Jahresbericht der Zürcher Sektenberatungsstelle InfoSekta dokumentiert Segmentierung der Sektenszene

Die Sektenlandschaft in der Schweiz hat sich verändert

Die Sektenlandschaft wurde in den letzten 20 Jahren in der Schweiz fundamental umgepflügt. Das gilt auch für Europa und weite Teile der Welt. Beherrschten früher totalitäre Großgruppen und Sektendramen die Schlagzeilen, wird die Sektenszene heute vor allem von kleinen Gruppen geprägt. Mit dem Resultat, dass Sektenthemen in den Medien nur noch selten aufscheinen.

Diese Tendenz kommt auch im Jahresbericht 2019 der Zürcher Sektenberatungsstelle InfoSekta zum Ausdruck. Die Institution, die ihr 30-jähriges Jubiläum feiert, hat die meisten Anfragen zu kleineren spirituellen und religiösen Gruppen mit problematischem Hintergrund erhalten.

Susanne Schaaf, die Leiterin der Beratungsstelle, schrieb dazu: "Die Anfangszeit war geprägt durch wenige Gruppen wie die Vereinigungskirche, die Hare-Krishna-Bewegung, die Kinder Gottes und Scientology. Die Sektendramen in den 90er Jahren (Davidianer, Sonnentempler, Õmu Shinrikyõ, Heaven’s Gate) rückten die Gefahr und das Radikalisierungspotenzial sektenhafter Gemeinschaften auf dramatische Weise ins öffentliche Bewusstsein."

In den 2000er Jahren habe sich die Weltanschauungsszene pulverisiert, erklärt Schaaf weiter. Seither stünden Anbieter aus dem Bereich Esoterik und alternative Spiritualität, dogmatische freikirchliche Milieus und psychologische Lebensberater im Fokus der Anfragen. An Bedeutung würden auch rechtsesoterische Bewegungen, Verschwörungstheorien und der Islamismus gewinnen.

Die Problematik bleibt

Die Fragmentierung der Sektenszene führte nicht dazu, dass sich die Problematik entschärft und an Brisanz verloren hat. Im Gegenteil: Die Zahl der Gesamtkontakte, die InfoSekta 2019 verzeichnet hat, stieg um volle acht Prozent auf 2.800 an.

Unrühmlicher Spitzenreiter sind die Zeugen Jehovas mit 103 Anfragen (14 Prozent). Die superfrommen Christen provozieren mit ihren fundamentalistischen Dogmen Konflikte, die vor allem Angehörige und Freunde ängstigen und verstören.

Ebenfalls Dauergast in der Hitliste von InfoSekta ist Scientology. 31 Anfragen (4 Prozent) betreffen die amerikanische Sekte. Die aggressiven Missionsmethoden und die Indoktrinationspraktiken führen immer wieder zu Konflikten.

Aktuell sollen uniformierte Scientologen Broschüren zum Coronavirus breit streuen und vorgeben, mit dem Bundesamt für Gesundheit verbunden zu sein. So berichten es mehrere Medien. Scientology bestreitet dies.

Mit je zwei Prozent folgen die große Freikirche International Christian Fellowship (ICF) (14 Anfragen), die rechtsradikale russische Gemeinschaft Anastasia (13) und Fiat Lux (12) der verstorbenen Sektenführerin Uriella.

Womit wir bei der These der Segmentierung der Sektenlandschaft wären. Denn volle 76 Prozent (539) der Anfragen bezogen sich auf unzählige Gruppen und Einzelanbieter aus dem evangelikalen Umfeld, der Esoterik (Lebensberatung, Heilung), psychologische Angebote wie Persönlichkeitstrainings, Psycho-Seminare und Direktvertriebe, wie es im Jahresbericht heißt.

Wer sucht Rat bei der Beratungsstelle? 78 Prozent aller Anfragen stammten von Privatpersonen, vor allem von Angehörigen, die sich um ein Familienmitglied sorgen, das sich immer mehr von ihnen entfremdet. (Es kommt oft zu mehrfachen Kontakten). Bei sieben Prozent handelt es sich um Aussteiger. Aktive Anhänger von Sekten erkundigen sich naturgemäß selten (2 Prozent) bei InfoSekta. Für Sekten ist die Beratungsstelle des Teufels.

Auffälliges Verhalten der Sektenmitglieder

Die große Zahl der privaten Ratsuchenden bestätigt die zentrale Problematik des Sektenphänomens: Wer frisch in die Fänge einer problematischen religiösen oder spirituellen Gruppe gerät, zeigt nach kurzer Zeit ein verändertes Verhalten, das Angehörigen und Freunden rasch auffällt. Die Lebensperspektive, das Alltagsverhalten und die primären Interessen verschieben sich.

Oft kommt es zu einer radikalen Wesensveränderung. Was früher wichtig war – Beruf, Sport, Hobby, Freunde –, wird plötzlich vernachlässigt. Solche Verhaltensänderungen, die sich in kurzer Zeit vollziehen, sind immer ein Alarmzeichen.

Junge Menschen machen zwar auch sonst Entwicklungsphasen durch, bei denen sich die Interessenlage verschieben kann, doch sie erfasst meist nur einzelne Aspekte, die sich nachvollziehen lassen. Bei einem Sekteneinfluss betreffen die radikalen Veränderungen meist auch das Verhalten gegenüber Angehörigen und Freunden schlagartig.

Beschränkte finanzielle Ressourcen bei InfoSekta

Die Veränderung wird meist von wachsendem Misstrauen begleitet, weil die Nahestehenden eben nicht den richtigen Glauben haben und somit angeblich falsche Wertvorstellungen vertreten. So zumindest wird es den neuen Anhängern von den Sektenführern eingetrichtert, die eine Entfremdung von der Familie anstreben.

Sektenphänomene haben im Kern eine Suchtproblematik. Für Alkohol- und Drogensucht gibt der Staat Millionen aus. Für die Sektenprävention haben die Behörden nur ein paar Brotsamen übrig.

InfoSekta ist die einzige unabhängige Beratungsstelle in der Deutschschweiz. Sie leistet hochprofessionelle Arbeit. Da ihre finanziellen Ressourcen sehr beschränkt sind, sind Präsenzzeit und Präventionsmöglichkeiten limitiert. Das ist beschämend und ein Armutszeugnis für die reiche Schweiz.

Übernahme mit freundlicher Genehmigung von watson.ch.

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