Eine säkulare Gerechtigkeitstheorie

(hpd) Der US-amerikanische Sozialphilosoph John Rawls (1921-2002), bekannt durch den vertragstheoretischen „Klassiker“ der Moderne „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ (1971), beschäftigte sich sowohl in seiner Jugend wie im Alter in zwei Texten einmal affirmativ und einmal kritisch mit der Religion.

Der von Thomas Nagel herausgegebene Band „Über Sünde, Glaube und Religion“ dokumentiert diese Schriften und ergänzt sie um drei ausführliche Kommentare von ihm, Joshua Cohen und Robert Merrihew Adams, sowie in der deutschen Ausgabe von Jürgen Habermas.

Der US-amerikanische Sozialphilosoph John Rawls (1921-2002) gehörte schon zu Lebezeiten zu den „Klassikern“ der politischen Theorie. Mit seinem Hauptwerk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ (1971) knüpfte er methodisch an die vertragstheoretischen Konzepte der Neuzeit an und entwickelte daraus auf vernunftrechtlicher Basis seine beiden Prinzipien der Gerechtigkeit: Danach standen erstens allen Individuen die gleichen Grundfreiheiten und –rechte zu. Und zweitens schienen Rawls soziale Unterschiede nur dann legitim, wenn sie letztendlich wiederum dem am schlechtesten Gestellten nützen und alle Ämter grundsätzlich auch allen Individuen offen stehen würden. Religion spielte in diesem Verständnis von Gerechtigkeit als Fairness keine besondere Rolle. Über Rawls Auffassungen dazu geben zwei posthum veröffentlichte Texte von ihm aus unterschiedlichen Lebensabschnitten Auskunft. Der Philosoph Thomas Nagel hat sie herausgegeben und mit Kommentaren von ihm selbst, Joshua Cohen und Robert Merrihew Adams versehen.

Erstens handelt es sich dabei um „Eine kurze Untersuchung über die Bedeutung von Sünde und Glaube“, die 1942 von dem erst einundzwanzigjährigen Rawls an der Princeton University eingereichte Abschlussarbeit. Darin argumentierte er mit einem erstaunlich tiefen Einblick in philosophisches und theologisches Denken noch auf Basis des religiösen Glaubens: „Die Welt ist in ihrem Kern eine Gemeinschaft, eine Gemeinschaft von Schöpfer und Erschaffenen, und sie hat ihren Ursprung in Gott“ (S. 138). Einerseits wollte der junge Rawls gegen das von ihm gemeinte Verständnis des Naturalismus angehen, andererseits sollten spezifisch christliche Probleme wie „Glaube“ und „Sünde“ anhand von Begriffen aus dem biblischen Denken wie der „Gemeinschaft“ und der „Personalität“ erörtert werden. Für den Sozialphilosophen Jürgen Habermas, der für die deutsche Ausgabe ein Nachwort beisteuerte, waren in diesen Grundzügen der religiösen Gemeinschaftsethik bereits die Inhalte von Rawls späterer säkular ausgerichteter egalitär-universalistischer Sollensethik angelegt.

Zweitens enthält „Über Sünde, Glaube und Religion“ noch den kurzen Text „Über meine Religion“ von 1997, der nach dem Tod von Rawls auf seinem Computer gefunden wurde und offenbar nur eine autobiographisch geprägte Selbstreflexion enthalten sollte. Darin bemerkte Rawls, er habe sich selbst zunächst als orthodoxer Christ verstanden und sogar eine spätere Tätigkeit als Priester erwogen. Erfahrungen als Soldat im Zweiten Weltkrieg schienen dann aber zu einem Bruch mit dieser Auffassung von Religion geführt zu haben. So fragte sich Rawls: „Wie konnte ich beten und Gott für mich oder meine Familie oder mein Land oder irgend etwas anderes, was ich schätzte und mir wichtig war, um Hilfe bitten, wenn Gott Millionen von Juden nicht vor Hitler retten würde?“ (S. 305). Später sei eine immer stärker werdende Ablehnung hinsichtlich wichtiger Glaubenssätze des Christentums in ihm aufgekommen. Im Wissen um die Verfolgung von Andersgläubigen als Ketzer durch die Geschichte dieser Religion erblickte Rawls den großen Fluch des Christentums.

Die Auffassungen des „alten Rawls“ heben demnach die Positionen des „jungen Rawls“ auf. Insofern stellt sich auch ein wenig die Frage, ob es sinnvoll war beide Texte zu veröffentlichen. In der Einleitung schreiben Cohen und Nagel denn auch, „dass Rawls nie mit dem Gedanken gespielt hatte, dass die Arbeit eines Tages publiziert werden könnte, und wenn man ihn gefragt hätte, hätte er dies gewiss abgelehnt“ (S. 11). Beide rechtfertigen diesen Schritt damit, dass sie in dem frühen Text eine bemerkenswerte Quelle für das Verständnis der Entwicklung von Rawls’ Denken sehen. In den drei beigefügten Kommentaren von Cohen, Nagel und Habermas betont man stark die Kontinuität von Rawls späterer säkularer Gerechtigkeitstheorie mit seiner frühen religiös geprägten Abhandlung. Hier stellt sich aber die Frage, ob nicht deren Inhalte im Gewand des Glaubens nicht eine säkulare Grundlage hatten. Dies erlaubte es Rawls wohl später auch, sie ohne Probleme für die Begründung seines Denkens zugunsten seiner vernunftrechtlichen Sicht dem zu entkleiden.

Armin Pfahl-Traughber

John Rawls, Über Sünde, Glaube und Religion. Herausgegeben von Thomas Nagel. Mit Kommentaren von Joshua Cohen, Thomas Nagel und Robert Merrihew Adams. Mit einem Nachwort von Jürgen Habermas. Aus dem Amerikanischen von Sebastian Schwark, Berlin 2010 (Suhrkamp-Verlag), 343 S., 26,90