Klimaschutz ist ein Menschenrecht

Votum für eine messbare Klimapolitik

Klares Urteil der Richter: Laxe Klimapolitik verletzt Menschenrechte. Was die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) bedeutet, erläutert Klimarechtlerin Jannika Jahn vom Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht.

In dem bislang größten Klimaverfahren weltweit stellten sich die Richter des höchsten europäischen Gerichts auf die Seite des Vereins KlimaSeniorinnen Schweiz, einer Gruppierung von über 2.000 überwiegend älteren Frauen. Ein Drittel von ihnen sei über 75 Jahre alt, wie das Gericht mitteilte. Die von Greenpeace initiierte Gruppe hatte geklagt, weil sie sich durch mangelnde Klimaschutzmaßnahmen in ihrem Recht auf Leben sowie auf Privat- und Familienleben verletzt sah. Die Frauen führten an, dass die Gesundheit Älterer durch zunehmend stärkere und längere Hitzewellen besonders gefährdet sei. Ziel war es, die Schweizer Regierung zu strengeren Klimagesetzen zu verpflichten. Die Richter entschieden, dass der klagende Verein, der die Rechte der betroffenen Seniorinnen vertrat, beschwerdebefugt war (locus standi) und sah manche Rechte der vertretenen Frauen, die sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ergeben, als verletzt an. Mit Blick auf die Klimagesetzgebung der Schweiz stellte der Gerichtshof fest, dass die Schweizerische Eidgenossenschaft ihren Pflichten ("positive Verpflichtungen") aus der Konvention zum Klimaschutz nicht nachgekommen ist.

"Urteile wie dieses haben eine enorme Strahlkraft auf die Klimarechtsprechung weltweit. Sie klären die Verantwortlichkeit der Staaten, in denen die Menschenrechtskonvention gilt, und ihrer Organe für eine lebenswerte Zukunft", erklärt Jannika Jahn, Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. Das Urteil habe Signalwirkung. Zwar betrifft das erst einmal nur die Schweiz, deren Klimagesetzgebung als nicht ausreichend angesehen wurde. "Der EGMR mit Sitz in Straßburg wacht über die Einhaltung der Menschenrechtskonvention in allen europäischen Ländern, die Mitglied des Europarates sind." Darunter fallen nicht nur die 27 Länder der EU, sondern auch andere große Länder wie die Türkei oder Großbritannien.

"In einem bislang ersten gesamteuropäischen Klimaurteil erkennt der Gerichtshof an, dass Klimaschutz im Wege der Konventionsrechte eingeklagt werden kann", erklärt Jahn.

Kontrolleur für Paris-Ziele

Das Gericht sieht sich in der Rolle eines Kontrolleurs und prüft erstmals, ob die Staaten ihrer Pflicht, die Folgen der globalen Erwärmung für die Bevölkerung durch geeignete Gesetze und Maßnahmen zumindest abzumildern, nachkommen.

"Unterlässt ein Staat es, hinreichende rechtliche Vorkehrungen gegen die fortschreitende Erderwärmung zu ergreifen, verletzt er das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, was in Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert wird", erläutert Jahn. Aus der Konvention folgerten die Richter, dass vor allem nicht quantifizierbare CO2-Reduktionsziele den menschenrechtlichen Anforderungen nicht genügten. Die Schweiz hatte in ihrer Klimagesetzgebung auf eine Budgetierung des Treibhausgasausstoßes verzichtet. "Aus dem Urteil ergibt sich eine Pflicht, aktuelle Klimazielsetzungen auf wissenschaftlicher Basis zu überprüfen, zu evaluieren und entsprechend nachzubessern", so die Juristin. Freilich nicht vorgeben könne das Gericht, wie ein neues Klimagesetz auszusehen habe und welche Mittel zur Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels die Schweiz wähle. Dies liege im Ermessen der Konventionsstaaten.

Für die CO2-Emissionen eines Landes ist diese Rechtsprechung ein Novum. Der EGMR hatte sich zuvor schon mit Umweltemissionen wie etwa Lärm oder Luftverschmutzung auseinandergesetzt.

Klimaschutz ist Menschenrecht

Besonders gründlich hatte der Gerichtshof die Menschenrechtsverletzung hergeleitet. Artikel 8 der Konvention gewähre ein Recht des Einzelnen auf wirksamen Schutz durch die staatlichen Behörden vor den schwerwiegenden nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels auf sein Leben, seine Gesundheit, sein Wohlergehen und seine Lebensqualität. In diesem Zusammenhang bestünde die Hauptpflicht eines Vertragsstaates darin, Vorschriften und Maßnahmen zu erlassen und in der Praxis anzuwenden, die geeignet sind, die bestehenden und potenziell unumkehrbaren künftigen Auswirkungen des Klimawandels abzumildern.

