Die beiden Bonner Sozialwissenschaftler Conrad Schetter und Katja Mielke legen mit "Die Taliban. Geschichte, Politik, Ideologie" eine kurze, aber problemorientierte Einführung mit systematischer Struktur zum Thema vor. Gerade angesichts der letztgenannten Aspekte erhält man hier wichtige Einschätzungen für den Kontext und die Wirkungen, was ansonsten bei der berechtigten Empörung über die Taliban verloren geht.
In Afghanistan besteht (wieder) ein "Islamisches Emirat", erfolgte dort 2021 eine Rückeroberung durch die Taliban. Doch worum handelt es sich eigentlich bei den Gemeinten? An systematischen Darstellungen und Erörterungen dazu mangelt es in der deutschsprachigen Literatur. Mit dem von Ahmid Rashid stammenden journalistischen Standardwerk zum Thema ("Die Taliban. Afghanistans Gotteskämpfer und der neue Krieg am Hindukusch", München 2022) liegt zwar ein informatives und kenntnisreiches Werk vor. Indessen werden analytisch interessante Aspekte nicht inhaltlich strukturiert thematisiert. Ein kleines Büchlein geht hier einen Schritt weiter, klein, da es nur 128 Seiten umfasst, was einer Verlagsvorgabe entspricht. Gemeint ist "Die Taliban. Geschichte, Politik, Ideologie", geschrieben von Conrad Schetter und Katja Mielke. Ersterer ist Direktor des Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC) und Professor für Friedens- und Konfliktforschung, die Afghanistan-Expertin Mielke arbeitet im BICC als Sozialwissenschaftlerin.
Beide Autoren widersprechen bereits in der Einleitung einem verbreiteten Zerrbild: "Viel besser lassen sie sich als eine politisch-militärische Bewegung beschreiben, deren Konturen verschwommen bleiben und deren innere Strukturen klandestin, aber auch anpassungs- und lernfähig sind. Damit erscheinen die Taliban eher als ein rationaler und vor allem pragmatischer Akteur als ein ideologiegetriebenes Monster" (S. 8). Diese Einschätzung könnte zum "Taliban-Versteher"-Vorwurf führen, wie Schetter und Mielke wohl zutreffend befürchten. Darum geht es den beiden Autoren aber gar nicht: Berechtigt machen sie immer wieder auf die Ambivalenz des Handelns der "Taliban", aber auch das Problem von fehlendem gesicherten Wissen aufmerksam. "Rationaler Akteur" ist hier auch im formalen, nicht im inhaltlichen Sinne gemeint. Und die skizzierte Denkperspektive erlaubt denn auch eine viel differenziertere Einschätzung als eben eine Reduzierung auf ihr barbarisches Wirken, was gleichwohl für die Aufmerksamkeit ein Kerninhalt sein sollte.
Bereits die Einleitung veranschaulicht das Spannungsverhältnis für das Wirken, wobei die Gegensätze von "lokal vs. zentral", "pragmatisch vs. ideologisch" und "eigenständig vs. fremdgesteuert" thematisiert werden. Allein dadurch offenbart sich die Komplexität des Themas. Danach werden relevante Aspekte der afghanischen Geschichte thematisiert, wozu auch der paschtunische Dominanzanspruch oder der politische Islam gehören. Danach geht es mit historisch-chronologischem Bezug um die Entwicklung der Taliban, beginnend mit der Begründung eines "Islamischen Emirats", aber auch bezogen auf das Gastrecht für Osama bin Laden und den Kollaps des Systems nach dem 11. September. Anschließend steht die Neuorientierung in einer Oppositionssituation im Zentrum. Dabei fällt auch der Blick auf ansonsten ignorierte Gesichtspunkte, sei es das Haqqani-Netzwerk oder die Peschawar-Schura. Und dann wird auch die Rückkehr der Taliban genauer wahrgenommen.
Besondere Aufmerksamkeit erfährt danach die staatliche Struktur, wobei aber von "Parallelregierung" und "Schattenstaat" gesprochen wird. Die Autoren korrigieren auch weit verbreitete Deutungen, wie etwa die zum Drogenanbau als alleiniger Finanzierungsquelle. Und schließlich sind die ideologische Ausrichtung und die ausländischen Kooperationen noch von inhaltlicher Relevanz. Zum erstgenannten Aspekt hätte man sich indessen noch genauere Ausführungen gewünscht, ist doch nur so das Ideologie-Pragmatismus-Verhältnis besser einschätzbar. Auch die Einbettung des "Emirats" in eine Staatstypologie wäre ein noch wichtigeres Thema gewesen. Dafür findet man aber zu den Beziehungen zu Pakistan oder Saudi-Arabien viel Wissenswertes. Insbesondere bei der Einschätzung des pakistanischen Geheimdienstes und seiner Relevanz für die Taliban ist dies wichtig. Insofern hat man es in der Bilanz mit einer differenzierten und informativen Einführung in das Thema ohne vereinfachende Zerrbilder zu tun.