Interview

Der letzte Zirkusschimpanse

Colin Goldner hat ein neues Buch vorgelegt; darin geht es um Robby, den letzten Zirkusschimpansen. Sabine Hufnagl hat mit dem Autor über Robbys Schicksal, die Kulturgeschichte des Verhältnisses Mensch-Menschenaffe und die Institution Zirkus gesprochen und warum es dabei auch um Religionskritik geht.

Sabine Hufnagl: Colin, während nicht wenige Deiner Leser*innen darauf gehofft haben dürften, dass Du Dich wieder einmal mit einem Deiner Kernthemen befasst – mit der Demaskierung von Religionsführern und Psychoquacksalbern , hast Du erneut ein Tierrechtsbuch vorgelegt. Wie kommt's? Interessiert Dich ein kleiner Affe, um den es in Deinem neuen Buch geht, mehr als der Dalai Lama oder Szenegurus wie Bert Hellinger?

Colin Goldner: Das kann man durchaus so sagen. Zumal mich die Dalai Lamas und Hellingers per se noch nie sonderlich interessiert haben, allenfalls der psycho- und soziokulturelle Kontext, in dem und aus dem heraus derlei eigentlich völlig substanzlose Figuren solch ungeheuere Macht über andere erlangen. Insofern hat die Geschichte des Affen, um den es in meinem Buch geht – ein real existierender Schimpanse namens Robby –, durchaus mit meinem Kernthema zu tun: Macht und Missbrauch von Macht.

Du sprichst von der Macht des Menschen über das Tier?

Ja, die absoluteste Macht, die jemand haben kann, ist die über Leben und Tod eines anderen, eine Macht, die der Mensch sich prinzipiell über das Tier anmaßt. Ganz gemäß dem Diktum aus dem Ersten Buch Mose, in dem Gott seinen Ebenbildern befiehlt, sich die Natur – gemeint ist vor allem die Tierwelt – zu unterwerfen und nutzbar zu machen: "Machet sie euch untertan und herrschet … Furcht und Schrecken vor euch über alle Tiere." Und es gilt dieses Verdikt unverändert bis heute: laut einem Dekret der Deutschen Bischofkonferenz hätten Tiere im Gegensatz zum Menschen "kein unantastbares individuelles Lebensrecht", folglich seien "wir Menschen berechtigt, Leistungen und Leben der Tiere in Anspruch zu nehmen". Unmissverständlicher noch erklärt der aktuell gültige Weltkatechismus der katholischen Kirche, federführend herausgegeben 1993 durch den seinerzeitigen Kurienkardinal und heutigen Ex-Papst Joseph Ratzinger: "Gott hat die Tiere unter die Herrschaft des Menschen gestellt, den er nach seinem Bilde geschaffen hat. Somit darf man sich der Tiere zur Ernährung und zur Herstellung von Kleidern bedienen. Man darf sie zähmen, um sie dem Menschen bei der Arbeit und in der Freizeit dienstbar zu machen."

Selbstredend seien medizinische und wissenschaftliche Tierversuche, auch wenn sie mit Leiden oder gar dem Tod der jeweiligen Tiere einhergingen,  "sittlich zulässig", trügen sie doch dazu bei, "menschliches Leben zu heilen und zu retten". Es beherrscht solches Diktum, das es in gleicher oder ähnlicher Form in sämtlichen Religionen gibt, das Gattungsbewusstsein des Menschen wie kein zweites: eine universell gültige Erlaubnis, gar "göttlicher Auftrag" zu rücksichtsloser Ausbeutung von Um-, Mit- und Tierwelt.

Durch die Hintertür kommst du doch wieder zur Religionskritik zurück …

In der Tat ist Religion die Ursache allen Übels. Ich halte es gleichwohl mit dem großen Religions- und Kirchenkritiker Karlheinz Deschner, der mir kurz vor seinem Tod 2014 in einem persönlichen Gespräch sagte, wenn er noch einmal auf die Welt kommen könnte, würde er seine gesamte Kraft einer noch weit hoffnungsloseren Thematik widmen als der Bekämpfung des Pfaffentums: der Befreiung der Tiere.

In deinem Buch geht es konkret um einen einsamen Zirkusschimpansen …

Ja, um Robby, den letzten seiner Art. Die Mitführung von Schimpansen, die bis herauf in die 1980er zum Standard in hiesigen Zirkussen zählte, wurde von deren Betreibern peu à peu eingestellt. Allerdings nicht freiwillig, sondern vor dem Hintergrund einer bundesministeriellen Leitlinie von 1990, die, wenngleich ohne jede Rechtsverbindlichkeit, ein Ende der Haltung von Menschenaffen in Zirkussen gefordert hatte. Vor allem aber aufgrund wachsenden öffentlichen Drucks im Zuge der aufkommenden Tierrechtsbewegung.

