Staat, Gesellschaft und Ideologie im real existierenden Lamaismus

WEIMAR. (hpd) Dieses Buch aus dem Frankfurter Zambon-Verlag wird die eifernden “Free-Tibet-Aktivisten”, die Dalai-Lama-Fans und die Esoteriker aus “dem Westen” nicht erfreuen. Denn nicht zu Unrecht hat sein Autor, der Luxemburger Albert Ettinger, die Worte “Freies Tibet” mit einem Fragezeichen versehen. Denn das Tibet, das bis 1959 in feudaltheokratischen Verhältnissen gefangen war, war alles andere als das hierzulande besungene Shangri-La, das Land in dem die Menschen frei und glücklich waren…

Das Jahr 1959 – das ist die Zäsur in Tibets Geschichte. Denn als die chinesische Zentralregierung nach einer zehnjährigen Übergangszeit in der Provinz Tibet (dem späteren Autonomen Gebiet Tibet) Sklaverei und Leibeigenschaft abschaffte, da erhoben sich lt. “westlich-demokratischem” Mainstream die Tibeter zu einem Volksaufstand gegen die menschenverachtenden kommunistischen Besatzer. Doch wer genau hinschaut, der stellt fest: es war nur ein Aufstand des geistlichen und weltlichen sklavenbesitzenden Adels, der sich mit dem gesellschaftlichen Fortschritt nicht abfinden wollte.

Mit den hierzulande aber immer noch grassierenden Mythen über Tibet und seine früheren Herrscher aufzuräumen, das ist Ettingers Anliegen und darauf nimmt der Untertitel seines Buches sehr deutlich Bezug: “Staat, Gesellschaft und Ideologie im real existierenden Lamaismus”. 


Zeitzeugen richtig gelesen

Ettinger verwendet für seine Analyse chinesische Quellen nur sehr sparsam. Bewusst greift er auf die zahlreiche (westliche) Literatur aus der Feder von Dalai-Lama-Freunden, wie Heinrich Harrer, Ernst Schäfer, Peter Aufschaniter und Alexandra David-Néel als Augen- und Zeitzeugen, zurück, die wohl eher ungewollt auch die unschönen Seiten des Lama-Paradieses enthüllten. Oder wie Ettinger über Harrer, den sogenannten “Lehrer und persönlichen Freund” des 14. Dalai Lama schreibt: Dieser gelte noch heute als Übervater der Free-Tibet-Szene. Diese habe ihn “allerdings gerade dort, wo er einigermaßen authentisch und glaubwürdig ist, nicht wirklich gelesen.” (S. 10) Und gerade solche Passagen zitiert Ettinger ausführlich – und dies in Verbindung mit Fotos aus jener Zeit.

Cover

Gerade die historischen Fotos, insbesondere die von Ernst Schäfer aus dem Jahre 1938, dokumentieren in aller Deutlichkeit, wie armselig und alles andere als menschenfreundlich das Leben in der brutalen klerikalen Diktatur der Lamas tatsächlich gewesen ist. Schäfer sollte übrigens im Auftrag der SS-Führung herausfinden, ob es sich beim Lamaismus um eine arische Urreligion handele.

Jedem der 31 Kapitel sind einige “Kopfzitate” vorangestellt, die verschiedene Standpunkte, z.T. sehr gegensätzliche, zum Ausdruck bringen. Sie sollen, so Ettinger, nicht nur konträre Sichten zeigen, sondern vor allem zum Nachdenken und zum Hinterfragen der Dalai-Lama-Apologien anregen.

Über sein Anliegen schreibt Ettinger: “Besondere Aufmerksamkeit werden wir allerdings dem widmen, was eine gewisse westliche Öffentlichkeit (viel zu) wenig interessiert: Wir wollen uns dem real existierenden und dem historischen Tibet statt dem mythisch verklärten zuwenden. Wir wollen nicht bloß von Gottheiten und Riten, von Glauben und Traditionen reden, sondern auch von Hunger, Schmutz und Krankheit, von Besitz- und Machtverhältnissen, von Arbeitsbedingungen, Gewalt, Verbrechen und sexuellem Missbrauch, von Technik, Bildung und ärztlicher Versorgung (und von ihrem Fehlen!).” (S. 12) Und wie es dazu kam, dass via Hollywood und anderer geschickter PR ein solches Tibet-Bild in die Welt gesetzt wurde, das die Lama-Diktatur zum Non-Plus-Ultra von Harmonie, Friedfertigkeit, Seligkeit etc. erklärt und den 14. Dalai-Lama zum gottgleichen Übervater der gesamten Menschheit…

