Deutschland Deine Kinder (1)

Frau Doktor

An manchen Tagen kam Frau Dr. Rother zur ärztlichen Untersuchung in das Büro von Schwester Eugena. Die Oberin vom Kinderheim ließ sich die Bettnässer der einzelnen Gruppen vom Kinderheim vorführen und von Frau Dr. Rother untersuchen. Bei Frau Dr. Rother gab es, wie bei jeder Untersuchung, strenge Regeln. Alle Bettnässer standen nackt vor der Oberin und der Frau Doktor. Es gab erst mal Schläge mit dem Lederriemen. Erst von der Schwester Oberin, dann von der Frau Doktor. Frau Doktor, die nach der „Sonder-Behandlung“ jedem Kind eine rosa Pille (Bonbon) in den Mund steckte. Beide Frauen passten auf, dass die Pillen von den Kindern auch runtergeschluckt wurden. Ein Getränk für die Kinder gab es nicht.

Der 1. Schultag

Mit dem 6. Lebensjahr wurde Roswitha in die Städtische Nikolai-Schule eingeschult. Sie war schüchtern und verängstigt und musste sich erst an die neue Situation gewöhnen. An ihrem ersten Schultag bekam sie ein neues Kleid und ein paar neue Schuhe. Die Unterwäsche in einem frischen Weiß und neue lange braune Strümpfe. Sie hatte so schöne Sachen noch nie angehabt. Abgelegte Kleidungsstücke, es waren aufgebügelte Sachen, fast neu, die sie nun weiter abtragen durfte. Stolz hielt sie ihre Einschultüte, die mit einem Apfel gefüllt war.

Beispielbild
1.Schultag, Roswitha ist rechts zu sehen
Die Schwestern behandelten Roswitha mit einer gewissen Verachtung. Zigeuner, so nannte auch die Nonne Serapa die kleine Roswitha gleich von erstem Tag an, als sie zu ihr in die Gruppe kam. Sie hieß nun Zigeuner und alle Kinder und Schwestern im Kinderheim nannten sie so. Das Lernen in der Schule fiel ihr sehr schwer. Bei den Hausaufgaben war sie, wie immer, auf sich alleine gestellt. Nach den Untersuchungen bei Frau Dr. Rother konnte sie sich oft nicht auf die Schularbeiten konzentrieren, sie hatte Aussetzer und konnte sich an die Aufgaben, die der Lehrer ihr gab, nicht mehr erinnern.

„Du da, komm mal her Zigeuner“, hörte sie die Schwester Serapa rufen, wenn sie in irgendeiner Ecke abgesondert von den anderen saß. Wenn sie sich beim Spielen unbeobachtet fühlte, schaukelte sie schnell ihren Oberkörper nach vorne und wieder zurück. Am Abend vor dem Einschlafen bewegte sie ihren Kopf hin und her, das Schaukeln mit ihrem Körper im Bett beruhigte Roswitha. Nach all den Jahren mit den Nonnen im Kinderheim vergaß sie, wie ihr richtiger Name war. Sie glaubte, sie hieß Zigeuner, das war ihr Name.

In den ersten Tagen ihrer Einschulung wurde ihr Name von der Nonne Serapa auf alle Schulhefte geschrieben. Ich heiße Roswitha? Als Roswitha nach einiger Zeit endlich lesen konnte, war sie doch etwas erstaunt, das war ihr Name? Die Schwester rief noch immer „Zigeuner“. Es erschreckte sie, das war doch nicht mein Name …! Sie wusste ja jetzt, ich heiße in Wirklichkeit, Roswitha. An den Namen Roswitha musste sie sich erst gewöhnen, denn auch die Lehrer riefen Zigeuner.

Das Bettnässen ließ nicht nach. Sie hatte immer Angst und schämte sich auch dafür. Sie versuchte, am Abend noch mal auf die Toilette zu gehen. Das war nicht möglich. Die Toiletten wurden, nachdem alle Kinder ins Bett geschickt wurden, abgeschlossen. Bettnässerin blieb sie bis zu ihrem 15. Lebensjahr. Es war das Jahr 1954.

Kommunion

In ihrem 10. Lebensjahr ging sie zur 1. Kommunion. Die Nikolaikirche war geschmückt mit vier großen weißen Schleiern, die von der Decke aus mit Blumen wunderschön ausgestattet waren. Sie freute sich, denn es war ihr Tag. Die Kirche extra für sie geschmückt. Stolz hielt sie ihre Kerze, die sie in einem weißen Spitzentaschentuch in die Kirche trug. Die Kirche war in der Nähe vom Kinderheim. Sie sah die anderen Kinder aus der Stadt und jetzt fühlte sie sich nicht mehr so einsam. Jetzt war sie eine von denen. In diesem Moment fühlte sie sich mit den Stadtkindern verbunden. Im Heim gab es ein gutes Frühstück mit Kuchen, Roswitha fühlte sich wohl, es war nicht wie sonst beim alltäglichen kargen Frühstück.

Beispielbild
Rosis Kommunion
Keine Blechteller, sondern an diesem Tag wurde von Porzellan gegessen. (Ab sofort gab es das Porzellan auch an den Wochentagen für die Kinder.) An diesem Tag sah sie das erste Mal ihre Familie. Sie hatte ihre 1. Kommunion empfangen, etwas ganz Besonderes ging in ihr vor. Roswitha hatte „Jesus Christus in sich und war von allen Sünden befreit“, an ihre letzte Beichte wollte sie an diesem Tag nicht denken. Mit diesem Glückgefühl ging sie nach diesem festlichen Gottesdienst, ihre Kerze stolz in der Hand und mit den Klängen der Orgel-Musik mit den anderen Kommunion-Kindern aus der Kirche. Die Schwestern vom Kinderheim gingen voran und sahen sehr freundlich aus. Roswitha glaubte fest daran, keine Schläge mehr von ihnen zu bekommen, jetzt wo sie „Jesus Christus empfangen hatte“. Ihre glücklichen Gefühle waren überwältigend.

Zur Kaffeezeit meldete sich Besuch für sie an, Schwester Serapa rief sie ins Besuchszimmer, es waren ihre Mutter, die Großmutter und Anni ihre älteste Schwester, die sie an diesem Tag besuchen durften. Nicht mal an Anni konnte sie sich erinnern, sie konnte mit diesen Fremden nichts anfangen. Keine Beziehung, keine Einordnung dieser neuen Situation war ihr möglich. Sie kamen als Fremde und gingen nach der Kaffeezeit als Fremde.