"Der Deutsche Ethikrat sollte rational, evidenzbasiert und weltanschaulich neutral argumentieren, was aber durch die Überrepräsentanz kirchlicher Interessenvertreter allzu oft verhindert wird", kritisiert der Philosoph und Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung Michael Schmidt-Salomon. Die am 30. April erfolgte Neubesetzung des Gremiums habe dieses Problem keineswegs behoben, sondern eher noch verschärft.
"Dass sich die Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Ethikrates gegen Selbstbestimmungsrechte am Lebensende aussprach und für ein Gesetz votierte, das per einstimmigem Beschluss der Karlsruher Richter für verfassungswidrig erklärt wurde, ist ein Skandal, der noch nicht hinreichend thematisiert wurde", meint Schmidt-Salomon, der bei der mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts als "Sachverständiger Dritter" für die später erfolgte Aufhebung des § 217 StGB plädiert hatte. "Die Unterstützung eines verfassungswidrigen Gesetzes ist nur eines von vielen Indizien dafür, dass der Deutsche Ethikrat in seiner Funktion immer wieder versagt. Interessanterweise kommt es dazu vor allem dann, wenn religiöse Interessen im Spiel sind, wie auch die Debatten zur Knabenbeschneidung oder Präimplantationsdiagnostik gezeigt haben. In einem gewissen Ausmaß kann man solche Defizite tolerieren, aber: Wenn sich – wie im Fall der Sterbehilfe-Diskussion – herausstellt, dass die Mitglieder des wichtigsten Ethikrates des Landes mehrheitlich nicht in der Lage sind, auf dem ethischen Niveau des deutschen Grundgesetzes zu argumentieren, ist dies keine Lappalie, die man auf die leichte Schulter nehmen könnte."
Nach der deutlichen Rüge aus Karlsruhe hätte man eigentlich eine Umorientierung in der inhaltlichen Ausrichtung sowie der personellen Zusammensetzung des Ethikrates erwarten dürfen, doch die am 30. April erfolgte Neubesetzung des Gremiums weise in eine andere Richtung, führt Schmidt-Salomon aus: "Durch die Neubesetzung ist der Rat nicht pluraler, liberaler oder kompetenter geworden. Immerhin gab es 2017 neun Ethikratsmitglieder, die sich in einem Minderheitsvotum für eine Stärkung der Selbstbestimmungsrechte am Lebensende ausgesprochen hatten. Von diesen liberalen Dissidenten sind nun zwei Drittel, also sechs Personen, nicht mehr im aktuellen Ethikrat vertreten. Bei den neu hinzugekommenen Mitgliedern des Rates sind Personen mit religiös-konservativen Werthaltungen überproportional stark vertreten – Menschen, von denen man leider annehmen muss, dass sie 2017 ebenfalls für ein verfassungswidriges Gesetz votiert hätten."
Die Besetzung des Deutschen Ethikrates ist nicht repräsentativ
Nehme man die aktuellen Mitglieder des Ethikrats unter die Lupe, falle eine "gravierende weltanschauliche Schieflage" auf, so Schmidt-Salomon: "Unter den 24 Mitgliedern des Deutschen Ethikrats hat knapp die Hälfte einen eindeutig religiösen Hintergrund. Neun Mitglieder, überwiegend Theologinnen und Theologen, bekleiden Funktionen innerhalb der christlichen Kirchen oder deren Wohlfahrtsverbänden, zwei weitere vertreten den Islam oder das Judentum, nur ein einziges Mitglied des aktuellen Ethikrats, nämlich der Philosoph Julian Nida-Rümelin, hat sich in der Vergangenheit wahrnehmbar für die Interessen konfessionsfreier Menschen eingesetzt." Hinzu komme, so Schmidt-Salomon, dass es weitere Ethikratsmitglieder gebe, "die zwar keine offiziellen Kirchenfunktionen wahrnehmen, aber doch entschieden für kirchliche Positionen eintreten". Ein Beispiel hierfür sei der Jurist Steffen Augsberg, der die Anliegen radikaler "Lebensschützer" mit entsprechenden Analysen untermaure (siehe etwa diesen Beitrag in der "Zeitschrift für Lebensrecht") und der "rhetorisch äußerst geschickt für ein Verbot professioneller Freitodbegleitungen gestritten" habe – sowohl als Mitglied des Deutschen Ethikrates als auch als Prozessbevollmächtigter der Bundesregierung in dem Verfahren zu § 217 StGB vor dem Bundesverfassungsgericht.
