Interview mit dem neuen KORSO-Vorsitzenden Dr. Rainer Rosenzweig

"Miteinander reden statt übereinander!"

Der Wahrnehmungspsychologe Dr. Rainer Rosenzweig (50) wurde auf der letzten Ratsversammlung des Koordinierungsrats säkularer Organisationen (KORSO) von den Delegierten der Mitgliedsorganisationen zum Vorsitzenden gewählt. Inge Hüsgen sprach mit ihm über die Situation und die Zukunft des säkularen Spektrums in Deutschland.

hpd: Der KORSO versteht sich als Zusammenschluss säkularer Organisationen in Deutschland. Diese engagieren sich ohnehin bereits für ihr Anliegen. Was kann der Koordinierungsrat, was sie nicht können?

Dr. Rainer Rosenzweig: Das, was der Name schon ausdrückt: koordinieren. Gegen Ende des letzten Jahrtausends zeichnete sich immer deutlicher ab, dass die in Deutschland vorliegende organisatorische Zersplitterung der säkularen Szene dazu führte, dass auch die Ziele der einzelnen Organisationen im Detail eher auseinanderliefen als konvergierten. Der offensichtliche Bedeutungsverlust der religiösen Institutionen, der bis heute anhält, führte also nicht automatisch zu einer Stärkung der Interessen säkularer Menschen. Stattdessen verbrachten die Vertreter säkularer Organisationen bis in die 1990er Jahre viel wertvolle Zeit damit, sich misstrauisch zu beäugen und gegenseitig zu blockieren.

Dies hat 2000 zur Gründung einer "Sichtungskommission" geführt, die dann 2008 in den Koordinierungsrat KORSO mündete. Seitdem besitzen die säkularen Organisationen eine Plattform sich auszutauschen, die Interessen des anderen (Verbandes) kennenzulernen und sich gegenseitig zu respektieren, ohne die eigenen Interessen dabei hintanstellen zu müssen. Das war neu und stieß anfangs und bis vor kurzem bei einigen Funktionären auf große Skepsis und gelegentlich sogar auf erheblichen Widerstand. Es erweist sich aber inzwischen als großer Fortschritt gegenüber der Situation, die wir Ende des 20. Jahrhunderts in Deutschland hatten: Statt übereinander reden die Verbandsvertreter mittlerweile miteinander.

Erklärtes Ziel des KORSO ist es, "die Gleichbehandlung der Konfessionsfreien und ihrer Gemeinschaften mit den Religionsgesellschaften durchzusetzen". Tatsächlich sind über ein Drittel der Menschen in Deutschland konfessionsfrei, dennoch engagiert sich nur ein Bruchteil von ihnen in den Organisationen des KORSO. Welche Gründe vermuten Sie?

Der individuelle Zusatznutzen einer Mitgliedschaft wird heutzutage eher gering geschätzt. Die Früchte des kulturellen Säkularisierungsprozesses lassen sich ja auch genießen, ohne organisiert zu sein, Dienstleistungen lassen sich auch selektiv einkaufen, ohne Mitgliedschaft. Und punktuelles Engagement – etwa für den Natur- und Umweltschutz – kann man auch aufscheinen lassen, ohne irgendeine Organisation pauschal zu unterstützen. So erwirbt man für sich selbst das gute Gefühl drüber zu stehen, während man in Wahrheit draußen steht.

Parteien, Gewerkschaften, (Sport-)Vereine spüren dieses Phänomen, Weltanschauungsverbände natürlich erst recht, selbst die Kirchen können davon ein Lied singen – wobei dort noch ganz andere Faktoren hinzukommen: zum Beispiel die unerträglichen Missbrauchsskandale, die nicht mehr hinnehmbaren religiösen Diskriminierungen im Arbeitsrecht und die unzeitgemäße Bevorzugung der beiden Großkirchen durch den weltanschaulich neutralen Staat.

Die drei genannten Beispiele werden übrigens von Mitgliedsorganisationen des KORSO kreativ und engagiert mit kritischem Blickwinkel in die Öffentlichkeit gebracht: Der Missbrauchsskandal etwa durch das Projekt zahlengesichter.info des bfg Bayern, die Diskriminierung am Arbeitsplatz durch GerDiA (Seite befindet sich gerade im Wiederaufbau, demnächst wieder mit Inhalt!) und die staatliche Bevorzugung kirchlichen Belange durch die aktuelle Säkulare Buskampagne.

