Energiequelle für chemische Reaktionen dienen. Man sieht: es gibt unendlich viele Möglichkeiten um einen rapiden Komplexitätszuwachs zu erklären!

Die Protozelle ist sowohl fähig zur Metabolismus und Reproduktion als auch zu Mutation und erfüllt damit alle Kriterien für Leben. Die Entstehung der ersten Protozelle wirft aber weitere Fragen auf.

Woher kommt das erste Polynukleotid und wie kommt es in die Zelle?

Der aufmerksame Leser möchte vermutlich noch wissen, wie die Nukleotide und erst recht Polynukleotide, also die RNA, in die Zelle kommen. Auch hierfür gibt es plausible Erklärungen. Wie bereits erwähnt, sind die Lipide in der Zellmembran nicht fest miteinander verknüpft, so dass sich die kleinen Nukleotidmoleküle durch die Zwischenräume schmuggeln können. Lange RNA-Ketten hingegen können die Zellmembran nicht durchdringen. Zu einem Einschluss von RNA in eine Zelle kann es kommen, wenn ein Gemisch aus Zellen und RNA eintrocknet, wobei sich die Zellmembran öffnet und Schichten bildet. Befindet sich eine RNA-Kette zwischen diesen Schichten, kann diese bei erneutem Wasserkontakt in eine neugebildete Zelle eingeschlossen werden.8

Wenn die vollständige Selbstreplikation von RNA-Ketten aus den einzelnen Nukleotidbausteinen ausschließlich mit Hilfe einer besonderen katalytisch wirkenden RNA-Kette funktionieren kann, lässt sich nicht erklären wie die dafür mindestens notwendigen zwei RNA-Ketten entstanden sind. Aus diesem Grund muss dem oben beschrieben Mechanismus noch eine einfachere Möglichkeit der Selbstreplikation vorausgegangen sein. Hierfür wird angenommen, dass die Nukleotide in einer energiereicheren "aktivierten" Form vorlagen, die sich aufgrund eines leicht abspaltbaren Teils (Abgangsgruppe) einfacher verknüpfen lässt. Für solche aktivierten Nukleotide konnte gezeigt werden, wie lange zufällige Sequenzen von RNA an der Oberfläche von häufig vorkommenden Silikatmineralien entstehen können.9 Die Möglichkeit der Selbstreplikation wiederum, d. h. die Entstehung von komplementären Ketten direkt an der bereits existierenden Vorlage, wurde in Wasser-Eis-Gemischen beobachtet.10 Wenn Wasser anfängt zu gefrieren, werden gelöste Bestandteile in der verbleibenden flüssigen Phase aufkonzentriert und können so einfacher miteinander reagieren.

Woher kommen Lipide und Nukleotide?

Schließlich bleibt natürlich die Frage, wie die bisher genannten Grundbausteine, also Nukleotide und Lipide, entstanden sind. 1998 konnte gezeigt werden, dass sich Lipide, darunter auch die bereits genannte Decansäure, im Labor aus in Wasser gelöstem Kohlenstoffmonoxid und Wasserstoff unter hohem Druck und Temperatur bilden können.11 Genau wie bei der RNA-Herstellung wurden hier gewöhnliche Silikatmineralien hinzugegeben, an deren Oberfläche die Reaktionen stattfanden. Die beschriebenen Reaktionsbedingungen für die Lipidsynthese sind charakteristisch für hydrothermale Quellen wie beispielsweise Geysire. Allerdings entstehen die Lipide hier in zu kleinen Konzentrationen, um sich zu Mizellen zusammenzufinden. Bricht der Geysir aus, könnten Wassertröpfchen mit Lipiden über weite Strecken transportiert werden. Unterwegs oder am Zielort können diese durch Verdunstung aufkonzentriert werden, so dass schließlich Mizellen entstehen.

Einer der größten Forschungserfolge im letzten Jahrzehnt konnte bei der Nukleotidsynthese gefeiert werden. Die Entstehung der Nukleotide unter den primitiven Bedingungen der Urerde wurde lange Zeit als Unmöglich betrachtet und als Hauptkritikpunkt gegen die in diesem Artikel beschriebene Protozellenhypothese angeführt. Wie schon erwähnt, besteht ein Nukleotidmolekül aus drei Teilen. Der entscheidende Teil für die Unterscheidung der vier in der RNA vorkommenden Nukleotide ist der Teil der Nukleinbase (Adenin, Cytidin, Uracil und Guanin). Der Ribose- und Phosphatteil sind bei allen identisch. Alle Teile sind auch als eigenständige Moleküle gut bekannt und um den Aufbau der RNA zu beschreiben, ist diese Unterteilung nützlich. Diese tradierte Sichtweise hatte allerdings zur Folge, dass man lange vergeblich versuchte, die Nukleotide aus eben diesen drei Teilen herzustellen. Erstens existierte kein plausibler Weg, die Nukleinbasen alleine in vernünftigen Ausbeuten herzustellen, zweitens ist der Riboseteil alleine extrem instabil und drittens gelang es nie in zufriedenstellender Weise, Ribose und die Nukleinbase an der richtigen Stelle miteinander zu verknüpfen.12 2009 gelang es dem Doktoranden Matthew Powner in der Arbeitsgruppe von Jack Szostak erstmalig eine plausible Syntheseroute für die Cytidin- und Uracil-haltigen Nukleotide zu zeigen.13 Das Faszinierende daran ist, dass die Synthese erstens mit einfachsten Rohstoffen startet, die keiner weiteren Rechtfertigung bedürfen, und zweitens, dass weder freie Ribose, noch die freie Nukleinbase in einem der Reaktionsschritte auftauchen. Ein plausibler Mechanismus für die Entstehung aller vier Nukleotide, d. h. auch der Adenin- und Guanin-haltigen Nukleotide, wurde noch nicht gefunden, aber man hofft, durch ähnliche Perspektivwechsel einen Weg zu finden. Mittlerweile sind auch deutsche Forscher wie Prof. Thomas Carell von der LMU München mit wichtigen Beiträgen am Rennen um den Durchbruch beteiligt.14 Man drückt die Daumen.