Bei der Schaffung des einschlägigen nationalen Rechtsrahmens stellte der Gerichtshof "kritische Lücken" fest, "unter anderem versäumten es die Schweizer Behörden, die nationalen Emissionsbegrenzungen für Treibhausgase (THG) durch ein Kohlenstoffbudget oder auf andere Weise zu quantifizieren". Außerdem habe die Schweiz ihre Ziele zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen in der Vergangenheit nicht erreicht. Das Gericht erkannte zwar an, dass "die nationalen Behörden bei der Umsetzung von Rechtsvorschriften und Maßnahmen über einen weiten Ermessensspielraum verfügen". Die Richter stellten auf der Grundlage des ihnen vorliegenden Materials jedoch fest, "dass die schweizerischen Behörden nicht rechtzeitig und in angemessener Weise gehandelt hatten, um die einschlägigen Rechtsvorschriften und Maßnahmen in diesem Fall zu konzipieren, auszuarbeiten und umzusetzen."

Und in einem weiteren Punkt obsiegte der klagende Verein: Weil die Schweizer Gerichte die Klage des Vereins bereits als unzulässig abgewiesen hatten, verstieß die Schweiz auch gegen Artikel 6 der Konvention. Die Gerichte hatten nicht überzeugend argumentiert, warum sie die Begründetheit der Klimaklage nicht geprüft hatten. Der EGMR sah darin eine Verletzung des Rechts auf Zugang zum Gericht.

Nur Verein KlimaSeniorinnen hatte Erfolg

Keinen Erfolg hatten die Seniorinnen selbst oder die sechs jungen Menschen aus Portugal, die sich gegen ihr Land und 32 weitere Staaten des Europarates wandten. In ihrem Fall lehnte der Gerichtshof die Klage als unzulässig ab. Sie hätten zunächst den Instanzenzug in ihrem Heimatland durchlaufen müssen, führten die Richter und Richterinnen aus. Gegenüber den anderen 32 Staaten verneinten die Richter eine Klagebefugnis.

In einem dritten Fall hatte ein ehemaliger Bürgermeister aus Frankreich wegen unzureichender Klimaschutzmaßnahmen gegen den französischen Staat geklagt. Auch er bekam nicht Recht, da er zum einen nicht mehr dort wohnte und sich zum anderen als staatliches Organ nicht auf die Menschenrechte berufen konnte.

"Dass der Gerichtshof tatsächlich nicht den Seniorinnen individuell, dafür einem Verein die Beschwerdebefugnis – locus standi – zuerkennt, ist wichtig", sagt Jahn. "Dieser handelt nicht nur im Interesse seiner Mitglieder, sondern auch im Interesse der Allgemeinheit und künftiger Generationen mit dem Ziel, einen wirksamen Klimaschutz zu gewährleisten", zitiert Jahn aus dem Urteil. Mehrmals betonen die Richter, dass der Klimawandel vor allem die künftige Generation betrifft. "In diesem Kontext, in dem die Verteilung der Lasten zwischen den Generationen besonders wichtig ist ... kann kollektives Handeln durch Verbände oder andere Interessengruppen eines der einzigen Mittel sein, durch das die Stimme derjenigen gehört werden kann, die in Bezug auf die Repräsentation deutlich benachteiligt sind, und durch das sie versuchen können, die relevanten Entscheidungsprozesse zu beeinflussen."

Präzedenzfall ja, Klagewelle vielleicht

Ob das Urteil eine Klagewelle vor nationalen Gerichten hervorrufen wird, wird sich zeigen. Weltweit ziehen bereits Betroffene wegen unzureichendem Klimaschutz vor Gericht. Auch Deutschland muss sich vor dem EGMR verantworten. Hier klagen neun Jugendliche mit Unterstützung der Deutschen Umwelthilfe gegen das neue Klimagesetz, dessen Vorgänger bereits das Bundesverfassungsgericht 2021 als ungenügend kassiert hatte. "Anders als im Schweizer Fall orientieren sich die deutschen Klimagesetze an messbarer CO2-Reduktion. Es wird hier um die Frage gehen, ob die im Klimagesetz niedergelegten CO2-Reduktionsziele ausreichen, um das Pariser Temperaturziel zu erreichen und ob sie insofern den menschenrechtlichen Anforderungen entsprechen", erklärt Jahn. Der Sachverständigenrat der Bundesregierung für Umweltfragen hatte zuletzt berichtet, dass Deutschland seinen fairen Anteil an einem 1,5-Grad-kompatiblen CO2-Budget bereits überschritten habe und die Emissionen darum sehr viel stärker senken müsse.

Auf die Umsetzung kommt es an

Dass die Schweiz den Richterspruch umsetzen muss, ergibt sich aus der Menschenrechtskonvention selbst. Das Ministerkomitee überwacht die Durchführung. "Sollte ein Land ein Urteil partout nicht umsetzen wollen, kann das Komitee den Gerichtshof erneut mit der Sache befassen", erklärt Juristin Jahn. "Dazu reicht eine Zwei-Drittel-Mehrheit aller stimmberechtigten Mitglieder."

Zum Nachlesen: Urteil vom 09.04.2024, (Verein KlimaSeniorinnen Schweiz and Others v. Switzerland, Application no. 53600/20)

Michaela Hutterer für mpg.

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