Widerlegung und zehn Gegenargumente

Zehn Gründe für den Religionsunterricht?

Seit dem 3. September 2019 läuft eine große Kampagne der Nordkirche für den Religionsunterricht. Der hpd hat bereits darüber berichtet. Dafür hat die Nordkirche mit mein-reli.de eine eigene Kampagnenwebsite eingerichtet, auf der sich Lehrer, Eltern und Schüler über den Religionsunterricht informieren sollen. Auf der Website findet sich die Unterseite "10 Gründe für den Religionsunterricht", deren Inhalt hpd-Autor Fabian Krahe genauer analysiert.

Ich werde zunächst die angegebenen "10 Gründe" widerlegen bzw. entkräften und anschließend diesen "Gründen" zehn Argumente gegen den konfessionsgebundenen Religionsunterricht gegenüberstellen.

Das erste Argument der Nordkirche lautet, Bildung brauche Religion. Schüler und Schülerinnen hätten ein Recht auf religiöse Bildung, dafür bräuchte es ein eigenes und eigenständiges Schulfach. Was aber ist nun religiöse Bildung? Eine umfassendere Diskussion einer Definition würde diesen Artikel leider sprengen (siehe zum Beispiel hier). Im Grunde geht religiöse Bildung aber davon aus, dass Religion eine unverzichtbare Dimension menschlichen Lebens ist, über die die Kinder gebildet werden müssten, selbstverständlich aus dem Glauben heraus. Dieses Argument kann nur überzeugen, wenn man noch den lächerlich-kindlichen Vorstellungen religiösen Glaubens anhängt. Aber selbst dann nur bedingt, denn solche Bildung muss nicht im Rahmen des konfessionsgebundenen Religionsunterrichts vermittelt werden. Es ist auch im Religionskundeunterricht möglich und es gibt ohnehin in den großen Religionsgemeinschaften einen Religionsunterricht (Konfirmandenunterricht etc.) außerhalb der Schule.

Die Nordkirche bringt als zweites Argument an, der Religionsunterricht helfe bei "Entwicklung und Unterstützung" einer "persönlichen Identität" und der "Fähigkeit, mit unterschiedlichen Überzeugungen und vielfältigen Lebensformen umzugehen". Dafür bräuchte es eine "Auseinandersetzung mit Fragen von Religion und Glauben." Aber ist dafür der Religionsunterricht am geeignetsten? Die Beschäftigung mit "unterschiedlichen Überzeugungen und vielfältigen Lebensformen" geschieht aus der Sicht des religiösen Bekenntnisses. Daher erfolgt die Beschäftigung immer aus einer wertenden Perspektive heraus, die ohnehin stark zeitgeistabhängig ist. Außerdem fehlt die gleichberechtigte Auseinandersetzung mit über 2.500 Jahren philosophischen Denkens, was zur Biasbildung geradezu einlädt. Dahinter steckt wohl die Annahme, man müsste Kindern bereits ein eigenes festes religiöses Gerüst mitgeben, damit sie mit anderen Überzeugungen und Lebensformen umgehen können.

Das dritte Argument lautet, "Kunst und Kultur, Gesellschaft und Verfassung Deutschlands sind ohne Kenntnisse der Religionen und insbesondere der christlichen Religion nicht zu verstehen." Das Argument hat schon mehr als hundert Jahre auf dem Buckel und es wird nicht besser. Ich möchte auch gar nicht verneinen, dass eine Kenntnis von Religion hilfreich ist, um vieles in Kunst und Kultur zu verstehen, aber diese Grundlagen sollten ohnehin in einem fundierten Geschichtsunterricht vermittelt werden – ich weiß, das ist de facto oft nicht der Fall, aber so sollte es sein – und außerdem gilt auch hier, dass der Religionskundeunterricht, in dem dieses Wissen nicht aus wertender Perspektive vermittelt wird, deutlich angemessener ist. Zuletzt sei noch gesagt, dass in der Aufzählung das Wort "Verfassung" herzlich wenig zu suchen hat. Für deren Verständnis ist vielmehr eine fundierte geschichtliche und politische Bildung vonnöten, denn mit Religion hat sie herzlich wenig zu tun. Ihre Grundlagen sind vielmehr in einem vielhundertjährigen Kampf gegen die christliche Religion erstritten worden. Wie könnten also die säkularen Grundlagen unserer Verfassung in einem religiösen Unterricht ernsthaft vermittelt werden?