Wie es im alten Tibet tatsächlich aussah, das wird u.a. in den Kapiteln 4 “Feudalismus, Theokratie, Diktatur” und 5 “Leibeigene, Sklaven, Bettler und Banditen” skizziert. Etwa 200 Familien stellten den geistlichen und weltlichen Adel, herrschten als Großgrundbesitzer über den Rest der Bevölkerung. So hätten die Klöster 37 Prozent und der weltliche Adel 25 Prozent sowie der Staat (für die Versorgung seiner Beamten) 38 Prozent des Acker- und Weidelandes besessen. Als Beispiel wird nur ein Kloster, nicht mal das mächtigste, angeführt: Es habe “mehr als 180 Lehnshöfe mit 20.000 leibeigenen Bauern und 16.000 nomadisierenden Hirten” besessen. (S. 35) Ja, selbst die Klöster seien eine Klassengesellschaft gewesen, wie es im 9. Kapitel “Mönche in Lumpen, Lamas in Gold und Seide” geschildert wird. Nahezu die gesamte nichtadlige Bevölkerung war analphabetisch und selbst unter den Mönchen habe die Analphabetenrate bei 90 Prozent gelegen.

Schätzungen aus dem Jahre 1959 gehen von folgender klassenmäßiger Zusammensetzung der tibetischen Bevölkerung aus: 5 Prozent Adel, 15 Prozent Kleriker (adlige Lamas und einfache Mönche), 20 Prozent nomadisierende Hirten und 60 Prozent Leibeigene bzw. Sklaven.

In anderen Kapiteln werden “Bildungswesen” (bestehend aus dem Auswendiglernen religiöser Texte), “buddhistische Medizin” (bestehend aus Exzorzismus, Reliquien, Lama-Urin und noch Ekligerem), “Tierliebe, die durch den Magen geht”, das “Shangri-La ohne Toiletten, Kanalisation und Müllabfuhr” und diverse religiöse Praktiken beschrieben. Aber auch der grausame, archaische Strafkatalog und der Vollzug von Todes- u.a. brutalsten Körperstrafen, und nicht zuletzt die fast beispiellose Frauenverachtung, sexueller Mißbrauch etc.

In Kapitel 16 “Feudaler Prunk für den Klerus, Stock und Knute für die Frommen” heißt es u.a.: “Der Dalai-Lama, dem Mönchspolizisten stets den Weg freiprügelten, sei kein Papst, kann man von westlich-buddhistischer Seite manchmal lesen. Das ist positiv gemeint. Der 14. Dalai Lama gibt ja gegenüber Journalisten und Verehrern aus unserem Kulturraum gerne den ‘einfachen Mönch’. Er weiß natürlich: Bescheidenheit kommt immer gut an.” (S. 133) Ettinger zitiert hierzu den kommunistischer oder aufklärerischer Ideen absolut unverdächtigen Harrer: “Das Volk selbst kennt keinen Luxus.” Die Tibeter seien dafür aber die perfekten Untertanen, ein Volk, das nicht nur äußerlich, sondern auch seelisch versklavt ist…

Tibet unter den Lamas – ein Land von freien Menschen und der Friedfertigkeit? Nein, “Furcht und Schrecken”, so ein Fazit im 19. Kapitel, “waren in Tibet offenbar unentbehrlich zur Aufrechterhaltung der klerikal-feudalistischen Gesellschaftsordnung. Die buddhistische Religion war Ausdruck, ideologische Legitimation und wichtigstes Mittel zum Erhalt dieser ‘Ordnung’.” (S. 164)