Schmidt-Salomons Fazit: "Insgesamt muss man feststellen, dass der Deutsche Ethikrat in seiner aktuellen Zusammensetzung nicht repräsentativ für die Wertehaltungen der deutschen Bevölkerung ist (siehe hierzu auch die zahlreichen referierten Studien auf der Website der "Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland"). Er spiegelt weder die Überzeugungen der konfessionsfreien Menschen wider, die immerhin 38 Prozent der deutschen Bevölkerung stellen, noch die Überzeugungen der nominellen Kirchenmitglieder, die in ethischen Fragen von den amtskirchlichen Vorgaben mehrheitlich abweichen." Hinzu kommt für den Stiftungssprecher noch ein zweites Problem: "Bedauerlicherweise repräsentiert der Deutsche Ethikrat summa summarum auch nicht das Niveau der akademischen Debatte auf dem Gebiet der Praktischen Ethik. Zwar gibt es Ethikratsmitglieder, die sehr wohl auf der Höhe des universitären Diskurses argumentieren, aber sie bilden in dem Gremium eher eine Minderheit. Hier rächt sich, dass für die Berufung in den Ethikrat die Übereinstimmung mit parteipolitischen Präferenzen größere Bedeutung hat als die fachliche Qualifikation der jeweiligen Kandidatinnen und Kandidaten."
Was tun?
Die Giordano-Bruno-Stiftung hat bereits 2011 eine Neubesetzung des Deutschen Ethikrats gefordert, nachdem dieser eine logisch inkonsistente und weltanschaulich parteiische Empfehlung zur Präimplantationsdiagnostik (PID) abgegeben hatte. Im Zuge der parlamentarischen Neuberufung des Gremiums am 30. April sind nun ähnliche Rufe laut geworden. Die Stiftung begrüßt diese Forderungen nach Angaben ihres Sprechers ausdrücklich, ist aber skeptisch, dass sie von Erfolg gekrönt sein werden. Aus der Erfahrung, dass Appelle zu Umbesetzungen des Ethikrates ungehört im politischen Raum verhallen, sei die Giordano-Bruno-Stiftung in den letzten Jahren vermehrt dazu übergegangen, Institutionen zu gründen, welche unter anderem auch die Arbeit des Deutschen Ethikrates kritisch begleiten.
Zu nennen seien in diesem Zusammenhang vor allem das Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) sowie das Hans-Albert-Institut (HAI): "Das ifw verfasst rechtspolitische Gutachten zu aktuellen Gesetzesinitiativen und begleitet Verfahren, die zu einer Aufhebung verfassungswidriger, insbesondere weltanschaulich parteiischer Regelungen führen können. Derzeit etwa unterstützt es unter anderem die auf Basis des umstrittenen § 219a StGB verurteilte Ärztin Kristina Hänel in ihrem Verfahren, von dem wir hoffen, dass es letztlich ähnlich erfolgreich enden wird wie die Verfassungsbeschwerden zu § 217 StGB." Das Hans-Albert-Institut wiederum könne man, so Schmidt-Salomon, als einen "Kritisch-Rationalen Ethikrat" verstehen, gewissermaßen als eine "inoffizielle, nicht-staatliche Alternativorganisation" zum Deutschen Ethikrat: "Das HAI soll sich ähnlichen Themen zuwenden wie der Deutsche Ethikrat, allerdings unter einer deutlich anderen Perspektive und unabhängig von jeder parteipolitischen Beeinflussung. Die zentrale Aufgabe des Instituts wird darin bestehen, rationale, evidenzbasierte und weltanschaulich neutrale Lösungen für Probleme zu entwickeln, die aufgrund ihrer religiösen bzw. weltanschaulichen Aufladung ethisch und politisch besonders schwer zu bewältigen sind."
Ein notwendiges Korrektiv
Wie die künftige Arbeit des Hans-Albert-Instituts aussehen könnte, zeige beispielhaft die vor wenigen Wochen veröffentlichte Stellungnahme "Patientenautonomie in der Krise", mit der das Institut auf die Ad-hoc-Empfehlung des Deutschen Ethikrates zu Triage-Situationen regierte: "In der Stellungnahme des Deutschen Ethikrates gab es viele vernünftige Argumente, dennoch ging unseres Erachtens ein wichtiger Aspekt des Themas unter, nämlich dass es in einem humanen Gesundheitssystem nicht um die Verlängerung des Lebens um jeden Preis gehen sollte, sondern um das Wohl des Patienten und die Beachtung des Patientenwillens."
