Rezension

Ein Priester rechnet mit seiner Kirche ab – und hofft auf Veränderung

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Laut Autor Rothe sollen bis zu 30 Prozent der katholischen Priester homosexuell sein.

Für gläubige außenstehende Katholiken ist es vermutlich ein erschütterndes, aufschlussreiches Dokument: Einmal mehr bestätigt sich deutlich: Religion und Kriminalität liegen zuweilen sehr dicht beieinander. Der Titel "Missbrauchte Kirche" verdeutlicht die Kritik und das Verständnis von Kirche des Geistlichen Wolfgang F. Rothe und seinen Wunsch, dass sich etwas tut.

Dieses autobiographisch geprägte Buch wurde geschrieben vor dem Hintergrund der Erkenntnis des Autors, dass die heile katholische Welt, in der er lange zu leben glaubte, eine Illusion war. Man muss dem Zentrum katholischer Macht sehr nahe gekommen sein, um etwas so detailliert und grundlegend beurteilen und beschreiben zu können, gepaart mit fundierter Kenntnis aufgrund eines anspruchsvollen Theologiestudiums. Rothe will an innerkirchlicher Veränderung mitwirken. Als überzeugter Christ verbleibt er in der christlich-religiös katholischen Tradition, was ihm die gesetzlich verbriefte Religionsfreiheit zugesteht. Selbst tritt er für wesentlich mehr Freiheiten innerhalb kirchlicher Strukturen ein, als dies derzeit möglich ist.

Für gläubige außenstehende Katholiken ist es vermutlich ein erschütterndes, aufschlussreiches Dokument. Einmal mehr bestätigt sich deutlich: Religion und Kriminalität liegen zuweilen sehr dicht beieinander. Ob Rothe längerfristig Priester oder Pfarrer wird bleiben können, wird sich zeigen; zum jetzigen Zeitpunkt versorgt ihn seine Kirche beziehungsweise Gemeinde noch gut. In der Regel landen auch in Ungnade gefallene katholische Amtsinhaber finanziell vergleichsweise weich. Der Titel "Missbrauchte Kirche" verdeutlicht Rothes Kritik und Verständnis von Kirche und seinen Wunsch nach Veränderung.

Unersättliche Machtlust und Menschenverachtung

Er bekennt im Vorwort, dass der Akt des Schreibens dieses Buches eine Qual, aber auch eine Befreiung von Trugschlüssen der katholischen Kirche war, die er im System unersättlicher Machtlust und Menschenverachtung sieht: Dies käme vorrangig in der lebensfremden Sexualmoral zum Ausdruck. Er ist überzeugt, dass Missstände nur überwunden werden können, wenn man sie klar und offen beim Namen nennt. Dies ist der Hintergrund dieses Erfahrungsberichtes in sechs Kapiteln mit anschließendem reflektierenden Exkurs. Das Nachwort stammt von Doris Reisinger, die selbst innerkirchliche Missbrauchserfahrungen erlitt und öffentlich gemacht hat. 

Sehr gelehrt, geschult und belesen selbst in kirchenkritischer Fachliteratur, womit er seine Kritik belegt, zieht Rothe den Schluss, man müsse kirchlicher Sexualmoral als Machtinstrument seine Wucht und Schärfe nehmen, um es von einer Waffe zum (Schutz-)Schild zu verwandeln; folglich fordert er eine entsprechende Abrüstung. Die Einführung des Pflichtzölibats sei, nachgewiesen durch Hubert Wolf, in erster Linie durch "ökonomische Interessen" begründet worden. Kirchengeschichtlich wie theologisch gut belegt zeigt der Autor die Linien der Entstehung, Veränderungen und Verschiebungen der kirchlichen Sexuallehren auf, die die christliche Moral zur kleinlichen "Geschlechtsverkehrsordnung" erniedrigt habe (S. 53). Am derzeitigen Papst Franziskus sei lobenswert, dass er eine Abneigung habe, sich ständig mit den Schlafzimmergewohnheiten anderer Leute zu beschäftigen, wodurch es in Sachen Sexualmoral erheblich stiller geworden sei als unter seinen Vorgängern; dies läge aber auch an den aufgedeckten Missbrauchsskandalen, die zu einer fundamentalen Erschütterung geführt hätten.

