Zeitenwende beim Religions-/Ethikunterricht in Bayern?

Religionsunterricht isoliert, Ethikunterricht integriert

Das Ergebnis der GfK-Umfrage zum Ethik-/Religionsunterricht scheint in Bayern seine Wirkung zu entfalten. Erstmals hat der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) öffentlich den Vorwurf erhoben, das zuständige Ministerium habe "zu wenig flexibel auf die steigende Zahl konfessionsloser Kinder reagiert". Konkrete Forderungen blieben allerdings aus. Doch vielleicht bringt nun der chronische Lehrkräftemangel die Zeitenwende.

Die über 60.000 im BLLV organisierten Lehrer/innen und Erzieher/innen sowie Verwaltungsangestellten haben es meist gut verstanden, ihre Interessen bei der Bayerischen Staatsregierung vorzubringen und auch durchzusetzen. Das ist ihnen einen monatlichen Beitrag von 0,5 Prozent des Grundgehaltes wert. Etwa zwei- bis fünfhundert Euro jährlich hat das einzelne Mitglied zu entrichten. Nur bei den Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst ist der Beitrag einheitlich: sie zahlen 128,40 Euro im Jahr.

45 hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, unter ihnen drei Juristen, beschäftigt der BLLV in seiner Landesgeschäftsstelle, die in einer repräsentativen neoklassizistischen Villa aus dem Jahr 1913 residiert. Und selbstverständlich gibt es noch viele ehrenamtlich Tätige, beispielsweise die mehr als 180 Kreisvorsitzenden.

Ein derartiger Verband kann sich nicht nur eine professionell gestaltete Webseite leisten, sondern auch eine Vielzahl von Publikationen. Die Einnahmen reichen sogar für eine Akademie, die ein- oder zweimal im Jahr zu einem Kamingespräch einlädt: "Vor dem brennenden Feuer im Foyer der Geschäftsstelle" sollen "herausragende Persönlichkeiten" aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen skizzieren sowie Impulse zum Nachdenken und für Innovationen geben.

Kamingespräch mit Bischöfin Susanne Breit-Keßler über Werte in der Krise

Die bekannteste Persönlichkeit am Kamin war in den letzten Jahren zweifelsohne Susanne Breit-Keßler. Im Juni 2021 diskutierte sie mit BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann über "Werte in der Krise" und wie wichtig ein Wertekompass für ein Leben erst recht in Krisenzeiten sei. Ins Auge fiel, dass Susanne Breit-Keßler im Bericht über die Veranstaltung einleitend lediglich als Vorsitzende des Bayerischen Ethikrates vorgestellt wurde. Erst ganz am Schluss ist von ihrem theologischen Hintergrund die Rede, dann allerdings ziemlich umfangreich. Hier ein Auszug: 1995 bis 1998 Sprecherin der ARD-Sendereihe "Wort zum Sonntag", theologische Beraterin der Chefredaktion des evangelischen Magazins Chrismon mit eigener monatlicher Kolumne, 2001 bis 2019 Oberkirchenrätin und Regionalbischöfin für München und Oberbayern.

2016 war Benjamin Idriz, Imam der Penzberger Moschee, zu Gast, 2014 Bischof Heinrich Bedford-Strohm, 2013 Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, und im selben Jahr Julian Nida-Rümelin, Philosoph mit dem Schwerpunkt "theoretische und angewandte Ethik". Nimmt man alle Kamingäste seit 2012 in Augenschein, ist keine auffällige Einseitigkeit bei der Auswahl zu erkennen, sondern eher das Bemühen um Ausgewogenheit. Wer die eingangs zitierte Bewertung über die "zu wenig flexible" Reaktion des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus unvoreingenommen einordnen will, muss deshalb die Intention des Balancehaltens im Kopf haben.

Verschiedene Mitgliederinteressen unter einen Hut zu bringen ist keine Kleinigkeit

Zu den grundsätzlichen Aufgaben von Verbänden gehört es, die Interessen ihrer Mitglieder nach außen zu vertreten. Probleme ergeben sich meist erst dann, wenn konkrete Forderungen gestellt werden sollen oder müssen, die nicht von allen Mitgliedern geteilt werden. Es leuchtet ein, dass sich unter den rund 60.000 Mitgliedern des BLLV sowohl solche befinden, die von einem verpflichtenden Ethikunterricht profitieren oder ihn aus anderen Gründen befürworten, als auch solche, denen eine Änderung der seit Jahrzehnten gewohnten "Ordnung" überhaupt nicht zupasskommt.

"Religionssensible Schulkultur" – Ha? Wos moanst?

Bei erkennbaren unterschiedlichen Mitgliederinteressen ist deshalb nachvollziehbar, dass sich die BLLV-Präsidentin ohne Beschluss der zuständigen Vereinsgremien nicht festlegen will. Das allgäuer Nachrichtenportal all-in.de zitiert sie wörtlich mit: "Die Frage nach einer prinzipiellen Neuausrichtung des Religionsunterrichts ist in bildungspolitischen Kreisen ein hochbrisantes Thema." Dann folgt die Feststellung, es sei höchste Zeit für eine "religionssensible Schulkultur". Was man unter "religionssensibel" zu verstehen hat, bleibt allerdings offen.