Natürlich sei das Anfang 2020 gegründete Hans-Albert-Institut in der Öffentlichkeit noch weitgehend unbekannt, räumt der gbs-Sprecher ein: "Die Corona-Krise hat leider verhindert, dass wir mit dem Hans-Albert-Institut so an den Start gehen konnten, wie wir es ursprünglich geplant hatten. Aber ich bin überzeugt, dass sich das Institut mit der Zeit einen ähnlich guten Ruf erwerben wird wie das Institut für Weltanschauungsrecht. Schon jetzt hat das HAI viele renommierte Expertinnen und Experten in seinen Reihen versammelt. Daher bin ich guten Mutes, dass das Institut in absehbarer Zeit als ein notwendiges Korrektiv wahrgenommen wird, das die Dinge aus einer weltanschaulich neutralen Perspektive richtigstellt, falls der Deutsche Ethikrat künftig zu ähnlich fragwürdigen Empfehlungen kommen sollte wie in der Vergangenheit."
Zusatz-Info: Problematische personelle Entscheidungen trifft die deutsche Politik nicht nur im Fall des Deutschen Ethikrates: Am vergangenen Freitag, dem 15. Mai, wurde mit Stephan Harbarth ein CDU-Politiker zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts gewählt, der 2015 für ein verfassungswidriges Gesetz (nämlich § 217 StGB) gestimmt hatte. Auf ihrer Facebookseite gab die Giordano-Bruno-Stiftung am Freitag ihrer Hoffnung Ausdruck, "dass Harbarth in seiner neuen Funktion als 'fünfter Mann des Staates' die weltanschaulich neutralen Prinzipien des Grundgesetzes höher gewichten wird als seine katholischen Glaubensüberzeugungen", was ihm als Bundestagsabgeordneter weder bei der Sterbehilfe-Debatte noch bei der "Ehe für alle" gelungen sei. Die Stiftung erinnerte in diesem Zusammenhang an einen bereits im März 2020 veröffentlichten Kommentar von Jacqueline Neumann (Koordinatorin des Instituts für Weltanschauungsrecht).
Erstveröffentlichung auf der Webseite der Giordano-Bruno-Stiftung.
13 Kommentare
Kommentare
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Was bitte haben Kirchenvertreter mit Ethik zu tun??
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Das dieser Herr Harbarth eine rückwärts gerichtete Position vertritt lässt leider erahnen, dass in Bezug auf § 217 StGB eine Änderung zu Ungunsten der Betroffenen eintreten wird.
Manfred Schleyer am Permanenter Link
Kommt Zeit, kommt (guter) Rat? Leider nicht von alleine! Danke, dass Sie dafür kämpfen.
Thomas R. am Permanenter Link
"In einem gewissen Ausmaß kann man solche Defizite tolerieren,"
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"dass die Mitglieder des wichtigsten Ethikrates des Landes mehrheitlich nicht in der Lage sind, auf dem ethischen Niveau des deutschen Grundgesetzes zu argumentieren,"
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Normative Vorstellungen aus irgendeinem Theismus zu beziehen, entspricht GENAU dem "ethischen Niveau" des Grundgesetzes. Das wird sich auch erst ändern, wenn sämtliche religiösen Bezüge aus ihm entfernt worden sind und das Wohl aller empfindungsfähigen Wesen in sein Zentrum gerückt ist.
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"Insgesamt muss man feststellen, dass der Deutsche Ethikrat in seiner aktuellen Zusammensetzung nicht repräsentativ für die Wertehaltungen der deutschen Bevölkerung ist"
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AN SICH ist das ja kein Problem, denn ein Ethikrat hat ETHISCH, also unabhängig von irgendwelchen "Wertehaltungen" zu analysieren und zu urteilen. Die ethische Denkfähigkeit Religiöser ist allerdings so stark eingeschränkt, daß Religiosität ein AUSSCHLUSSKRITERIUM für Ethikräte sein sollte.
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"Die zentrale Aufgabe des Instituts wird darin bestehen, rationale, evidenzbasierte und weltanschaulich neutrale Lösungen für Probleme zu entwickeln"
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Immer_wieder_dasselbe. Es GIBT keine "weltanschauliche Neutralität"! Auch "rationale" und "evidenzbasierte" Lösungen entspringen einer Weltanschauung, nämlich der wissenschaftlichen. Trotzdem wünsche ich dem HAI natürlich allen nur denkbaren Erfolg mit seiner Arbeit.
