Interview

Vertrauen ist die Währung der Demokratie

Corona-Zeiten sind fragile Zeiten. Viele misstrauen dem Staat und seinen Institutionen. Helmut Ortner, Beiratsmitglied der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs), plädiert für einen faktenbasierten Streit – statt wirrer Verschwörungs-Rhetorik. Eines seiner Bücher hat den Titel "Dumme Wut, kluger Zorn". Grund genug, mit ihm über Corona-Protestierer, Wutbürger und eine fehlende Streitkultur zu sprechen.

Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen in Leipzig, Frankfurt und anderen Städten – können Sie den Protest verstehen?

Helmut Ortner: Zunächst gilt: wir leben in einem freien Land. Alle Bürger können ihre Meinung frei äußern. Protest, Gegenrede und Widerstand sind Bestandteil einer demokratischen Kultur. Unsere Demokratie lebt von Disput, Streit und Opposition – aber auch vom Kompromiss. Das Demonstrationsrecht in ein hohes Gut. Aber es kann Anlässe und Orte geben, wo dieses Recht eingeschränkt oder gar untersagt wird. Das klären in einem Rechtstaat die Gerichte ...

Die Leipziger "Querdenker"-Demo wurde von einem Gericht genehmigt, trotz Tausender Demonstranten ohne Maske, ohne Abstand – und die Polizei schaute zu ...

Ich bin ein leidenschaftlicher Verfechter des Demonstrationsrechts. Selbst in Zeiten des Shutdowns sollten Bürger auf die Straße gehen dürfen, von mir aus für die Wahl von Florian Silbereisen als sächsischer Ministerpräsident oder gegen den Untergang des Abendlandes. Tatsache aber ist: nicht nur in Dresden gibt es eine kollektive Realitätsverweigerung, in der eigene Regeln gelten und Extremismus sich ungestört entfalten kann...

Was macht viele Bürger so wütend?

Ich sehe eine gewisse Ratlosigkeit und Hilflosigkeit. Und daraus resultierend Wut. Klar, das Virus hat viele Menschen in schwierige Situationen gebracht, wirtschaftlich und mental. Aber muss es gleich dazu führen, dass es auch die objektive Faktenlage und den eigenen Verstand vernebelt? Und bei allem Verständnis für öffentliche Wut: wer neben rechten Parteigängern, wirren Verschwörungstheoretikern und Reichskriegsflaggen-Trägern auf die Straße geht, kann seine Besorgtheit nicht besonders glaubhaft rechtfertigen …

Corona-Zeiten sind fragile Zeiten.

Nun ist der Lockdown für viele Bürger in vielfacher Hinsicht eine existenzielle Zumutung, eine wirtschaftliche Bedrohung. Hinzu kommt, dass Vieles undurchschaubar bleibt – das schafft Unsicherheit, letztlich Wut.

Sicher, es sind gravierende Eingriffe in unseren Alltag. Und nicht jede Maßnahme ist wirklich plausibel. Warum bleiben Kinos, Theater und Museen geschlossen, Kirchen aber geöffnet? Die Tatsache, dass es vor allem ältere Menschen sind – also die Haupt-Risikogruppe! – die Gottesdienste besuchen, wird hier einfach ignoriert. Gottesdienste sind aus Sicht der Politik offensichtlich "systemrelevant". In München hat der dortige CSU-Chef gerade vorgeschlagen, die Christmette in einem Stadion abzuhalten. Für viele Menschen gehöre der Besuch der Christmette einfach dazu und – so müsste man anfügen – jede Menge Realitätsverweigerung. Irritierend ist auch, dass in den Zügen der Bahn noch immer alle Sitzplätze ohne Einschränkung genutzt werden können. Während man allerorten auf die Eineinhalb-Meter-Abstandsregeln achten muss, sitzt man hier auf Tuchfühlung. Das alles ist nicht plausibel...und das schafft Unsicherheit und Unmut.

Auch auf digitalen Plattformen wird geleugnet, gehetzt und polarisiert. Was ist zu tun?

Cover

Corona-Zeiten sind fragile Zeiten. Viele misstrauen dem Staat und seinen Institutionen. In Gesprächen merke ich, es geht nur noch um ein: bist DU "dafür" oder "dagegen?". Ein konstruktiver Streit findet nicht mehr statt. Nicht Hinhören und Austauschen, sondern Abgrenzen und Ausgrenzen – darum geht es. Spaltung und Radikalisierung sind die Folge. Ein Mix aus Hass, Hetze und Beleidigung macht sich breit. Die Frage ist, gibt es noch genügend öffentliche Räume, in denen sich die unterschiedlichen Meinungen begegnen? Auch wenn es mühsamer ist, als mit Gleichgesinnten allein das eigene Weltbild zu pflegen, eine offene Gesellschaft braucht diese Räume.

Sie haben in ihrem Buch "Dumme Wut, kluger Zorn" über diese zunehmende Radikalisierung geschrieben. In Zeiten von Corona liest es sich wie ein aktuelles Plädoyer für Vernunft und Zusammenhalt. Kluger Zorn ist konstruktiv, schreiben Sie ...

Von konstruktivem Streit lebt die Demokratie. Konfliktreiche Zeiten wie die jetzigen brauchen vor allem Aufklärung und Transparenz. Notwendig ist ein kollektives Einverständnis, eine breite Zustimmung zu Maßnahmen, die unsere Grundrechte einschränken. Darüber kann nicht allein die Regierung entscheiden, darüber muss im Parlament geredet werden – und in der Zivilgesellschaft. Vertrauen ist die Währung der Demokratie.

Interview: Dorothee Willmer für Allgemeine Zeitung / Darmstädter Echo.

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