Gedanken zur Simulationsthese

Leben wir in einer Computersimulation?

Die ständig fortschreitende Leistungsfähigkeit unserer Großrechenanlagen wird es in einigen Jahren ermöglichen, die kompletten Abläufe in einem menschlichen Gehirn zu simulieren. Der nächste Schritt wäre dann die Simulation einer Gemeinschaft von vielen Hirnen bis hin zu einer ganzen Zivilisation und ihrer physischen Welt.

Nehmen wir mal an, dass dann jemand auf den Gedanken käme, unsere derzeitige Welt "naturgetreu" zu simulieren. Wie können wir dann noch sicher sein, dass wir jetzt in der Realität leben und nicht in dieser Computersimulation? Diese Idee geht vor allem auf den schwedischen Philosophen Nick Bostrom zurück. In einem aktuellen Artikel in Scientific American von Anil Ananthaswamy wird die Idee neu diskutiert. Er behauptet, die Chancen stünden 50 zu 50, dass wir in einer Simulation leben.

Wenn wir davon ausgehen, dass das Gehirn nichts anderes als eine komplizierte informationsverarbeitende Maschine ist, so können letztlich sämtliche Funktionen des Gehirns von einem Computer simuliert werden. Eine absolut perfekte Simulation nennt man "Emulation". Voraussetzung hierfür ist lediglich, dass der Computer erheblich leistungsfähiger als das Gehirn selbst ist und dass die entsprechende Programmierung vorhanden ist. Wären diese Voraussetzungen erfüllt, so wäre es dann durchaus möglich, nicht nur die Funktionen des Gehirns einschließlich des Bewusstseins, sondern auch die gesamte erfahrbare Umwelt zu simulieren. Das hieße nichts anders, als dass wir dann eine selbstständig denkende Person erschaffen hätten inklusive einer gesamten erfahrbaren Umwelt einschließlich darin vorkommender anderer Personen. Für die Person selbst ist absolut nicht feststellbar, ob sie in der Realität lebt oder virtuell ist. Wir hätten damit eine komplette virtuelle Welt kreiert.

Die Rechenleistung für die Simulation einer Umwelt hält sich in Grenzen. Ähnlich wie bei einem Computerspiel müssen immer nur die Daten generiert werden, auf die auch unmittelbar zugegriffen wird. Der Ablauf von Ereignissen, die außerhalb unseres derzeitigen Sicht- und Hörbereichs liegen, kann parametrisiert werden, das heißt nur die für die weitere Entwicklung notwendigen Parameter und Berechnungen werden weitergeführt. Zum Beispiel wird die genaue Form eines Objekts erst dann wieder generiert, wenn es in unseren Sichtbereich kommt. Virtuelle Welten können einerseits Anteile enthalten, die originalgetreue Kopien der Eigenschaften real vorhandener Dinge sind. Andererseits können sie aber auch imaginäre Teile enthalten, die nicht so oder sogar prinzipiell überhaupt nicht in der Realität vorkommen. Diese fiktiven Teile können von Menschen erdacht sein oder von Maschinen erzeugt werden. Es gibt einige Spielfilme, die die Idee der virtuellen Welt zur Grundlage haben, so zum Beispiel die Reihe der "Matrix"-Filme. Auf dem Roman "Simulacron 3" von Daniel F. Galouye (1964) basiert der zweiteilige Fernseh-Film "Welt am Draht" (1973) von Rainer Werner Fassbinder, der ohne große Spezialeffekte auskommt und die Problematik von verschachtelten virtuellen Welten sehr gut darlegt. Der Stoff wurde im Jahr 1999 noch einmal in dem Film "13th Floor" von Roland Emmerich verarbeitet.

Gottgleiche Allmacht

Nun muss es natürlich eine tieferliegende Vollzugsebene der letzten Wirklichkeit geben, in der der reale Computer steht und es muss ein oder mehrere Wesen geben, die ihn erbaut, ihn programmiert haben und ihn betreiben. Sie können die virtuellen Naturgesetze definieren, die in der simulierten Welt gelten. Sie können auch Einfluss auf einzelne Wesen und einzelne Ereignisse nehmen und scheinbare Wunder vollbringen. Sie haben damit eine gottgleiche Allmacht und können letztlich sogar den Netzstecker des Computers aus der Steckdose ziehen und damit dem wilden Treiben im Computer ein Ende bereiten. Religiöse Menschen sehen an dieser Stelle große Ähnlichkeiten mit ihrer Vorstellung eines allmächtigen Gottes. Da wir grundsätzlich keine experimentellen Möglichkeiten haben, festzustellen, ob wir in der letzten Realität leben oder in einer Simulation, sollte man daher weder einen fundamentalistischen Atheismus noch einen fundamentalistischen Theismus vertreten. Wir können uns lediglich Gedanken über die Wahrscheinlichkeiten des Zutreffens der jeweiligen Positionen machen.

