In Polen trat am 27. Januar 2021 eines der strengsten Gesetze gegen legale Schwangerschaftsabbrüche in Kraft. Als Ausnahme galten nur noch die Gefahr für das Leben der Schwangeren, sexualisierte Gewalt und Inzest. In einem Einzelfall wurde nun einer Frau eine Entschädigung zugesprochen.
M. L. war in der 14. Woche schwanger, als sie erfuhr, dass ihr Fötus Trisomie 21 hatte. Sie entschied sich, die Schwangerschaft abzubrechen. Zum damaligen Zeitpunkt sah die Gesetzgebung noch mehr Ausnahmen für legale Abtreibungen vor: Gefahr für Gesundheit und Leben der schwangeren Person, eine Schwangerschaft als Konsequenz sexualisierter Gewalt oder Inzests – und die unheilbare Erkrankung des Fötus. M. L. erhielt einen Termin zum legalen, medizinisch begleiteten Schwangerschaftsabbruch für den 28. Januar 2021. Dieser Termin wurde jedoch mit Verweis auf das zum 27. Januar 2021 in Kraft tretende neue Gesetz gestrichen.
M. L. reiste in eine private Klinik in den Niederlanden, wo sie auf eigene Kosten die Schwangerschaft beenden ließ. M. L. klagte.
Sie brachte ihr Leid vor, das sie wegen ihrer Ängste bezüglich der Schwangerschaft und zudem allein und fern ihres familiären Netzwerks in den Niederlanden ertragen musste. Sie verlangte eine Entschädigung von 50.000 Euro. Hinzu kamen ihre Auslagen bezüglich medizinischer Versorgung, Reise und Unterbringung von 1.220 Euro und 5.025 Euro Ausgaben für juristischen Beistand. Obwohl sie ihren juristischen Beistand pro bono erhielt, sah sie eine Zahlung dieser Summe durch den polnischen Staat als gerechtfertigt an. Die Richterinnen und Richter urteilten schließlich mit fünf gegen zwei Stimmen im Sinne der Klägerin. Zum einen hatte der Prozess zum Schwangerschaftsabbruch bereits begonnen und die Klägerin sich für den legalen Abbruch qualifiziert. Zum anderen entspreche das polnische Verfassungsgericht, welches die Änderung des Abtreibungsrechts bestätigt hatte, nicht dem Rechtsstaat. Wie das Urteil im Prozess XERO FLOR gegen Polen aufzeigt, wurden die Richter*innen des Verfassungsgerichts nicht regelkonform gewählt.
Die Forderungen der Klägerin sah der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als zu hoch an. So wurde die Entschädigungssumme von 50.000 Euro für immaterielle Schäden auf 15.000 Euro plus anfallende Steuern festgesetzt. Hinzu kamen 1.004 Euro plus anfallende Steuern für materielle Schäden. Dabei entschied der Gerichtshof, dass Kosten für im Ausland erbrachte medizinische Behandlungen nicht von der nationalen Gesundheitsversorgung gedeckt seien. Da die Klägerin keine juristischen Kosten vorweisen konnte, entschied sich der Gerichtshof auch gegen eine Erstattung.
Die Entscheidung fiel nicht einstimmig aus. Alena Poláčková, Ivana Jelić, Gilberto Felici, Erik Wennerström und Raffaele Sabato entschieden für M. L. Gegen sie stimmten – wenig verwunderlich – Krzysztof Wojtyczek aus Polen und Péter Paczolay aus Ungarn.
Während M. L. zumindest eine Erstattung von Kosten und einen Sieg gegen das an ihr begangene Unrecht vorweisen kann, zeigt sich für andere ungewollt Schwangere keine Verbesserung der Situation. Wer nicht ins Ausland reisen kann, weil die finanziellen Mittel nicht vorhanden sind oder zum Beispiel die Kinderbetreuung nicht gesichert ist, muss ein ungewolltes Kind austragen. Hinzu kommt der Druck auf medizinisches Personal, nicht der Abtreibung bezichtigt zu werden. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch sieht in Polen gar eine Jagd auf Ärzt*innen und Schwangere. Ein Umstand, der die junge Izabela Ende 2021 das Leben kostete. Sie starb an einer Sepsis im Krankenhaus, weil Ärzt*innen sich nicht trauten, ihren nicht lebensfähigen Fötus zu entfernen.
Die Entscheidung M. L. zu entschädigen ist das zweite Urteil gegen Polen in dieser Woche. Am 12. Dezember hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bereits im Sinne Przybyszewskas und weiterer geurteilt, dass die fehlende Anerkennung und der Schutz von gleichgeschlechtlichen Paaren eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens darstellt.