Robby lebt seit über vierzig Jahren in einem umgebauten LKW-Anhänger des vornehmlich durch Norddeutschland tourenden Circus Belly. Bis vor wenigen Jahren wurde er für seine Auftritte in eine schwarz-weiße Livree gesteckt und musste den tretrollerfahrenden Manegenclown geben. Auf behördliche Anordnung hin muss er das heute nicht mehr machen. Gleichwohl wird er nach wie vor im Tross des Zirkus mitgeführt und kann in den Vorstellungspausen – gegen Sonderentgelt versteht sich – in seinem Käfigwagen besichtigt werden.

Robby im Circus Belly
Robby mit seinem Dompteur in der Manege des Circus' Belly. (Foto: © PeTA)

In einem jahrelang sich hinziehenden Rechtsstreit suchten Tierschützer, Robby aus den Händen des Zirkus' zu befreien und in eine anerkannte Auffangstation zu verbringen. Selbst Jane Goodall setzte sich für ihn ein. Letztlich beschied das Oberverwaltungsgericht Lüneburg Ende 2018, dass Robby trotz gutachterlich festgestellter "nicht artgerechter Einzelhaltung" und daraus herrührender "schwerwiegender Verhaltensstörung" im Circus Belly verbleiben müsse. Revision ausgeschlossen. Ich gehe in meinem Buch der Frage nach, wie dieses – ethisch wie rechtlich – gänzlich inakzeptable Urteil zuungunsten eines jahrzehntelang qualgehaltenen und als Zirkusclown missbrauchten Tieres zustande kam.

Insgesamt aber geht dein Buch doch weit über den konkreten Fall "Robby" hinaus ?

Im Mittelpunkt steht tatsächlich dieser eine Schimpanse Robby. In weitergefasstem Sinne geht es um die Kulturgeschichte des Verhältnisses Mensch-Menschenaffe an sich: seit wann gibt es überhaupt Schimpansen in Europa? Wie kamen sie hierher? Und: wie kamen gerade sie zu ihrer aufgezwungenen Rolle als "wie für den Zirkus geborene Spaßmacher"? Und ganz grundlegend geht es um das kategorische Macht-Ohnmacht-Verhältnis zwischen Mensch und Tier, das die Gefangenhaltung und Ausbeutung selbst eines kognitiv so hochentwickelten und dem Menschen so ähnlichen Individuums, wie ein Schimpanse es ist, rechtfertigt und erlaubt, solange es nur auf der anderen Seite der Speziesgrenze steht. Bezeichnenderweise endet humanistischer, marxistischer oder sonstwie linker Einsatz für die Geknechteten und Unterdrückten dieser Erde regelmäßig an ebendieser Speziesgrenze.

Festgemacht am Fall "Robby" ist dein Buch ein Frontalangriff auf die Traditionseinrichtung "Zirkus", die in ihrer "klassischen" Form neben Artistik und Clownerie wesentlich auf der Zurschaustellung dressierter Wildtiere beruht.

Ja, wobei der heute als "klassisch" geltende Zirkus gar keine so lange zurückreichende Tradition hat, wie man vielleicht meinen könnte. Am wenigsten kann er als besonders erhaltenswertes "europäisches Kulturgut" gelten, als welches das EU-Parlament ihn hochhält. Tatsächlich gibt es den "klassischen" Zirkus, begründet in den USA, erst seit dem frühen 19. Jahrhundert. Aber selbst wenn er – in allerweitestem Sinne zumindest – auf die zirzensischen Spektakel des alten Rom zurückgehen sollte – Wagenrennen, Gladiatorenkämpfe und massenhaftes Abschlachten wilder Tiere –, machte es ihn nicht zu einem "wertvollen Teil der Kultur Europas", wie Kommissionspräsidentin und Zirkusfreundin Ursula von der Leyen meint, sondern allenfalls zu einem besonders unseligen.

Robby in seinem Käfigwagen
Robby in seinem Käfigwagen (Foto: © PeTA)

Mehr als 65 Prozent der Bundesbürger stehen Wildtierdressuren im Zirkus ablehnend gegenüber. Wieso gibt es sie dann immer noch?

Mittlerweile haben mehr als 40 Länder rund um den Globus die Haltung von Wildtieren im Zirkus teilweise oder gänzlich verboten, allein in Europa sind es 28. Deutschland zählt bei dieser Entwicklung zu den absoluten Schlusslichtern, wie das in fast allen Bereichen des Tierschutzes der Fall ist. Gleichwohl hat sich die öffentliche Meinung zu Zirkussen in den letzten Jahren grundlegend geändert: in der Tat lehnen zwei Drittel der Bundesbürger inzwischen Wildtierhaltung im Zirkus ab. Auf politischer Ebene wird sich da allerdings erst etwas ändern, wenn das zuständige Landwirtschaftsministerium nicht mehr in den Händen von CDU/CSU liegt.

