1950
Bei den Frischlingen
Der Missbrauch beginnt in einer kleinen Stadt am Rhein. Der Tatort: eine katholische Kirche, ein Beichtstuhl. Ein Kind wird sehr inquisitorisch über seine Keuschheit befragt. Der finstere Mann in dem unheimlichen Kasten kann nicht genug Details aus ihm herausfragen. Wie oft? Wo? Allein oder mit anderen? Als Buße für seine Sünden, die es nicht versteht, bekommt das Kind drei „Vater unser“ und drei „Gegrüßet seist du Maria” aufgebrummt.
Das Kind bin ich.
Eine wahrlich geniale Erfindung: Der Mann im Kasten, der mir eben die Sünden eingeredet hat, ist auch der, der sie mir daruf gleich wieder vergibt. Und nebenbei ist für ihn und seine Erbauung sogar auch noch etwas abgefallen.
Ob der Papst in seinem Erlass zur Beichte, in dem er „Unkeuschheit vor, in oder nach der Beichte“ besonders verwirft, wohl meinen „Einzelfall“ im Auge hatte?
Von nun an kommt mir alles ziemlich sündig vor. Mädchen, Frauen, mein Körper, Sünde, alles Sünde. Zumal der große Zauberer, der mich samstags im Beichtstuhl so streng einvernommen hat, sonntags im Hochamt einen höchst beeindruckenden Auftritt hinlegt: irrwitzige Festkleidung, blauer Weihrauchsqualm, wichtiges Gebrabbel, mächtiges Orgelbrausen, eine sehr eigene Choreographie mit drei Schritten rechts, drei Schritten links, wieder Gebrabbel, diesmal mit Gefuchtel in der Luft. Selbst meine Eltern gehen auf seinen Befehl hin zu Boden. Vor uns singt eine Frau sehr laut: “Ave Jesu, wahres manhu, genitori genitoque, laus et jubilatio”. Ich bin beeindruckt. Endlich jemand, dem man glauben kann. Und muß.
Wie ich zu meinem “Peiniger SJ” kam …
Mit meinem eigenen kleinen Sündenrucksäckchen bin ich also schon bestens präpariert, als es zur Aufnahmeprüfung am Aloisiuskolleg geht. Am Fuße des heiligen Berges muss sich mein Vater von mir verabschieden: “Geh nur den ganzen Leuten mit ihren Kindern nach, dann kommst du oben richtig an.”
Ich stehe mit meinen neun Jahren etwas verloren in der Menschenmenge vor dem Kolleggebäude. Da kommt ein riesiger Mann in einem schwarzen Rock auf mich zu. Den breiten Gürtel, der sein Gewand hält, hat er fast bis unter die Achseln gezogen. So kommt er mir noch größer und gewaltiger vor. Er lächelt mir auf eine seltsame Art und Weise zu. Trotzdem fühle ich mich unbehaglich. Was ich noch nicht weiß: Ich bin dem Mann begegnet, der mich drei Jahre lang mit seltsamen Wünschen und seltsamen Ritualen in Angst und Schrecken versetzen wird.
Der schwarze Riese leitet auch die Aufnahmeprüfung. Es sitzen so viele Jungen in diesem Klassenraum mit den hölzernen Bänken. Aber warum ist er ständig an einem Platz? Warum legt er beim Diktat seinen Riesenfinger auf die “langstiehlige Schippe”? Warum hilft er mir flüsternd bei der Rechenaufgabe, die ich nicht ganz verstanden habe.
Von wegen – Früherinnerungen gibt es nicht! Ich kann ihn heute noch riechen.
Zwischen 1950 und 1953 bestellt mich der große schwarze Mann in unregelmäßigen Abständen in sein Zimmer. Es liegt irgendwo am Ende eines langen Flures im Kollegsgebäude. Ich muß immer am späten Nachmittag kommen.
Es ist, wie es immer ist: Der große schwarze Mann legt sich auf sein Bett und ich soll im Raum umhergehen. Dabei läßt er mich nicht aus den Augen. In der Ecke steht ein Betstuhl. Auf dem Schreibtisch liegen Klassenarbeitshefte. An der Wand hängt ein Bild des Gekreuzigten. Die Wunden müssen furchtbar weh tun. Nach endlosen Minuten, ich weiß ja, was jetzt kommt, weil es immer kommt, muß ich mich zu ihm auf die Bettkante setzen. Dann fängt er an, mich zu befingern. Ich erstarre zur Salzsäule. Er greift in meine Hose. Hinter mir liegend, tut seine Hand, was sie will. Mein Ekel ist unbeschreiblich.
Die unregelmäßigen Abstände meines Erscheinens in der Klausur erklären sich im Nachhinein sehr einfach: Da er für die Aufnahmeprüfungen zuständig ist, gibt es wohl stets Nachschub nach eigener Wahl. Auch bei den Badeausflügen in die abgelegene Natur („Blauer See“) wird er wohl reichlich Vergleichsmöglichkeiten gehabt haben.
Für den Knaben von damals kaum ein Trost. Als wir in Geschichte den Damokles behandeln und sein Schwert, weiß ich, was über mir hängt.
Meinen Eltern werden diese nachmittäglichen Bestellungen ins Kolleg – ich war externer Schüler – schließlich unheimlich. Eines Abends höre ich, wie meine Mutter meinen Vater fragt, ob er sich denn nun endlich erkundigt habe. Meine Beine werden schwach. Jetzt kommt alles heraus! Alle Sünden, alles. Dann höre ich den Vater beruhigend zur Mutter sagen, sie solle sich keine Sorgen machen, es gehe bloß um seelsorgerische Fürsorge…
Ein anderer Mann in schwarz. Nicht so wie der Riese. Aber jähzornig bis zum äußersten. Wir haben ihn in Religion. Einmal wird die ganze Klasse in das Haus vor den Toren des Kollegs bestellt. Er hat es für seine Jugendarbeit zugewiesen bekommen. Er führt uns in einen Gruppenraum. Wir sollen uns schon einmal setzen, sagt er. Wir lassen uns an den Wänden nieder. Dann ist er verschwunden. Wir sitzen da, eine Schulstunde lang, ratlos. Auf einmal fällt mir auf, daß in der Zimmertür im oberen Feld eine Ecke der Verglasung fehlt. In diesem Loch blinkt das Brillenglas unseres Religionslehrers rhythmisch zu dem, was man nicht sehen kann.