Viertens argumentiert die Nordkirche, Religionsunterricht gehöre "als ordentliches Unterrichtsfach zum Fächerkanon der öffentlichen Schule, damit für Schülerinnen und Schüler das Recht auf positive Religionsfreiheit gewährleistet wird." Niemand hindert einen Schüler oder eine Schülerin daran, sich zu einer Religion zu bekennen oder an Gottesdiensten teilzunehmen. Denn daraus besteht Religionsfreiheit nach Artikel 4 GG. Diese von der Existenz eines Religionsunterrichts für Kinder abhängig zu machen, ist unredlich. Weiterhin heißt es von Seiten der Nordkirche: "Gleichzeitig ist die Freiheit derjenigen Schülerinnen und Schüler zu wahren, die nicht am Religionsunterrichtteilnehmen [sic] möchten; für sie wird das Fach 'Werte und Normen' in den weiterführenden Schulen eingerichtet." Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich. Das Fach "Werte und Normen" gibt es nur in Niedersachen, welches nicht zum Gebiet der Nordkirche gehört. Außerdem läuft dort schon seit einiger Zeit ein Pilotprojekt, in dem "Werte und Normen" bereits in der Grundschule unterrichtet wird. Es ist ein Ersatzfach für den Religionsunterricht, solche Ersatzfächer gibt es auch in den Bundesländern der Nordkirche, jedoch heißen diese nicht "Werte und Normen", sondern "Philosophie" in Hamburg und Schleswig-Holstein und "Philosophieren mit Kindern" in Mecklenburg-Vorpommern. Wenn nun das Fach "Werte und Normen" in den weiterführenden Schulen eingerichtet werden soll, wozu ich keine Pläne finden konnte, weil ja bereits Ersatzfächer bestehen, heißt das dann, das Recht auf negative Religionsfreiheit greift erst ab der fünften oder siebten Klasse? Es ergibt für mich keinen Sinn.

Unter Punkt fünf argumentiert die Nordkirche mit dem "gesellschaftlichen Zusammenleben". "Das Zusammenleben in einer multireligiösen und multikulturellen Gesellschaft gelingt nur, wenn Kenntnisse der eigenen wie anderer Religionen und Kulturen beiden einzelnen Personen gegeben sind. Der Religionsunterricht vermittelt die dafür notwendigen Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen." Auch hier ist der Religionskundeunterricht wieder die angemessenere Lösung, wenn überhaupt. Denn es gibt auch so etwas wie einen Gemeinschaftskunde- bzw. Sozialkundeunterricht, in dem solche Fragen Platz haben. Außerdem sollten wir uns vor Augen führen, dass in Hamburg über 50 Prozent der Bevölkerung gar nicht mehr Mitglied einer Religionsgemeinschaft sind. In Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern sind die Zahlen noch nicht so hoch, die Konfessionsfreien stellen aber in allen Bundesländern der Nordkirche die größte Gruppe. Diese größte Gruppe findet im Religionsunterricht aber gar nicht ihren Platz.

Nach Punkt sechs schafft der Religionsunterricht "die Grundlage für Toleranz, Respekt und ein Leben mit Differenzen." Im Umkehrschluss heißt das doch, ohne Religionsunterricht werden die Schüler intolerant, respektlos und können nicht mit Differenzen leben. Jeder sieht sofort, dass dies nicht stimmt. Diese Grundlage muss also von woanders herkommen. Aufgeführt sind hier nämlich nicht christliche Werte, sondern originär humanistische Werte, die jedem Menschen zu eigen sind, sofern sie ihm nicht in der Kindheit aberzogen wurden oder besondere physische oder psychische Bedingungen vorliegen.

Das siebte Argument lautet, im Religionsunterricht würden Schülerinnen und Schüler lernen, "durch den Dialog mit anderen eigene Standpunkte zu entwickeln und andere zu verstehen." Ein absolutes Nicht-Argument, schließlich sollten sie das in jedem Schulfach einüben, insbesondere in Deutsch, Politik, Gemeinschaftskunde und Geschichte. Dafür braucht es keinen Religionsunterricht. Wenn überhaupt ist dies ein Argument für den Philosophieunterricht, denn dies ist die Disziplin, die sich seit Jahrhunderten mit dem richtigen Argumentieren beschäftigt.

Mit Grund acht wird die Nordkirche wieder erkennbar religiöser: "Der Religionsunterricht lebt von der für alle erkennbaren Position des Faches und der Unterrichtenden: im Zentrum der religiösen Bildung steht nach evangelischem Verständnis die Rede von Gott. Auf dieser Grundlage lädt der Religionsunterricht zur kritischen Auseinandersetzung ein." Doch wie kritisch kann eine Auseinandersetzung in einem Unterrichtsfach sein, in dem der Religionslehrer unhinterfragbare Glaubenswahrheit lehren soll? Zumal der Lehrer von etwas redet – Gott – das gar nicht existiert. Da sollten wir besser "Game of Thrones" als Unterrichtsfach einführen, da können immerhin alle Schüler mitreden.