Auch wenn das nicht Teil deines Buches ist: Sprichst du dich eigentlich nur gegen Zirkus mit Tieren aus oder hast du auch etwas gegen tierfreien Zirkus?

Von mir aus bräuchte es überhaupt keinen Zirkus, egal ob mit Tieren oder ohne. Die immergleichen Dumme-August-Nummern etwa fand ich schon als Kind äußerst unoriginell und unlustig. Was auch ist lustig daran, wenn einer, der aussieht und sich benimmt, als käme er eben aus einer Notunterkunft für alkoholkranke Obdachlose – torkelnder Gang, verwaschen-delirante Sprache, rote Schnapsnase und abgerissene Klamotten aus der Altkleidersammlung –, über seine eigenen Schuhe stolpert oder, haha, von einem anderen nassgespritzt wird? Nichts, trotzdem trampelt das Publikum vor Vergnügen.

Auch die ewigen Flic-Flac- und Jonglagedarbietungen fand ich immer schon sterbenslangweilig. Überhaupt konnte ich dem ganzen Drumrum des Zirkus noch nie etwas abgewinnen. Aber egal, wem's gefällt, meinetwegen. Nicht indes, wenn Tiere mit dabei sind, egal welcher Art, die man zwingt, in der Manege irgendwelche andressierten Kunststücke vorzuführen. Ich will keine Tiger sehen, die Männchen machen oder durch einen hingehaltenen Reifen springen müssen, auch keine Elefanten, die auf dem Kopf stehen.

Akzeptabel wären für mich allenfalls Zirkusvarietés wie Roncalli oder Cirque du Soleil, die ganz ohne Tiere auskommen. Aber selbst das reißt mich nicht vom Hocker: ich finde es eher abstoßend, Mädchen oder jungen Frauen dabei zuzusehen, wie sie sich in anatomisch aberwitzigste Positionen verbiegen, wissend, dass sie ihre "begnadeten Körper", wie es in einem Programm von Zirkus-Impresario André Heller einst hieß, spätestens Ende 20 in die Tonne treten können, sprich: den Rest ihres Lebens als wirbelsäulendauergeschädigte Frühinvalidinnen verbringen werden.

À propos: Zu den Dauerbrennern in jedem Zirkus zählen junge Frauen, die im Glitzertanga ihre Beine zu einem 200-Plus-Grad-Spagat spreizen können. Kompletter Irrsinn für Gelenke und Bänder, aber was für ranzige Männerphantasien, die entsprechend bedient werden. Tatsächlich kommt der traditionelle Zirkus seit je in unverhohlen sexistischem Subtext daher – man denke etwa an den Klassiker, bei dem eine leichtbekleidete junge Frau auf ein sogenanntes "Todesrad" geschnallt und mit Messern beworfen wird –, allein schon von daher geht mir zirzensische Volksbelustigung entschieden gegen den Strich. Unabhängig davon, ob nun Tiernummern mit dabei sind oder nicht.

Zumal – und das schließt an meine Eingangsfrage an – das Zirkuswesen ja unter höherer Patronage steht. Wie ich in deinem Buch lese, gibt es eigene Zirkuspfarrer, und von ganz oben hält Ex-Papst Ratzinger seine Segenshand über die Artisten und Clowns ...

Stimmt. Zu den prominentesten "Paten" des Zirkuswesens zählt Ex-Papst Joseph Ratzinger, der in seiner Amtszeit Zirkusleuten immer wieder Sonderaudienzen gewährt hat. Und tatsächlich gibt es sogenannte "Zirkuspfarrer", die Beginn oder Ende einer Spielzeit regelmäßig mit einem Gottesdienst in der Manege begehen. Zu den medial bekanntesten davon zählt der Bonner Pfarrer Sascha Ellinghaus, der von der Deutschen Bischofskonferenz eigens mit der "Katholischen Circus- und Schaustellerseelsorge" betraut wurde. Ein anderer, der Luzerner Pfarrer Ernst Heller, gibt mit Klarinette und Soutane gar selbst den Manegenclown. Gerne verteilt er vom Papst gesegnete kleine Kreuze unter den Artisten und Dompteuren, so dass sie vor Unfällen und Angriffen ihrer Tiere geschützt sind.

Colin Goldner: Robby – der letzte Zirkusschimpanse, Aschaffenburg 2021, Alibri-Verlag, 162 Seiten, 14 Euro

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