Nur Pyrrhussieg oder Juristischer GAU?

STRASSBURG. (hpd) Mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Kreuzen in den staatlichen Schulen Italien zeigt sich eine intellektuelle Unredlichkeit hoher Richter, die eine gesellschaftliche Gefahr bedeutet.

Ein Beitrag von Gerhard Czermak

Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter (J. W. v. Goethe).

In wenigen Verfassungsrechtsfragen ist die Scheidelinie zwischen exegetischem Bemühen und schlichter „Ideologiejurisprudenz“ so schlecht markiert wie bei der Beurteilung der religiösen und weltanschaulichen Aktivitäten des Staates (Friedrich v. Zezschwitz, in: Juristenzeitung 1971 S. 11).

Neueste Belege für diese Zitate (für die auch die deutsche Justiz schon viele Beispiele geliefert hat) sind die Kruzifix-Urteile der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 18.3.2011 (EGMR) mit Minderheitsvoten, engl.; (hpd-Dokumentation) und des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs vom 9. März 2011 und „Wiener Schmäh“.

Sicher kann man die pseudojuristischen Versuche, das hoheitlich angebrachte Kreuzsymbol mit zumindest teilweise lächerlichen Begründungen machtpolitisch zu halten, wie Carsten Frerk in seinem informativen und sympathischen Kommentar mit humorigem Augenzwinkern als „Pyrrhussieg“ abtun.

Aber das ist nur eine Teilsicht. Aus dem Blickwinkel eines grundrechtsbewussten Staatsbürgers kann einem das Augenzwinkern zumindest vorübergehend auch vergehen. Denn solche Entscheidungen untergraben zugunsten von religiösen Wahrheitsaposteln und Machtpolitikern die europäische Rechtskultur.

Wenn höchste Gerichte über solche weltanschaulich aufgeladenen Fälle entscheiden, sollte man erwarten dürfen, dass sie besonders sorgfältig vorgehen und wenigstens die wichtigsten anerkannten Rechtsanwendungsregeln beachten. In Fragen der Weltanschauung scheren sie sich aber häufig nicht darum. Für das Kreuz im Klassenzimmer öffentlicher Schulen haben allerdings das Schweizerische Bundesgericht 1990 und das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 1995 befunden, sie seien unzulässig wegen verfassungswidriger religiöser Zwangsbeeinflussung in einem Staat, der sich religiös-weltanschaulich stets neutral verhalten muss. Neutral, d.h. (ungeachtet zahlreicher Einzelfragen der Praxis) ohne eine dem Staat zurechenbare einseitige Einflussnahme. Trotz der Beleidigungen, öffentlichen Hetze und massiven juristischen Angriffe von Traditionalisten ist die Entscheidung des BVerfG heute wenigstens rechtstheoretisch weitgehend anerkannt.

Nicht anders als die genannten beiden Entscheidungen hat auch die Kleine Kammer des EGMR mit ihrem Urteil vom 3.11.2009 im italienischen Fall Lautsi entschieden. Warum sie sensationell gewesen sein soll, ist insofern nicht ersichtlich, als nicht nur das Recht der EU, sondern auch die Rechtsprechung des EGMR mit dem Prüfungsmaßstab Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) die Gleichheitsrechte traditionell betont. Durch die hanebüchene Entscheidung des italienischen Staatsrats als oberster Gerichtsinstanz von 2006, wonach das Kreuz „zu einem der laizistischen Werte der italienischen Verfassung geworden“ sei und „die Werte des bürgerlichen Lebens“ repräsentiere, hat sich die Kleine Kammer des EGMR daher nicht beeinflussen lassen. Die der EMRK unterworfenen Mitgliedsstaaten seien im öffentlichen Unterricht, in dem den Schülern kritisches Denken vermittelt werden soll, an die konfessionelle Neutralität gebunden. Gerade im besonders sensiblen Schulbereich mit seinen Abhängigkeiten dürfe der Staat einen religiösen Glauben auch nicht indirekt aufzwingen. Das hauptsächlich religiös zu verstehende Kreuz, ein „starkes äußerliches Zeichen“, sei integraler Bestandteil des schulischen Umfelds, könne nicht unbemerkt bleiben und für Andersdenkende „emotional störend“ sein. Zur Gegenargumentation heißt es zusammenfassend: „Dem Gerichtshof ist nicht klar, in welcher Weise die Anbringung eines Symbols, das vernünftigerweise mit dem Katholizismus – der in Italien vorherrschenden Religion – identifiziert wird, in den Klassenzimmern öffentlicher Schulen dem erzieherischen Pluralismus dienen könnte, welcher für den Erhalt einer demokratischen Gesellschaft im Sinne der EMRK essentiell ist.“ Ganz generell erklärt die Kammer am Schluss, der Staat habe die „Pflicht, bei der Ausübung öffentlicher Funktionen, vor allem im Bereich der Erziehung, Neutralität zu wahren.“ Daher sei das religiöse Bildungsrecht der Eltern (Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls ) in Verbindung mit Art. 9 EMRK (Religionsfreiheit) verletzt. Auf das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK komme es gar nicht mehr an. Diese Entscheidung ist deswegen so bedeutsam, weil sie von sieben Richtern je verschiedener Länder einstimmig getroffen wurde.