Es gibt einige Philosophen, wie zum Beispiel Nick Bostrom (University of Oxford) und Barry Dainton (The University of Liverpool), die versuchen, solche Wahrscheinlichkeitsabschätzungen zu machen. Der Grundgedanke ist dabei, dass unsere Nachfahren aufgrund der immens anwachsenden Rechenleistung der Computer in der Lage sein werden, Simulationen der Vergangenheit laufen zu lassen. Einige spielen dann in genau der Zeit, die wir als Gegenwart erfahren. Aufgrund der Vielzahl der Computer und deren immer weiter steigender Leistungsfähigkeit gibt es dann womöglich eine Vielzahl von solchen virtuellen Welten mit einer großen Menge an simulierten Personen. Diese Zahl wird mit der Zeit immer weiter ansteigen. Demgegenüber gibt es aber nur eine reale Welt beziehungsweise Vollzugsebene der letzten Wirklichkeit. Damit ergibt sich eine Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich unser derzeitiges Leben in einer virtuellen Welt abspielt, die sehr nahe bei 100 Prozent liegt. Gründe, die dies verhindern würden, wären nach Nick Bostrom folgende:

a) Personen mit eigenem Ich-Bewusstsein lassen sich nicht simulieren.

b) Zivilisationen erreichen grundsätzlich nicht den technologischen Status, der solche Simulationen erlaubt, weil sie sich aufgrund ihrer hoch gezüchteten Massenvernichtungsmittel und ihrer Unvernunft vorher selbst vernichten.

c) Trotz der technologischen Möglichkeit werden aus praktischen, ethischen oder anderen Gründen keine Simulationen der Vergangenheit ermöglicht oder erlaubt. (Quelle: Wikipedia)

Punkt a ist Gegenstand heftiger Diskussionen. Insbesondere in der Philosophie des Geistes neigt man eher zu der Position, dass der menschliche Geist etwas ist, was sich nicht vollständig naturwissenschaftlich erfassen lässt und bei dem eine Simulation etwas grundsätzlich anderes ist als der wahre Geist. Im Rahmen des Naturalismus ist es aber sehr schwer, diese Position aufrecht zu erhalten. Eine gründliche Diskussion würde hier zu weit führen. Meine Position dazu ist in den Büchern: "Wissen statt Glauben! Das Weltbild des neuen Humanismus und Transhumanismus, Posthumanismus und neue Technologien" (Herausgeber: Philipp Wolf) ausführlich dargestellt. Die meisten Naturwissenschaftler*innen gehen davon aus, dass Bewusstsein "Substrat-unabhängig" ist und somit auch mit Maschinen (welcher Art auch immer) vollständig simuliert werden kann, wobei dann Original und Simulation nicht mehr zu unterscheiden sind.

Einige Philosophinnen und Philosophen, wie zum Beispiel Michael Schmidt-Salomon, gehen dagegen in ihrer Argumentation so weit, zu behaupten "...dass die spezifischen materiellen Prozesse, die lebende Systeme von nicht-lebenden Systemen unterscheiden, nur in einer 'Kohlenstoff-Welt' stattfinden können und somit nicht verlustfrei in die 'Silizium-Welt' unserer Computersysteme übertragbar sind." (Zitat aus: "Mensch bleiben im Maschinenraum", Alibri-Verlag). Solche Positionen kann man eigentlich nur als Rückfall in den Vitalismus (Lehre von der Lebenskraft) einstufen, der bis Mitte des letzten Jahrhunderts zum Weltbild gehörte aber inzwischen durch die Fortschritte der Naturwissenschaften als Unfug entlarvt wurde. Auch die Kohlenstoff-Chemie läuft nach festen deterministischen Algorithmen ab und diese lassen sich in Computern prinzipiell nachvollziehen.

Die Simulationsthese als philosophische Hypothese

Was manche Philosophinnen und Philosophen bei der Beurteilung des menschlichen Geistes zu Fehlschlüssen führt, ist ihre mangelnde Kenntnis der Grundlagen von Physik und Informationstheorie. Häufig wird stattdessen auf mystische Kräfte oder noch unbekannte Naturkräfte verwiesen. Manche Naturwissenschaftler*innen vermuten, dass unser Gehirn Zugriff auf quantenmechanische Prozesse hat und dass nur dadurch Bewusstsein entstehen kann. Diese Position steht zwar nicht im Widerspruch zur Physik, aber diese Prozesse ließen sich dann mit Quantencomputern nachvollziehen. Insofern ist auch das kein überzeugendes Argument gegen die Position a). Der Faktor b) kann uns zwar vor der Simulation bewahren, aber nur mit noch schrecklicheren Konsequenzen. Wenn wir Wert auf die Existenz in einer realen Welt legen wollen, in der die Menschheit eine langfristige Zukunft hat, bleibt uns damit als letzte Hoffnung nur noch der Faktor c).