Im zweiten Kapitel erläutert er genauer, was gemeint ist: Zu den "Auserwählten" und "letzten Gerechten" zu gehören, die Gott auf den rechten Weg geführt habe – diejenigen, die die offizielle katholische Sexualmoral komplett geschluckt hatten. Seine Beschreibung der Begegnungen mit Mitgliedern des Opus Dei, die totalitäre Kontrolle über ihre Mitglieder ausüben, vom Terminkalender über das Bankkonto bis hin zur Unterwäsche, sind gruselig.

Eine Weile Mitglied der Katholischen Pfadfinderschaft Europas (KPE), führt ihn seine Ausbildung und Arbeit über Würzburg nach Eichstätt und Regensburg. Er trifft auf einen entschiedenen Vertreter der Frauenordination, der sein bisheriges Verständnis vom Katholizismus etwas erschüttert, den er aber selbstbewusst angreift. Rothes Interesse am Kirchenrecht ist geweckt, doch er will immer noch Priester werden – nur nicht Ordenspriester. Das Thema Sexualität wurde in der KPE von allen Priestern verurteilt, auch wenn es bei deren Abwesenheit kein Thema war. Mit der bizarren Leidensmystik der Organisation Das Werk konnte er nichts anfangen. Er entschied sich für ein kirchenrechtliches Promotionsprojekt in St. Pölten.

Neue Ansichten

Sein Exkurs zur Stellung und Aufgabe der Frauen in der Kirche ist aufschlussreich, da es früh aufkommenden Zweifel – resultierend aus reiner Beobachtung und Erfahrung mit den genannten Orden, in der Frauen auf rein dienende Funktionen in unterwürfiger, versteckter Weise reduziert wurden – konkret ausführt. In den 90er und 2000er Jahren begegnet er auf Reisen nach England zum ersten Mal ordinierten Frauen, Priesterinnen, der Church of England. Fasziniert und irritiert erkennt er, dass seine bisherige Ablehnung der Frauenordination lediglich auf Gewohnheit beruht (S. 71) und stellt die lehramtliche Logik komplett in Frage; sie ist nicht "wahr", weil sie nicht der Wirklichkeit entspricht. Das Priestertum sei ein Leitungsdienst, der denjenigen Macht über diejenigen verleiht, die diese nicht haben: Frauen.

Cover: "Missbrauchte Kirche"
Buchcover (© Droemer HC)

Er zitiert die ehemalige Ordensfrau Doris Wagner zur merkwürdigen Kleiderordnung (altes Zeug aus Nachlässen Verstorbener, zwei bis drei Nummern zu groß, wadenlange langweilige Röcke, nur gedämpfte Farben) – Sachen, "die meine eigene Großmutter nicht getragen hätte" (S. 82), die erklärt: "Indem wir unsere Körper so gut wie möglich … versteckten, schützten wir unsere Mitbrüder vor der Versuchung, der sie ausgesetzt wären, wenn unsere Kleidung die Weiblichkeit unserer Körper sichtbar gemacht hätte", denn "… Männer sind in diesen Angelegenheiten schwächer als Frauen. Deswegen liegt die größere Verantwortung bei uns". Rothe merkt an, "dass ein hoher Anteil der Priester … schwul ist" (S. 83), das Ganze also ein "falsches Konstrukt" sei.

1996 zum Priester geweiht, rückt Rom – der Traum – in greifbare Nähe, über ein Studium an der Päpstlichen Universität vom Heiligen Kreuz, gegründet 1985 durch Opus Dei. Im Aufnahmeverhör wird die Linientreue der Kandidaten getestet. Die Zimmerbelegung in ungeraden Zahlen soll die Bildung von Liebespaaren erschweren (S. 94). Falls es sie dennoch gibt, ist ein potenzieller Ankläger in der Nähe, der – wenn er Pech hat – selbst missbraucht wird (S. 95), in einem perfiden System totalitärer Religiosität. Die straffe Betreuung seiner Dissertation in einem Jahr durch Prof. Gänswein brachte ihn wieder schneller nach St. Pölten; Gänswein und Rom blieben ihm fremd: Rothe hatte sich in Rom getäuscht, welches sich als glattes Gegenteil eigener Überzeugung und Glauben entpuppte: "Clericus clerico lupus" (der Klerus ist des Klerus' Wolf).