In Grund neun heißt es, der Religionsunterricht erziehe "zur Bereitschaft, Verantwortung für sich selbst und für andere zu übernehmen. Er vermittelt die dazu notwendigen Normen und Werthaltungen und eröffnet Zugänge zu einem Gemeinwesen orientierten Auftreten und Engagement." Die von der Nordkirche angegebenen Gründe weisen Redundanzen auf, von daher wieder der Hinweis auf Gemeinschaftskunde und Vergleichbares. Es sei aber nochmals ausdrücklich gesagt, dass die christlichen Werte und Normen nicht für ein Zusammenleben in unserer modernen Gesellschaft taugen. Unsere moderne Gesellschaft basiert auf humanistischen Werten und den Idealen der Aufklärung und das sollte auch entsprechend gelehrt werden. Volker Dittmar hat dazu einen hörenswerten Vortrag gehalten:

Der zehnte und letzte Grund der Nordkirche für den Religionsunterricht lässt mich etwas ratlos zurück: "Der Religionsunterricht lehrt den Umgang mit Gelingen und Erfolg genauso wie mit Schuld und Scheitern." Aber warum führt die Nordkirche hier nicht das Konzept von Schuld, Sünde und Sühne auf, ist es doch ein originär christliches Konzept, welches als einziges mir verständlich macht, warum die Nordkirche meint, der Religionsunterricht sei wichtig für den Umgang mit Erfolg und Scheitern?

Soweit also die zehn "Gründe" für den Religionsunterricht der Nordkirche. Ich konnte unter diesen zehn Argumenten nicht eines finden, das für mich überzeugend und nachvollziehbar war. Tatsächlich spricht aber einiges gegen einen Religionsunterricht in der Schule:

  • Erstens werden durch den konfessionsgebundenen Religionsunterricht der Klassenverband und damit die Schüler aufgeteilt, sodass eine Spaltung unter ihnen entsteht. Das spricht im Übrigen auch gegen Lebenskunde. Es trifft auch nur bedingt auf den Hamburger "Religionsunterricht für alle" zu, der im Klassenverband unterrichtet wird und an dem fast alle Schüler teilnehmen. Mit dem "Religionsunterricht für alle" gibt es aber noch ganz andere Probleme, zum Beispiel die mangelnden Grundgesetzkonformität.
  • Zweitens werden Kinder, die in der Mehrheit aus kaum religiösen Haushalten kommen, missioniert. Dies ist dem Konzept der Inneren Mission vergleichbar.
  • Drittens werden Kinder durch die Teilnahme am Religionsunterricht gezwungen, sich zu ihrem Glauben zu bekennen. Dies steht im Widerspruch zu dem Recht, genau dies nicht tun zu müssen.
  • Viertens lernen Kinder im Religionsunterricht nichts über die säkularen und humanistischen Grundlagen unseres Staatswesens und unserer Gesellschaft. Wenn überhaupt werden diese Grundlagen der christlichen Religion zugeschrieben. Das ist intellektuell unredlich.
  • Fünftens bietet der Religionsunterricht keinen adäquaten Raum, um wirkliche Religionskritik zu üben; höchstens in apologetischer Absicht.
  • Sechstens wissen wir, dass Kinder, denen in jungen Jahren Glaubenswahrheiten als Wirklichkeit beigebracht werden, später größere Schwierigkeiten haben, zu unterscheiden, was Realität und was Phantasiegeschichten sind.
  • Siebtens bedeutet dies, dass durch den Religionsunterricht Obskurantismus und magisches Denken gefördert werden. Dies steht den Erfordernissen und Gegebenheiten moderner Gesellschaften entgegen.
  • Achtens bedeutet die einseitige Beschäftigung mit Religion, dass den Kindern die Errungenschaften von über 2500 Jahren Aufklärung und kritischer Philosophie vorenthalten werden. Sie bilden die Grundlage moderner Gesellschaften und modernen gesellschaftlichen Zusammenlebens.
  • Neuntens ist der einzige überzeugende Grund für den Fortbestand theologischer Fakultäten an Universitäten der konfessionsgebundene Religionsunterricht. Denn die Fakultäten werden dafür gebraucht, Religionslehrer auszubilden. Fällt der Religionsunterricht fort, fallen auch die theologischen Fakultäten. Hierzu sei gesagt, dass Theologie unwissenschaftlich ist und die Existenz von theologischen Fakultäten mit Grundrechtsverletzungen einhergeht (Siehe dazu: Theologie ist keine Wissenschaft).
  • Und zehntens sollte im Sinne einer laizistischen Trennung von Staat und Kirche die Schule ein weltanschaulich neutraler Ort sein.