Entgegen dem Volksentscheid von 2009:

Religion soll Wahlpflichtfach in Berlin werden

pro_reli.png

Abstimmungswerbung für und gegen das Volksbegehren (2009)
Abstimmungswerbung für und gegen das Volksbegehren (2009)

Der neue schwarz-rote Senat in Berlin ist noch nicht einmal im Amt und sorgt bereits für den ersten Aufreger. So soll Religion als Wahlpflichtfach eingeführt werden; entgegen der Tradition der Stadt und auch entgegen der Ergebnisse aus dem "Pro-Reli"-Volksbegehren, das im Jahr 2009 zeigte, dass die Berliner Bevölkerung genau das nicht möchte.

Unscheinbar und fast zu übersehen finden sich auf Seite 42 des 136 Seiten langen Koalitionsvertrages zwischen SPD und CDU diese Zeilen: "Die Koalition strebt die Einführung eines Wahlpflichtfachs Weltanschauungen/Religionen als ordentliches Lehrfach an. […] Das Fach Ethik bleibt in seiner bisherigen Form bestehen."

In Berlin ist der Religions- und auch der vom Humanistischen Verband Deutschlands Berlin-Brandenburg (HVD BB) angebotene Lebenskundeunterricht zusätzlich und freiwillig. Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts gilt für Berlin die sogenannte Bremer Klausel: diese besagt, dass Artikel 7 Absatz 3 GG ("Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach") keine Anwendung in einem Land findet, in dem am 1. Januar 1949 eine andere Regelung galt.

Dieses hochrichterliche Urteil sollte ganz offiziell im Jahr 2009 durch einen Volksentscheid gekippt werden. Nur ging das kräftig nach hinten los: "Am 26. April 2009 fand der Volksentscheid über den Gesetzentwurf statt. 713.288 (29,2 Prozent) der 2,4 Millionen Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab. Von den Abstimmungsteilnehmern stimmten 51,4 Prozent gegen die Gesetzesänderung, 48,4 Prozent befürworteten sie. Damit wurde der Gesetzentwurf abgelehnt. Mit 14,1 Prozent Ja-Stimmen der Stimmberechtigten wurde darüber hinaus das für einen erfolgreichen Volksentscheid nötige Zustimmungsquorum von 25 Prozent der Stimmberechtigten nicht erreicht." (Zitat: Wikipedia) Und das trotz tatkräftiger und finanzieller Unterstützung von Kirchen und manch eines Medien-Stars wie zum Beispiel Günther Jauch.

Auf den Bürgerwillen geht auch Philipp Möller vom Zentralrat der Konfessionsfreien ein. Dem hpd sagte er: "Wenn SPD und CDU den Religionsunterricht in Berlin zum ordentlichen Lehrfach erklären, betrügen sie Berlin um den Volksentscheid von 2009". Und weiter: "Damit wäre die Hauptstadt-GroKo schon überholt, bevor sie installiert ist – das geht ja schlecht los."

Laut Berliner Zeitung sagte die Bildungsexpertin der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, Franziska Brychcy, die Einführung stelle "einen fatalen Rückschritt für ein staatliches, zeitgemäßes Bildungsangebot dar". Die künftige CDU/SPD-Koalition müsse sich auf massiven Gegenwind der überwiegend konfessionslosen Berliner Stadtgesellschaft einstellen.

Ähnlich formulierte es der ehemalige Staatssekretär für Bildung im Senat von Berlin, Mark Rackles (SPD), gegenüber dem hpd: "Im Koalitionsvertrag mit der CDU findet religionspolitisch ein Rollback statt: gegen den Trend der Zeit und am säkularen Charakter der Hauptstadt vorbei soll Religion erstmals ein reguläres Fach der Berliner Schule werden. Zusammen mit der Schleifung des Berliner Neutralitätsgesetzes und der damit einhergehenden Freigabe religiöser Symbole in staatlichen Schulen ist das eine bedenkliche Entwicklung."

Eine bedenkliche und undemokratische Entwicklung, die selbstverständlich den Beifall der Kirchen findet. So begrüßte der Diözesanrat der Katholiken im Erzbistum Berlin das Vorhaben von CDU und SPD, ein Wahlpflichtfach Religion/Weltanschauungen einzuführen. "Wir merken, wie sehr Religion zu unserem Leben gehört und welchen Einfluss Religionen und ihre Überzeugungen auf unsere Gesellschaft haben. Daher ist auch die Vermittlung von Wissen über Religionen außerordentlich wichtig", sagte die Vorsitzende des Diözesanrats Karlies Abmeier laut katholisch.de.

Die taz kommentiert die Idee, Religionsunterricht als Schulfach einzurichten, mit den etwas zynischen Worten: "Das Berliner Schulsystem kam bisher immer ganz gut ohne Gott aus…" und weist darauf hin, dass Religionsunterricht sowieso beständig Interessent*innen verliert: "Laut Bildungsverwaltung sank die Zahl der Schülerinnen und Schüler in den vergangenen fünf Jahren um etwa 5.500 auf heute 172.326. Erstmals belegten mehr Kinder die Lebenskunde anstelle von evangelischer Religion." So sehr also gehört Religion zum Berliner Leben?

Doch Abmeier sagte weiter: "Über eine Religion Bescheid zu wissen und mit dieser Perspektive die Welt beurteilen zu können – diese Kompetenz ist für die nächsten Generationen wichtig und fördert ein tolerantes Miteinander." Genau das macht das bereits bestehende Fach "Ethik" – und ein Unterrichtsfach "Religionskunde" wäre mit Sicherheit eher verbindend als konfessioneller Religionsunterricht. Denn keine Religion – weder in der Geschichte noch in der Gegenwart – hat sich bislang besonders durch Toleranz ausgezeichnet.

Auch der Berliner Erzbischof Heiner Koch begrüßte die geplante Einführung von Religionsunterricht. Er wird bei CNA dann auch deutlicher und gibt jeden Toleranzgedanken von vornherein auf: "Zum Zusammenhalt der Gesellschaft gehört auch, dass bereits Kinder und Jugendliche eine Vertiefung der eigenen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen vornehmen…" (Hervorhebung durch die Redaktion). Der eigenen, nicht denen der anderen!

Unterstützen Sie uns bei Steady!

Hinweis der Redaktion: Der letzte Absatz des Artikels wurde am 11. April 2023 gelöscht.