Er begegnet Priestern, die sich regelmäßig in Darkrooms und Parks austobten, oder Frau und Kinder zu Hause hatten oder in schwuler Partnerschaft lebten (S. 104). Sein Schirmherr Nuntius Squicciarini informierte ihn auf dem Weg zur Privataudienz beim Papst: "Um hier zu arbeiten, muss man entweder Atheist oder ein Heiliger sein" (S. 104). "Das kirchliche Eherecht", der "Wasserkopf des katholischen Kirchenrechts", lehrt die "prinzipielle Unauflöslichkeit" der Ehe mit Akribie und Intensität, was Rothe detailreich in aller Widersprüchlichkeit beschreibt (Kopula-Theorie, sakramentaler Sex, Kontinuitätskosmetik usw.), den Vergleich mit "wie ein bisschen schwanger" nicht scheuend (S. 111). Der Ausschluss Geschiedener und Wiederverheirateter von der Kommunion wird kundig in Frage gestellt.

"Um hier zu arbeiten, muss man entweder Atheist oder ein Heiliger sein"

Zurück in St. Pölten und zum Diakon geweiht, wird Rothe Sekretär, Referent für kirchenrechtliche Fragen und Zeremoniar des papstloyalen Bischofs und erlebt die Machtstreitereien um unterschiedliches Verständnis von Katholizismus. Dessen Verständnis von Loyalität ging so weit, bei sich häufenden Anzeigen (angeblicher?) sexueller Fehltritte Opfer zu Tätern zu machen und umgekehrt, sich öffentlich als Moralapostel gebend, hinter den Kulissen aber als "Zölibats-Zerberus über die körperliche Unterwelt des Klerus zu wachen" (S. 126). Feinde auf beiden Seiten wurde das Priesterseminar zum konservativsten, unter Beobachtung stehend, aber nicht den extremen Organisationen zugehörend. Als 2003 auf einem öffentlich zugänglichen PC im Seminar Kinderpornos entdeckt werden, arbeitet er gerade an seiner Dissertation; kriminalpolizeiliche Ermittlungen verlaufen im Sande, das Ganze gelangt weltweit in die Medien. Am wenigsten erschüttert zeigt sich der zu Das Werk gehörige Pater aus Rom, der dies als Teufels Beitrag betrachtet. In Sachen Zölibat plädiert Rothe für Freiwilligkeit; das Problem sei nicht das Ideal, sondern die Illusion.

Im fünften Kapitel setzt er sich mit Homosexualität auseinander, die von Opus Dei-Visitatoren mit geheimdienstartigen Methoden bewiesen werden soll. "… bis zu 30 Prozent der katholischen Priester" sollen homosexuell sein (S. 156). Nachdem Rothe Schwulsein unterstellt, er seiner Ämter enthoben, mundtot gemacht und zu spirituell verbrämter Psychotherapie unbefristet in ein Kloster eingewiesen werden soll, bricht er zusammen und stürzt aus ungeklärter Ursache vom Balkon des 1. Stockes. Gezwungen zur Einnahme von Psychopharmaka und sich 2005 in kirchlichem Auftrag psychiatrisch-psychologischer Begutachtung forensischer Ausrichtung zu unterziehen, führt dies zu keinen fundierten Aussagen über eine homosexuelle Orientierung. Selbst plädiert er für Gleichstellung und -behandlung von Hetero- und Homosexuellen, da die kirchlich-christliche Ablehnung sich an die Antike anlehne, nicht aber an moderne Hermeneutik.

Im letzten Kapitel geht es dezidiert um Macht. Als Endergebnis kann festgestellt werden: Die katholische Kirche ist definitiv keine vertrauenswürdige Institution, auch nicht für eigene Leute. "Alternative Fakten", wie man sie in Trumps Regierungszeit durch Kellyanne Conway kennenlernte, gibt es auch auf katholischer Seite (vielleicht schon viel länger) – zumindest eine "alternative Fakteninterpretation". Man kann nur hoffen, dass die gewünschte moderne Hermeneutik nicht zu solchen "Alternativinterpretationen" führen möge. Was irritiert: Die meisten Katholiken (und andere Menschen) scheinen sich dessen nicht bewusst zu sein, dass die Kirche nach eigenem Rechtssystem urteilt und vorgeht, säkulares Verfassungsrecht der BRD (und anderswo) zum Teil schlicht ignorierend. Das gehört zu ihren Privilegien, die sie ungern aufgeben möchte – aus guten Gründen.

Wolfgang F. Rothe, Missbrauchte Kirche. Eine Abrechnung mit der katholischen Sexualmoral und ihren Verfechtern. 272 Seiten, Droemer HC, München 2021, 20 Euro, E-Book: 17,99 Euro ISBN 978-3-426-27869-7

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