Kriminalgeschichte des Lamaismus

Sehr informativ und höchst aufschlußreich dürfte für den deutschen Leser das Kapitel 21 “Mit Schwert, Dolch und Gift: Kurze Kriminalgeschichte des Lamaismus” sein. Hier wird in einem kurzen historischen Überblick u.a. beschrieben, wie sich im früheren Königreich Tibet eine lamaistische Sekte, die Gelugpa, selbst an die Macht bringen konnte und wie diese mit Intrigen und Bürgerkriegen gegen andere lamaistische Sekten alles für den Erhalt ihrer Macht tat. So dass Ettinger schlußfolgert, dass sich der Lamaismus “in keiner Weise vorteilhaft von anderen Religionen abhebt”. 
Statt christlicher “Nächstenliebe” habe hier lediglich die Leere von “Mitgefühl” zur ideologischen Begründung der Allmacht des Klerus herhalten müssen. Dem 14. Dalai Lama und all seinen Jüngern, wie Franz Alt z.B., widersprechend, schreibt Ettinger: “Bürgerkrieg, Raub, Mord und Totschlag – wie man sieht, sind wir vom frommen Märchen des zutiefst friedfertigen und sanften Völkchens auf dem Dach der Welt, das von weisen, heiligen Männern zu allem Mitgefühl, materieller Anspruchslosigkeit und ‘Spiritualität’ erzogen wurde, weit entfernt.” (S. 189)

Nicht zuletzt “grüne” Weltverbesserer sind zu Jüngern des Dalai-Lama geworden und preisen das alte Tibet und seinen letzten feudaltheokratischen Herrscher als Vorbilder der für Ökologie und Nachhaltigkeit. Darauf geht Ettinger dezidiert in seinem 25. Kapitel “So ‘grün’ waren die Lamas” und schließt dieses mit den Worten: “Dass das ökologische Festtags-Gerede des Dalai Lama bis heute nichts anderes ist als billige Bauernfängerei mit Blick auf ein naives Westpublikum, das beweisen die Zustände im ‘freien Tibet’ en miniature, das man in Dharamsala besichtigen kann.” (S. 212) – Die indische Stadt Dharamsala beherbergt den Dalai Lama und seine Exil-Gemeinde…

Warum nun aber gilt das alte Tibet “im Westen” als ein gelobtes Land? Dieser Frage geht Ettinger in Kapitel 30, überschrieben mit “Land der Mythen, Märchen und… Lügengeschichten” nach. Darin stellt er u.a. diese Frage: “Was ist es, das von Fernweh Getriebene und Sinnsucher aus dem Westen am alten Tibet so sehr faszinierte und weiter fasziniert? - Offenbar ist es die riesige Distanz, räumlich wie zeitlich, die uns von Tibet trennt, die in der geographisch-kulturellen Entfernung gründende Exotik…” (S. 249) Und was die “dem Westen” aufgetischten Lügenmärchen angeht, so bringt er dafür ein besonders prägnantes Beispiel – das des “Leibarztes” Choedrak. Wobei dem unbefangenen Leser sich allein schon bei dessen Lektüre darin etliche Widersprüche auftun und historische Fakten zu deutlich unwahr sind (wie die Daten von ersten erfolgreichen Organtransplantationen).

Warum beim Thema Tibet oft der Verstand aussetzt

Mit Bezug auf ein europäisches Märchen in der 31. Kapitel-Überschrift schließt Ettingers Streitschrift: “Trotz Nobelpreis und offizieller Lobhudelei: Der Kaiser ist nackt!”

Passend dazu das erste Kopfzitat dieses Kapitels: “Der größte Triumph, zu dem moderne PR verhelfen kann, besteht im geradezu überirdischen Erfolg, dass das eigene Reden und Handeln nach dem Image beurteilt wird und nicht etwa umgekehrt. Der ‘geistliche Führer Tibets’ nimmt diese unangreifbare Stellung seit geraumer Zeit ein und wurde zu einem Synonym für heilige und ätherische Werte. Ich werde nie verstehen, wieso das die Menschen nicht misstrauisch macht. Christopher Hitchens” (S. 259)

Ettinger geht der unausgesprochenen Frage nach, warum sogar bei ansonsten religionsfreien und sich selbst als Linke verstehenden Menschen in Europa der Verstand aussetzt, wenn es um Tibet oder den 14. Dalai Lama geht. Er schreibt dazu, und er soll an dieser Stelle etwas ausführlicher zitiert werden: “Wer für Wunderglauben, Scharlatanerie und Frömmelei nicht viel übrig hat, wer sich innerlich vom Kirchen-Christentum distanziert, weil es ihm intolerant und heuchlerisch erscheint, wen der Zynismus empört, den manche Vertreter der ‘Religion der Nächstenliebe’ durch die Jahrhunderte an den Tag gelegt haben, wer Gottesgnadentum und gottgewollt ständische Gesellschaftsordnungen ebenso ablehnt wie sklavischen Führer- und Personenkult, (…) wer eine offene tolerante Gesellschaft einer starren, totalitären, der Tradition bedingungslos verhafteten und geistig versklavten vorzieht, wer Demokratie, Menschen- und Bürgerrechte für universell gültige Werte hält (…), der wird schwerlich im Lamaismus und in seinem obersten Repräsentanten irgendetwas Positives und Unterstützenswertes finden.” (S. 259–260)