So ist es kein Wunder, dass die Debatte im BLLV über dieses hochsensible Thema weitergeht. Indiz dafür ist der Anfang des Jahres erschienene Artikel "Religionssensible Schulkultur – Das Ende der Dominanz" von Chris Bleher, Redaktionsleiter des BLLV-Magazins bayerische schule. Darin erinnert der Autor an eine Veranstaltung in München knapp ein Jahr zuvor. Der Teilnehmerkreis bestand aus einer "evangelisch-amtskirchlich engagierten" Führungsperson des Bayerischen Rundfunks, einer religionskritischen Schülervertreterin, einer strikt laizistisch eingestellten Kinderbuchautorin, einer muslimischen Religionspädagogin, einem Mann vom Beamtenbund, einem katholischen Seelsorger und mehreren Personen aus Lehrerschaft, Schulverwaltung und Universität sowie einem sich als katholisch bekennenden Kabarettisten.

Gemeinsamer Nenner: Es braucht ein Bekenntnis zur Vielfalt

Das Ergebnis dieses "philosophischen BLLV-Salons": "In der multikulturellen Gesellschaft von heute braucht es ein Bekenntnis zur Vielfalt – zumindest darüber war man sich einig bei einem philosophischen Salon des BLLV zum Thema 'religionssensible Schulkultur'. Aber braucht es auch ein Bekenntnis zur Religion? Und wenn ja: zu welcher? Soll ein solches Bekenntnis im Schulhaus gelebt werden oder reicht es, dort etwas über Religionen zu erfahren und Toleranz zu üben?"

Weder mittel- und noch weniger langfristig lässt die Realität dem BLLV und den politischen Parteien eine Wahl. Denn die Zahl der Menschen, die mit Religion, Gott und Göttern nichts anfangen können, wächst unaufhörlich. Zusammen mit den sich einer Religion zugehörig fühlenden Personen, die bereits heute mehrheitlich auf ein friedvolles Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft durch Betonung dessen setzen, was allen Menschen gemeinsam ist, bilden sie mit bundesweit 72 Prozent eine klare Mehrheit. Wer heutzutage einem jungen Menschen empfiehlt, katholische, evangelische oder islamische Religionslehre zu studieren, handelt unverantwortlich.

Hilft der Lehrkräftemangel bei der Zeitenwende?

Seit etlichen Jahren zeichnet sich ein zunehmender Mangel an Lehrkräften ab. Um nicht allein als Schuldige für harte Maßnahmen dastehen zu müssen, hatten die Kultusminister die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) zur Bekämpfung des Lehrkräftemangels beauftragt, Vorschläge auszuarbeiten, die kurz- und mittelfristig helfen sollen, fehlende Lehrkräftestellen zu kompensieren. Die Ergebnisse stießen auf breite Ablehnung. Reaktion von Gerhard Brand, Vorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE): "Mit diesen Maßnahmen wird das Versagen der Politik auf dem Rücken der Lehrkräfte ausgetragen". Ihm pflichtete Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, bei. Viele der Vorschläge seien praxisfremd und kontraproduktiv: "Wer Teilzeit und Altersermäßigungen einschränken oder abschaffen will, treibt noch mehr Lehrkräfte in die Frühpensionierung und den Burnout."

Einfache Lösung: bekenntnisfreie Schulen oder verpflichtenden Ethikunterricht

Dabei liegt auf der Hand, dass ein Teil des Problems schon mit dem gegenwärtigen Lehrpersonal ohne zusätzliche Belastung relativ einfach gelöst werden könnte: Entweder man erklärt alle staatlichen Schulen zu bekenntnisfreien Schulen oder man führt einen verpflichtenden Ethikunterricht für alle Schülerinnen und Schüler ein. Bei der ersten Lösung entfällt der Religionsunterricht und bei der zweiten wird das Fach Religionslehre zu einem freiwilligen Wahlfach, das mit hoher Wahrscheinlichkeit keine große Nachfrage fände. Beides führt kurz-, mittel- und langfristig dazu, dass viele Religionslehrkräfte für den Unterricht in den anderen Fächern freigesetzt werden, für die sie ebenfalls ausgebildet wurden.

An der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt können beispielsweise Studierende für das Lehramt an Grundschulen neben katholischer Religionslehre als Unterrichtsfach in Kombination noch Deutsch, Mathematik, Kunst, Musik oder Sport als Didaktikfach wählen. Vergleichbares gilt auch für Studiengänge in anderen Bundesländern. An der Bergischen Universität Wuppertal in Nordrhein-Westfalen kann zum Beispiel das Studium der Evangelischen Religionslehre kombiniert werden mit Germanistik und Mathematik für die Grundschule.

Religionslehrkräfte anderweitig einsetzen, freiwerdende Unterrichtsräume für pädagogisch sinnvolle Klassenteilungen nutzen

Für einen mehrfach getrennten Unterricht (katholische, evangelische, islamische und xy Religionslehre) braucht die Schulleitung nicht nur mindestens drei Lehrkräfte, sondern auch noch Klassenräume. Diese bleiben aber in der Regel halbleer, weil sich organisatorisch nicht einfach Klassen mit Schüler/innen derselben Religion und Jahrgangsstufe nach Belieben zusammenlegen lassen, ohne andere pädagogische Ziele zu gefährden. Wer dem Lehrkräftemangel entgegenwirken will, setzt Religionslehrkräfte in anderen Unterrichtsfächern ein und nutzt freiwerdende Unterrichtsräume für pädagogisch sinnvolle Klassenteilungen.

Bildungspolitik ist eine Politik für die nachwachsende Generation. Diese hat mehr verdient als eine auf buchstäblich urweltzeitlichen Regelungen basierende Vermittlung anachronistischer Inhalte. Der Souverän, das Volk, fordert eine Zeitenwende – weg vom Religionsunterricht und hin zum Ethikunterricht. Denn: Religionsunterricht isoliert, Ethikunterricht integriert.

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