Das alles meinte die Große Kammer des EGMR jetzt mit 15:2 (!) Stimmen wegwischen zu sollen mit folgenden wesentlichen Erwägungen: Zwar muss der Staat das religiöse Elternrecht beachten und schreibt die italienische Gesetzesregelung vor, durch das Anbringen von Kruzifixen der Mehrheitsreligion eine dominante Sichtbarkeit in der Schule zu geben. Das reicht aber nicht aus, um von einer staatlichen Indoktrinierung zu sprechen. Denn das Kruzifix ist ein passives Symbol und sein etwaiger Einfluss auf die Schüler nicht nachweisbar. Der Staat hat daher bei der Abwägung seiner Schulkompetenz mit dem Elternrecht einen Beurteilungsspielraum, der hier mangels Indoktrination nicht überschritten ist, denn der Staat verhält sich tolerant gegen alle. Dass nur zwei der Richter diese Sichtweise nicht teilten, überrascht nicht nur wegen der einhelligen Gegenmeinung der Erstinstanz. Denn das Urteil erwähnt das fundamentale Gebot der Neutralität/Gleichbehandlung nicht einmal. Würde sich der Staat neutral verhalten, wäre mangels eines religiös-weltanschaulichen Symbols eine Abwägung mit dem Individualrecht gar nicht erforderlich. Die Große Kammer sagt sinngemäß, der jeweilige Staat darf nach Gutdünken für eine Religion Partei ergreifen, wenn nur der ausgeübte Druck nicht so groß ist, dass er die Grenze zur (nicht definierten) Indoktrinierung überschreitet. Dabei darf die Religionsfreiheit nach Art. 9 II EMRK nur durch solche Gesetze eingeschränkt werden, die in einer Demokratie notwendig sind im Interesse der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung, Gesundheit und Moral. Aber das erwähnt der EGMR wohlweislich erst gar nicht.

Schlussbemerkung: Durch die Richterschaft des EGMR geht ein tiefer Riss. Die Große Kammer stellt sich außerhalb der langjährigen Rechtsprechungslinie des EGMR und außerhalb der Rechtslage der EU (Antidiskriminierung). Sie lässt anscheinend bewusst wesentliche Gegenargumente unberücksichtigt und ist daher intellektuell unredlich. Zwangsläufig entsteht der Eindruck, das Gericht beuge sich massivem Druck einer international anrüchigen Regierung mit zynischer und schamloser Stimmungsmache sowie dem massiven Druck der hauptbegünstigten religiösen Richtung. Der insgesamt angesehene EGMR hat ein verheerendes Beispiel gegeben und politisch-ideologischen Hardlinern Auftrieb verschafft. Diesen geht es aber nicht um’s Recht und um faires Argumentieren, sondern nur um das ihnen opportune, mit allen Mitteln zu erzielende Ergebnis. Dieses braucht nicht zu überzeugen, sondern soll Macht demonstrieren. Man kann nur auf gerichtsinternen und internationalen rechtswissenschaftlichen sowie gesellschaftlichen Widerstand hoffen, so dass das Urteil Episode bleibt.

 

Detaillierter zur rechtlichen Kreuz-Problematik von G. Czermak: Buchauszug