Deutschland Deine Kinder (Teil 2)

Das Aloisiuskolleg, eine Eliteschule?

Wie wurde man überhaupt Elite? Durch eine brutale und (a)soziale Auslese über mehrere Instanzen: Zunächst verbreitet man (mit wenig Berechtigung) überall das Gerücht, man sei eine Eliteschule. Das schreckt schon einmal die ersten ab! Gut so. Als nächste Stufe kommt die Aufnahmeprüfung, dann folgt ein hemmungsloses Aussieben in den unteren Klassen. Kurz vor dem Prima noch bricht man noch schnell den schwächeren Schülern das Genick, denn am Aloisiuskolleg fällt bekanntlich keiner im Abitur durch.

Was in den oberen Klassen an Schülern am Ende übrig blieb, waren sozusagen Selbstläufer, die eigentlich auch ohne die vielen mittelmäßigen Lehrer hätten auskommen können. Am besten hätte man ihnen einfach ein paar Bücher auf das Pult gelegt.

Mit 16 Jahren hatte ich das Landesbestenzeugnis mit Urkunde und Geldprämie und beschloss, in den Gleitflug zu gehen. An der Universität Bonn hörte ich Vorlesungen bei den Professoren Speiser, Lützeler, von Einem und Bandmann. Im Vergleich mit Freunden von anderen Schulen begriff ich bald, daß wir Akoschüler (außer in Latein) in allem meistens nur Durchschnitt gewesen waren. Und manchmal sogar bloß nur Nieten.

Ich möchte, nachdem ich mich so schmerzhaft an das erinnert habe, was mir bei den Patres widerfahren ist, noch einige andere Gedanken anschließen:

Die goldene Abiturfeier (50 Jahre) schlug die erste Bresche in die Schweigemauer, mit der ich mich umgeben hatte. Während der gedanklichen Auseinandersetzung mit dem Ereignis brach völlig unerwartet über mir alles zusammen, ein richtiger Dammbruch. Aber outen? Nicht vor der Klasse! Ich habe anschließend nur wie beiläufig zu meinen beiden besten Freunde gesagt, ich sei damals missbraucht worden. Ansonsten habe ich lediglich gehörig Dampf abgelassen zu unserem scheinheiligen Aufsatzthema “Die Kultur der Seele ist die Seele der Kultur – interpretieren Sie dieses Wort von Michael Kardinal Faulhaber“. Zur Seele habe ich nichts gesagt, aber einiges zu dem Münchener Kardinal und Hitlerverehrer.

Mit 18 Jahren hatte ich meine erste Freundin. Sie war von einer anderen Schule gekommen. Wir waren insgesamt vier Jahre zusammen und haben auch gemeinsam unser Architekturstudium begonnen. Sexuell war ich der perfekt abgedrehte Jesuit. Sünde! Sünde! Sünde! Wir haben nie zusammen geschlafen. Ich habe immer die Flucht ergriffen und alles von mir weggeschoben. Diese Abwehrmechanismen sitzen leider bis heute.

Ein halbes Jahrhundert nach meinem Missbrauch und nach 46 Jahren Ehe habe ich dann die ganze Geschichte öffentlich gemacht in einem Film, den der WDR hier in Menton gedreht hat. Hier hat meine Frau zum erstenmal von allem erfahren und unter Tränen erkennen müssen, warum die ganze Familie in der zurückliegenden Zeit so unter mir manchmal hatte leiden müssen, aber jetzt verstünde sie wenigstens einiges besser.

Josef Ratzinger war selbst von 1959 bis 1969 des öfteren am Aloisiuskolleg. Er kennt meinen Peiniger persönlich. Als Papst und oberster Aufklärer sollte er endlich die abertausend Missbrauchstaten aus den Akten des Vatikans offenlegen und mutig zu seiner eigenen Schuld an diesen Vorfällen stehen. Noch 2001 verlangt er in seinem “De delictis gravioribus” das Schweigen, anderweitig drohe Ausschluß und Exkommunikation. Dass der Missbrauch dem “pontifikalen Geheimnis” unterliege, ist nur eine Umschreibung für weiteres Lügen und weiteres Vertuschen, eine Haltung, die viele neue Opfer kosten wird.

Hans Küng spricht öffentlich von “Ratzingers Verantwortung” und Eugen Drewermann meint, er denke mit Schaudern an die ungezählten weiteren Missbrauchsfälle in Ländern wie Polen, Spanien, Portugal, Lateinamerika. Ländern also, in denen die katholische Kirche noch die Macht hat, alle Vorfälle mit dem Gesetz des Schweigens zu belegen. Dass man aus diesen Ländern so wenig in dieser Angelegenheit hört, läßt für mich also eher den Schluss zu, dass dort die katholische Omerta noch funktioniert.

Was wir als Missbrauchsopfer zur Zeit in Deutschland erleben, ist immer noch allzu oft die Fortsetzung dieses arroganten Verhaltens der Kirche. Wenn wir nicht vereinzelte Bekenntnisse zu den Schandtaten des Ordens erzwungen hätten, wäre es weiter still in der selbsternannten Hochburg von Ethik und Moral.

In den 1860er Jahren gab es im Preußischen Abgeordnetenhaus schon einmal eine Debatte zu Missbrauchsfällen an katholischen Schulen: Rudolf Virchow, der berühmte Arzt und Naturwissenschaftler, sagte damals, er habe zunächst an Einzelfälle geglaubt, jetzt wisse er, es liege in der Struktur dieser Einrichtungen.

Man kann ihm nur zustimmen. Hat sich bis heute wirklich etwas daran geändert? Die welt- und menschenfremde Leibfeindlichkeit der engen katholischen Lehre erweist sich auch heute noch am gipsweißen Aloisius in der Eingangshalle des Kollegs. Nicht nur ich frage mich, wie man heute noch eine Schule nach einem jungen spanischen Adeligen benennen kann, der mit zehn Jahren das “Gelübde der ewigen Jungfräulichkeit” abgelegt hat.

Wie wenig er übrigens als Schutzpatron der Jugend taugt, habe ich an mir selbst erfahren, als ich als Sextaner an jenen dunklen Nachmittagen ihm vorbeigeschlichen bin auf dem Weg zu meinem jesuitischen Peiniger...