Kann man gegen die schwache Organisiertheit des säkularen Spektrums angehen?

Auf der einen Seite dürfen die Verbände natürlich nicht nachlassen, für neue Mitglieder zu werben. Der KORSO unterstützt seine Mitgliedsverbände darin, indem er die Verbände in seinen Veröffentlichungen bekannt macht und auf seiner Homepage die Regionalstrukturen der Mitgliedsorganisationen darstellt, sodass Interessierte nachsehen können, welche säkularen Verbände in ihrem Bundesland vor Ort aktiv sind.

Doch wenn man das oben skizzierte Phänomen unserer Zeit ernst nimmt, wird das nicht ausreichen. Die Mehrheitsverhältnisse sind – gemessen an den Mitgliederzahlen – trotz der kirchlichen Austrittswelle noch immer zugunsten der religiösen Institutionen gewichtet. Dass überhaupt eine (nur noch knappe) Mehrheit der Menschen in Deutschland als Mitglied einer der beiden Großkirchen registriert ist, hat aber nicht etwa den Grund, dass so viele auch aktiv beigetreten sind. Die allermeisten davon wurden ja bereits kurz nach der Geburt "zwangskonfessionalisiert", ohne selbst eine Willenserklärung dazu abgegeben zu haben. Die "Kindstaufe" als nützliches Mitgliederbeschaffungsinstrument ist säkularen Organisationen jedoch schon aus grundsätzlichen Erwägungen heraus fremd.

Würde man hingegen auf einen Schlag die Konfessionszugehörigkeiten in unserer Gesellschaft neu – und damit ehrlicher als bisher – organisieren, und zwar so, dass Mitglied nur werden kann, wer sich aktiv und als erwachsene(r) mündige(r) Bürger(in) dazu aufrafft, einen für sich passenden Weltanschauungsverband auszusuchen, einen Mitgliedsantrag zu organisieren, diesen auszufüllen und abzuschicken, dann würde das Mehrheitsverhältnis zwischen religiösen und säkularen Interessenvertretungen vermutlich ganz anders aussehen. Selbst wenn das – aufgrund jahrhundertelanger Ungleichheit der finanziellen Ausstattung und regionaler Vernetztheit ihrer Institutionen – noch lange keine gesellschaftliche Gleichheit herstellen würde, wäre das doch ein deutlich faireres Verfahren, wie mir scheint.

A propos: Wie sind Sie selbst zum säkularen Denken gekommen?

Ich war bis ins Jugendalter hinein evangelisch sozialisiert und habe mich dann in einem Jahre andauernden Prozess aus dem religiösen Glauben "hinausgedacht". Bis ich – Jahre später, erst im Laufe meines Studiums – Kontakt zu gleichgesinnten Menschen in säkularen Verbänden gefunden hatte, war ich mit meiner religionsbefreiten Einstellung weitestgehend allein und auf mich gestellt. Es gab damals (in den 1980er Jahren) noch Milieus, in denen es kaum denkbar war, nicht einer der beiden Großkirchen anzugehören – so etwas fand dort einfach nicht statt, war viel zu wenig bekannt. Dank der globalen Vernetzung junger Menschen ist das heute zum Glück anders.

Wo sehen Sie den KORSO, wo die säkulare Bewegung in fünf Jahren?

Das hängt ganz davon ab, ob sich der begonnene Ausdifferenzierungsprozess im säkularen Spektrum fortsetzt oder ob es einen Rückfall in die gegenseitigen Blockierungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte geben wird.

Das muss ich präzisieren: In den säkularen Verbänden gab und gibt es auch heute noch immer wieder vereinzelte Platzhirsche unter den Verbandsfunktionären, die die Partikularinteressen des eigenen Verbandes über alles andere stellen. Diese Haltung muss zwangsläufig dazu führen, gemeinsame Interessen und Aktivitäten zu blockieren und zugunsten der eigenen Verbandsinteressen zu bekämpfen. Denn Gemeinsamkeit bedeutet Kompromiss, Abstimmung und manchmal auch punktuelles Zurückstecken der Eigeninteressen zugunsten eines wichtigen, gemeinsam verfolgten Ziels. Dieses wird dann aber eben auch nicht alleine definiert, sondern ist in der Pluralität des gesamten säkularen Spektrums abzustimmen. Die oben erwähnte Ausdifferenzierung besteht darin, dass – meiner Wahrnehmung nach – im KORSO allmählich diejenigen versammelt bleiben, die sich dieser gemeinsamen Herausforderung stellen.