Der Philosoph Barry Dainton gibt eine Reihe von Gründen an, warum uns auch dieser Faktor nicht retten kann. In diesem Punkt kann man allerdings auch völlig anderer Meinung sein, denn in einer Simulation der Vergangenheit ist kein allzu großer praktischer Nutzen zu sehen. Davon abgesehen wäre eine solche Simulation als unmoralisch einzustufen, weil sie ohne zwingenden Grund eine Welt mit einem erheblichen Anteil an Leid schaffen würde. Es ist dies der gleiche Grund, warum viele nicht an einen Gott glauben: Nach ihrer Meinung muss jeder Schöpfer einer so elenden Welt wie der unseren, unabhängig davon, ob wir ihn als Chef-Programmierer, kosmischen Ingenieur oder Gott bezeichnen, entweder unfähig oder böswillig sein. Damit wäre der Faktor c) als wahrscheinlich zutreffend einzuschätzen mit der Folgerung, dass wir in einer realen Welt leben und in einer Zivilisation, die eine sehr lange Zeit bestehen kann. Niemand in der Vergangenheit oder in der Zukunft dürfte so unvernünftig sein, eine so unvollkommene Welt wie die unsere zu erschaffen oder zu programmieren. Dennoch gibt es dafür keine absolute Garantie. Insofern sollte man sich da vielleicht doch nicht so sicher sein.

Unabhängig davon wird es natürlich in der Zukunft immer mehr Möglichkeiten geben (insbesondere für die Freizeitgestaltung), sich für eine begrenzte Zeit in eine virtuelle Welt zu begeben. Moralisch entscheidend ist hierbei, dass dies freiwillig geschieht und dass den Nutzern jederzeit klar ist beziehungsweise klargemacht wird, wann sie sich in einer Simulation befinden und wann in der Realität. In seinem Artikel in Scientific American vom 13. Oktober 2020 vertritt der Autor Ananthaswamy die Position, dass die Wahrscheinlichkeit, dass wir in einer Simulation leben, 50 zu 50 Prozent ist. Aber all diese Abschätzungen sind extrem spekulativ und man sollte sie nicht allzu ernst nehmen. Man muss sich natürlich fragen, was diese Überlegungen überhaupt bringen, wenn wir doch nicht feststellen können, ob wir real oder virtuell existieren und wenn das für unser Alltagsleben keine praktischen Konsequenzen hat. So nutzt es uns zum Beispiel wenig, wenn wir unsere Zahnschmerzen als virtuell einstufen. Weh tut's trotzdem.

Da wir hier die Möglichkeit der Falsifikation weitgehend ausschließen können, müssen wir die Simulationsthese eher als philosophische Hypothese einordnen und weniger als wissenschaftliche Hypothese. Immerhin kann sie einen erheblichen Einfluss auf unser Weltbild haben. Vielen mag sie abstrus erscheinen. Dennoch stehen weder die Naturgesetze noch die Logik in einem absoluten Widerspruch zur Simulationsthese. So gibt es denn auch eine ganze Reihe prominenter Wissenschaftler*innen, wie zum Beispiel den Astrophysiker Martin Rees und den Physiker Michio Kaku (Mitentwickler der Stringtheorie), die diese These für durchaus realistisch halten. Es ist im Gegenteil sogar so, dass manche physikalische Experimente die Simulationsthese eher stützen. Davon abgesehen kann uns unser Gefühl für die Wirklichkeit täuschen. Intuitiv würden wir beispielsweise die folgenden drei Sätze für absolut zutreffend halten:

  1. Wenn man ein Ereignis erlebt, dann ist es real.
  2. Es ist möglich, freie Entscheidungen zu treffen, oder zumindest zufällige Entscheidungen.
  3. Eine getroffene Entscheidung an einem Ort kann nicht instantan Ereignisse an einen weit entfernten Ort bewirken (wegen der endlichen Lichtgeschwindigkeit). (Quelle: The Conversation)

Der Physiker Eric Calvalcanti (Griffith University, Australien) zeigt aber in der oben angegebenen Veröffentlichung, dass aufgrund der experimentellen Ergebnisse der Quantenphysik mindestens einer dieser Sätze falsch sein muss. Sollten wir in einer Simulation leben, so würde Satz 1 wegfallen und unsere Anschauungsprobleme mit der Quantenphysik wären gelöst.

Konrad Zuse, der Erfinder des ersten programmgesteuerten Computers, war der Ansicht, dass der Kosmos selbst als gigantische Rechenmaschine aufgefasst werden könnte. 1969 schrieb Zuse unter dem Titel "Rechnender Raum" ein Buch, in dem er eine Theorie der zellulären Automaten entwickelte und sie, ähnlich wie später Stephen Wolfram, auch auf die Kosmologie anwandte. Nach dieser Idee ist der elementare Baustein unserer Welt nicht die Materie, sondern die Information (im weitesten Sinne). Diese Idee findet unter Physikerinnen und Physikern zunehmende Akzeptanz.

Man darf gespannt sein, ob wir in der Zukunft zu neuen Erkenntnissen über dieses Thema kommen und dann vielleicht realistischere Abschätzungen der Wahrscheinlichkeit für das Leben in einer Simulation machen können. Bis dahin sollten wir besser so tun, als ob wir in der Realität leben.

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