Marc Mathys am Permanenter Link
Unsere demokratischen, offenen Gesellschaften bestehen aus ihren aufgeklärten und eigenverantwortlichen Bürgerinnen und Bürgern.
Konrad Schiemert am Permanenter Link
Ethik und Religion schließen sich meistens gegenseitig aus, also da hilft nur eins: Den "Deutschen Ethikrat" in "Deutschen Religionsrat" umzubenennen und einen neuen Ethikrat mit religionsfreien Mi
Dieter Kaiser am Permanenter Link
Religion kennt keine Ethik, sondern nur Moral. Diese wird abgeleitet von religiösen Ueberzeugungen, die eingetrichtert wurden und die Gehirne besetzen.
Konrad Schiemert am Permanenter Link
Was ist CMT? Meinen Sie Computertomographie (CT) oder Kernspintomographie (MRT)?
Arno Gebauer am Permanenter Link
Moin,
wer eine Ethik hat, braucht keine Ethikkommission.
Viele Grüße
Arno Gebauer
Peter G am Permanenter Link
In einem Land, in dem die maßgebliche Partei die Religion im Namen trägt, darf man sich über so etwas nicht wundern. Staat und Religionen gehören getrennt, dass wusste schon Atatürk.
Gerold Hens am Permanenter Link
Bei aller berechtigter Kritik halte ich die von Herrn Schmidt-Salomon vermisste Repräsentativität für die Wertehaltungen der deutschen - oder jedweder - Bevölkerung nicht für ein besonders sinnvolles Kriterium, wen
HC Beccard am Permanenter Link
Ausgewogenheit ist Pflicht. Gremien sollten mit Vertretern/Profis vorhandener Bevölkerungsgruppe/-meinungen entsprechend Ihrer Verteilung, passend zum Thema, besetzt werden.
SG aus E am Permanenter Link
Die Besetzung des Deutschen Ethikrates ist nicht repräsentativ?
„Unter den 24 Mitgliedern des Deutschen Ethikrats hat knapp die Hälfte einen eindeutig religiösen Hintergrund.” – Das passt: Ungefähr die Hälfte der Bundesbürger* sind Mitglieder einer der beiden großen Kirchen.
„Neun Mitglieder, überwiegend Theologinnen und Theologen, bekleiden Funktionen innerhalb der christlichen Kirchen oder deren Wohlfahrtsverbänden, zwei weitere vertreten den Islam oder das Judentum, ...” – Ich zähle nur eine (Regional-)Bischöfin und zwei Lehrbeauftragte kirchlicher Hochschulen. Und wer kommt aus einem der Wohlfahrtsverbände? Ich finde niemanden.
Der Anteil muslimischen Hintergrunds entspricht demjenigen der Bevölkerung. Dass jüdischer Hintergrund vertreten ist, ist zu begrüßen in einem Land, das sich oft auf seine 'jüdisch-christliche' Tradition beruft. Möglicherweise erhält der jüdische Vertreter seine Expertise auch als Mediziner? Man soll Menschen nicht auf ihre Religionszugehörigkeit reduzieren.
Beklagt wird, die Besetzung des Deutschen Ethikrates spiegele „weder die Überzeugungen der konfessionsfreien Menschen wider, die immerhin 38 Prozent der deutschen Bevölkerung stellen, noch die Überzeugungen der nominellen Kirchenmitglieder, die in ethischen Fragen von den amtskirchlichen Vorgaben mehrheitlich abweichen”.
Die einen beklagen, dass die Konfessionsfreien nicht ausreichend repräsentiert seien – andere, dass die Kandidaten der AfD nicht gewählt wurden (1). Das Gremium ist auch ganz eindeutig 'westlastig', und bestimmte Weltanschauungen bzw. Weltbilder, wie z.B. chauvinistische und sozialdarwinistische, sind gar nicht vertreten – worüber ich persönlich sehr froh bin.
Vielleicht sollte man sich klarmachen, dass der Deutsche Ethikrat lediglich ein Beratungsgremium für Bundestag und Bundesregierung ist, das diese sich selbst wählen. Diese Freiheit, sich Berater selbst auszusuchen, sollte man respektieren. Entschieden wird letztlich im vom Volk gewählten Bundestag.
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(1) https://www.das-parlament.de/2020/18_19/wirtschaft_und_finanzen/692858-692858