Nach meinem Eindruck hat das säkulare Spektrum derzeit die historische Chance, Jahrzehnte alte Grabenkämpfe zu überwinden und einen vorsichtigen nächsten Schritt zu gehen. Es war bisher Politik des KORSO, dies behutsam zu moderieren. So haben die Mitgliedsverbände im KORSO in drei Strategietagungen der letzten sechs Jahre ihre Positionen koordiniert: 2014 wurden in Kassel die Positionen der säkularen Mitgliedsverbände zu 80 verschiedenen Fragen abgestimmt , 2016 haben die Verbände in Klingberg inhaltliche Schnittmengen definiert, auf denen sie künftig mit einer Stimme sprechen und gemeinsam agieren können, und 2018 wurde in Berlin erstmals über eine gemeinschaftliche PR- und Lobbyarbeit der säkularen Verbände diskutiert.

Das klingt nach kleinen Schritten, ist aber angesichts der komplexen Struktur des säkularen Spektrums in Deutschland mit vielen verschiedenen Organisationen unterschiedlichster Geschichte und Prägung mehr, als man erwarten konnte. Der oben genannte Ausdifferenzierungsprozess führt allmählich dazu, dass sich in den Verbänden diejenigen durchsetzen, die in dem eingeschlagenen Weg einen Mehrwert für die eigene Verbandsposition und für das gesamte säkulare Spektrum erkennen und sich konstruktiv in den Prozess einbringen. Hier sehe ich eine positive Tendenz, die mir Mut macht.

Diesen Weg wird der KORSO auch künftig weiterverfolgen – im Rahmen der Möglichkeiten und Ressourcen, mit dem ihn die Verbände ausstatten. Es wird also auch künftig die oberste Maxime bleiben, die Einzelinteressen der Mitgliedsverbände zu berücksichtigen und durch behutsames Agieren in definierten Schnittmengen gemeinsame Ziele nach außen zu vertreten. Inwieweit man sich künftig dabei auf die säkularen Verbände beschränken muss, das heißt inwieweit auch verbandsunabhängige Interessen säkular denkender Menschen dabei eingebunden und berücksichtigt werden können und müssen, werden künftige Diskussionen im KORSO zeigen. Ich freue mich darauf, dies konstruktiv mit den Vertreterinnen und Vertretern der Verbände und interessierten Einzelpersonen aus dem säkularen Spektrum zu diskutieren und den Entwicklungsprozess mitzugestalten.

Gelegenheit dazu soll es auf einer weiteren Klausurtagung 2020 geben. Dort wird zu prüfen sein, wie die definierten Schnittstellen der Verbandsinteressen in konkrete Politik umzusetzen sind und wie der KORSO auszustatten ist, damit er Aufgaben übernehmen kann, die sich seine Mitgliedsorganisationen von ihm erhoffen. Die dann folgende Zeit wird man dazu nutzen, Erfahrungen zu sammeln, in Ruhe rational zu analysieren und erste Folgerungen zu ziehen.

In fünf Jahren, 2024, könnten sich nach meiner Vorstellung die Mitgliedsorganisationen im KORSO dann darauf verständigen, ob sie einen Schritt weitergehen möchten – hin etwa zu einem "Zentralrat der Konfessionsfreien", der die Verbände repräsentiert, aber über sie hinausführend die Interessen aller säkular denkenden Menschen so repräsentativ wie möglich vertritt. Die demokratische Legitimation und politische Etablierung dieser neuen Struktur würde eine große Herausforderung darstellen und kann nur gelingen, wenn alle im KORSO versammelten Verbände diesen Weg unterstützen. Dies herauszufinden und dann die Rahmenbedingungen für einen passenden Kurs zu definieren, wird eine spannende Aufgabe sein, der sich der amtierende KORSO-Vorstand meiner Ansicht nach schon heute zu stellen hat.

Herzlichen Dank für das Gespräch!