So sollte es eigentlich sein, aber leider… Bei nicht wenigen setzt ja ausgerechnet bei diesem Thema der Verstand aus. Solche Menschen sollten sich fragen, solchen Menschen muss man die Frage stellen, “warum man gemeinsame Sache ausgerechnet mit den hohen Lamas und Aristokraten machen kann, aus denen das tibetische Exil hauptsächlich besteht und die in ihm den Ton angeben. Mit jenen Kräften und Schichten also, die für die beschriebenen Zustände in ihrer alten Heimat verantwortlich waren und deren Widerstand gegen jede Veränderung dieser Zustände letztlich zu ihrem Exil geführt hat.
Die hohen Lamas und Aristokraten von der tibetischen ‘Exilregierung’ sind höchst fragwürdige ‘Freiheitskämpfer’, und ihre Ziele sind sicher nicht im Interesse der großen Mehrheit der Tibeter, deren Eltern und Großeltern im ‘freien Tibet’ ein kurzes, elendes Leben als weitgehend rechtlose Leibeigene unter der Knute von Klerus und Adel fristeten. Definiert man Freiheit nicht als Freiheit der Klöster (…) und der großen Landbesitzer, von der Arbeit ihrer Leibeigenen zu leben, oder als Freiheit geistig versklavter und in völliger Unwissenheit gehaltener Menschen, sich vor einem angeblichen Gottkönig in den Staub zu werfen (…), dann waren die meisten Tibeter – bei allen verbleibenden, zweifellos schwerwiegenden Problemen in Tibet und in ganz China – zu keiner Zeit in ihrer Geschichte freier als heute.”
(S. 260–261)

In diesem Kapitel wird auch auf die “westliche Free-Tibet-Lobby” eingegangen und ihr ein verheerendes Zeugnis ausgestellt, nicht zuletzt weil diese “die Realität ausschließlich durch eine antikommunistische und antichinesische Brille wahrnimmt” (S. 263) bzw. wahrnehmen will. Auch den allermeisten Journalisten kann in diesem Zusammenhang nur ein ähnlich verheerendes Urteil ausgestellt werden: “Sonst sehr selbstbewußsste und distanzierte Journalistinnen und Moderatorinnen schalten beim Dalai Lama auf verklärten Blick, Wimpernschlag und blitzende Augen um.” (S. 265) Denn, so Ettinger, “der Dalai Lama oder besser sein Image ist ein reines Produkt moderner public relations, ein lebender Beweis für die Macht der Werbung, ähnlich wie Coca Cola oder Mc Donald’s.” (S. 264)

Dem ist wahrlich nichts hinzuzufügen. Und wer dies nicht glauben will, der sollte Ettinger lesen und sogar auch solche Zeitzeugen wie Harrer & Co. Nicht umsonst geht es in diesem Buch nicht um verklärende Mythen, sondern um den real existierenden Lamaismus! Ettingers knappes Fazit lautet, dass das alte Tibet unter der Herrschaft des Lama-Adels eine zutiefst inhumane, grausame, tyrannische und korrupte Feudalgesellschaft war und dass dieses Tibet auch absolut nicht als medizinisch oder ökologisch vorbildlich gelten kann.

Diese Streitschrift, die das Zeug zum Standardwerk hat, besticht nicht nur durch wissenschaftliche Akribie und Stil, sondern auch durch seine buchkünstlerische Gestaltung, die Fabio Biasio besorgte.

Angekündigt ist ein weiteres Buch Albert Ettingers, “Kampf um Tibet – Geschichte, Hintergründe und Perspektiven eines internationalen Konfliktes”, über das aufstrebende Autonome Gebiet Tibet und das weltweite Agieren des 14. Dalai Lama und der ihm hörigen Exiltibeter nach 1959. 


 


Albert Ettinger: Freies Tibet? Staat, Gesellschaft und Ideologie im real existierenden Lamaismus. 292 S. m. Abb. Klappenbroschur. Zambon-Verlag. Frankfurt 2014. 15,00 Euro. ISBN 978–3–88975–232–1