So what?

Der in diesem Artikel skizzierte Mechanismus wird derzeit in der wissenschaftlichen Community als am Wahrscheinlichsten eingestuft. Natürlich gibt es zahlreiche alternative oder ergänzende interessante Modelle, wie z. B. selbst-replizierende Peptide oder die Entstehung des Lebens außerhalb der Erde (Panspermia-Hypothese). Diese Überlegungen stehen im gesunden wissenschaftlichen Wettstreit miteinander und sollen hier nicht diskreditiert werden. Vielmehr geht es darum, dem Leser zu verdeutlichen, dass eine kohärente naturwissenschaftliche Lösung dieser Fragestellung sehr gut vorstellbar ist und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch gefunden wird.

1543 publizierte Kopernikus seine Theorie vom Heliozentrismus. Damit stand die Erde nicht mehr im Mittelpunkt unseres Sonnensystems. Giordano Bruno spekulierte 1584, dass die Sterne andere Sonnen sein könnten, die ebenfalls Planeten besitzen. Er wurde daraufhin von der Inquisition 1600 auf dem Scheiterhaufen verbrannt, aber seine Hypothesen wurden von späteren Astronomen bestätigt. Nun war auch die Sonne nicht mehr Mittelpunkt des Universums. 1859 publizierte Charles Darwin "The Origin of Species". Es wurde klar, dass der Mensch eine Trockennasenaffenart ist und nicht etwa die Krone der Schöpfung. All diese Erkenntnisse wurden zunächst als Kränkung empfunden und hatten es daher (und haben es teilweise noch immer!) schwer akzeptiert zu werden. Wir sollten uns darauf vorbereiten, dass die Entschlüsselung des Ursprungs des Lebens eine vergleichbar heilsame Revolution unseres Selbstverständnisses zur Folge haben wird.


Literaturverzeichnis

  1. А. И. Опарин, Произхождение жизни, Москва: М. МОСКОВСКИЙ РАБОКИ, 1924.
  2. A. I. Oparin, Die Entstehung des Lebens auf der Erde, Berlin: Volk und Wissen Verlag Berlin-Leipzig, 1949, p. 245.
  3. H. Rauchfuß, Chemische Evolution und der Ursprung des Lebens, Berlin Heidelberg: Springer, 2005.
  4. T. F. Zhu und J. W. Szostak, "Coupled growth and division of model protocell membranes", Journal of the American Chemical Society, Bd. 131, Nr. 15, pp. 5705–5713, 2009.
  5. E. H. Ekland und D. P. Bartel, "RNA-catalysed RNA polymerization using nucleoside triphosphates", Nature, Bd. 382, pp. 373-376, 1996.
  6. D. P. Horning und G. F. Joyce, "Amplification of RNA by an RNA polymerase ribozyme", Proceedings of the National Academy of Sciences, Bd. 113, Nr. 35, pp. 9786–9791, 2016.
  7. J. W. Szostak, D. P. Bartel und L. Luisi, "Synthesizing Life", Nature, Bd. 409, pp. 387-390, 18 January 2001.
  8. D. W. Deamer, "Membrane Compartments in Prebiotic Evolution", in s The Molecular Origins of Life, Cambridge, Cambridge University Press, 1998, p. 189.
  9. J. P. Ferris, "Montmorillonite-catalysed formation of RNA oligomers: the possible role of catalysis in the origins of life", Philosophical Transactions of the Royal Society B, Bd. 361, pp. 1777–1786, 29 October 2006.
  10. J. Attwater, A. Wochner, V. B. Pinheiro, A. Coulson und P. Holliger, "Ice as Protecellular Medium for RNA replication", Nature Communications, Bd. 1, pp. 1–9, 21 September 2010.
  11. M. M. Thomas, G. Ritter und B. R. T. Simoneit, "Lipid Synthesis Under Hydrothermal Conditions by Fischer- Tropsch-Type Reactions", Origins of life and evolution of the biosphere, Bd. 29, pp. 153–166, March 1999.
  12. S. Islam und M. W. Powner, "Prebiotic Systems Chemistry: Complexity Overcoming Clutter", Chem, Bd. 2, Nr. 4, pp. 470–501, 13 April 2017.
  13. M. W. Powner, B. Gerland und J. D. Sutherland, "Synthesis of activated pyrimidine ribonucleotides in prebiotically plausible conditions", Nature, Bd. 459, pp. 239–242, 2009.
  14. S. Becker, I. Thoma, A. Deutsch, T. Gehrke, P. Mayer, H. Zipse und T. Carell, "A high-yielding, strictly regioselective prebiotic purine nucleoside formation pathway", Science, Bd. 352, Nr. 6287, pp. 833–836, 13 May 2016.
  15. "What Is the RNA World Hypothesis?", Stated Clearly, August 2016. (Online.) Available: http://statedclearly.com/videos/RNA-World/. Zugriff am 9. Juni 2018.
  16. "Replicase ribozyme movie", Online. Available: http://exploringorigins.org/resources.html. Zugriff am 9. Juni 2018.

Vgl. auch unseren Artikel: Ursprünge des Lebens – Schöne RNA-Welt