Rezension

Der Islamismus als Totalitarismus der Zukunft

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 kam die Rede von einem nach Nationalsozialismus und Stalinismus kommenden "dritten Totalitarismus" (Yehuda Bauer) auf, wodurch sich die Frage stellte: Ist der Islamismus der Totalitarismus der Zukunft? Boualem Sansals Dystopie "2084" beantwortet die Frage mit einem "Ja".

Totalitarismus steht für die Formen von Diktatur, die von einer geschlossenen Ideologie, einem einheitlichen Machtzentrum und der Mobilisierung der Gesellschaft ausgehen (Juan Linz). Islamismus steht für eine Sammelbezeichnung für alle Einstellungen und Handlungen, die im Namen des Islam die Errichtung einer allein religiös legitimierten Gesellschafts- und Staatsordnung anstreben, was auf eine diktatorische Theokratie hinausläuft.

Ein entwickeltes politisches System im genannten Sinne gibt es noch nicht. Ansätze dazu fanden oder finden sich indessen in Afghanistan, im Iran oder in Saudi-Arabien. Auch gibt es islamistische Vordenker wie Sayyid Qutb, der erstens beanspruchte, die einzig wahre Islam-Interpretation zu vertreten, sie zweitens nicht nur als Glaubensweise, sondern auch als Herrschaftsordnung umsetzen wollte und drittens von den Gläubigen wie Bürgern die vollständige Unterwerfung erwartete. Auch der "Islamische Staat" baute auf dem Höhepunkt seiner Herrschaft sehr wohl staatsähnliche Strukturen auf, welche gegenüber der Gesellschaft eine Islamisierung in allen Lebensbereichen einforderten (Bärte- und Schleier-Zwang, "Scharia-Polizei etc.).

Beispielbild

Boulaem Sansals Dystopie 2084 – Das Ende der Welt von 2015 beschreibt nun eine religiös geprägte Zukunftsgesellschaft, worin aber die Bezeichnung Islam nicht vorkommt, gleichwohl darauf bezogen auf eine fiktive islamistischen Theokratie angespielt wurde. Der Autor, der in Algerien den Aufstieg des Islamismus persönlich erleben musste, stellt sich mit seinem Buch gegen die mit Predigt und Terror einhergehende Kontrolle über die Gesellschaft.

Akteure und Bezüge können so in dem fiktiven Land "Abistan" verstanden werden: "Yölah" steht für Gott, also Allah, "Abi" steht für seinen Stellvertreter, also Mohammed oder der Kalif, "Gkabul" steht für eine "Heilige Schrift" oder den Koran. Die Gegebenheiten in der fiktiven Zukunftsgesellschaft werden vermittelt einerseits durch die Beschreibung der Handlungen um die Hauptfigur "Abi" und andererseits durch die Darstellung entsprechender Gegebenheiten und Strukturen im Handlungsverlauf.

Dabei werden unterschiedliche Bestandteile einer totalitären Gesellschaft deutlich: Erstens gilt eine "Heilige Schrift" als absolute und nicht kritisierbare Grundlage für die "gemachte" Politik und damit eben auch als Legitimationsgrundlage für Unterdrückung. Es wird zweitens von der Allgegenwart und Dominanz einer herrschenden Elite ausgegangen, welche über das Deutungsmonopol der "Heiligen Schrift" verfügt, "Gerechte Brüderlichkeit" genannt wird und die Gesellschaft einer ständigen Kontrolle aussetzt. Zur Herrschaftsabsicherung bedient sich drittens die Elite der Manipulation, zum Beispiel durch die Umdeutung von Worten, der Mobilisierung, zum Beispiel durch Aufmärsche und Grußformen, und der Repressionen, zum Beispiel durch öffentliche Massenhinrichtungen. Darüber hinaus soll es viertens eine Auslöschung von Individualität in der Praxis geben, was in einer einheitlichen Kleidung (der Burni als "Uniform der Gläubigen") und der Reduzierung der Sprache auf wenige Worte zur Kommunikation deutlich werden soll.

Sansals Dystopie macht in der Gesamtschau deutlich, dass eine Gesellschaftsordnung auf islamistischer Grundlage auf eine totalitäre Herrschaft hinausläuft, dass dafür aber grundsätzliche Potentiale in Religionen an sich bestehen.