(hpd) Der Historiker Timothy Snyder beschreibt in seinem Buch die millionenfache Tötung von Menschen in den beiden totalitären Regimen Hitlers und Stalins vor und während des Zweiten Weltkriegs.
Einerseits beeindruckt die Darstellung durch ihre eindringliche Beschreibung und neue Perspektive, andererseits hätte man sich zu den Interaktionen der beiden Diktaturen doch noch eine etwas ausführlichere und systematischere Erörterung gewünscht.
„Mitten in Europa ermordeten das NS- und das Sowjet-Regime in der Mitte des 20. Jahrhunderts vierzehn Millionen Menschen. Der Ort, wo alle Opfer starben, die Bloodlands, erstreckt sich von Zentralpolen bis Westrussland, einschließlich der Ukraine, Weißrusslands und der baltischen Staaten“ (S. 9). Mit diesen Worten beginnt der Historiker Timothy Snyder, der an der Yale Universität als Professor lehrt, sein voluminöses Buch „Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin“. Er berichtet darin über Ereignisse, die in anderen Publikationen bereits geschildert wurden. Dafür geschieht dies hier aus einer besonderen Perspektive: Snyder konzentriert sich auf einen bestimmten geographischen Raum und die dortigen spezifischen Verbrechen zweier totalitärer Diktaturen – auch und gerade in ihrem Wechselverhältnis: „Dies ist die Geschichte politischer Massenmorde.“ Und weiter hießt es: „Die vierzehn Millionen waren alle Opfer einer sowjetischen oder nationalsozialistischen Mordpolitik, oft in Zusammenhang mit beiden Ländern, aber keine Kriegsopfer“ (S. 12).
14 Millionen zivile Opfer
Die Darstellung setzt mit der Hungersnot in der Ukraine Anfang der 1930er Jahre mit Millionen von Opfern ein, die für den Autor durch Stalins bewusstes Kalkül starben, und geht dann zu den stalinistischen „Säuberungen“ über, welchen nicht nur Parteiangehörige, sondern an der Peripherie der Sowjetunion auch Angehörige des Bauernstandes oder von Minderheiten erfassten. Danach steht das gemeinsame Vorgehen von Hitlers und Stalins Truppen in Polen zwischen 1939 und 1941 im Zentrum des Interesses, starben dort doch zahlreiche Menschen durch deren Erschießungsaktionen. Besondere Aufmerksamkeit finden dem folgend die Massenmorde an den Juden durch die deutsche Seite, wobei der Autor immer wieder darauf hinweist, dass deren Großteil durch Erschießungen und nicht durch Vergasungen erfolgte. Und gegen Ende widmet sich Snyder noch dem stalinistischen Antisemitismus, ging der sowjetische Diktator in der Endphase seines Wirkens doch auch gegen jüdische Individuen und Organisationen mit einschlägigen Behauptungen vor.
Die Zahlen wieder zu Menschen machen
Bilanzierend betrachtet fällt das Urteil zu „Bloodlands“ ambivalent aus: Einerseits beeindruckt die Darstellung durch die gewählte Perspektive, einen besonderen Raum hinsichtlich der Folgen für die Opfer und der Interaktion der Täter zu untersuchen. Dabei belässt es der Autor nicht bei abstrakten Beschreibungen, die in der Auflistung von hohen Todeszahlen münden. Immer wieder streut er anschauliche Stimmen der seinerzeitigen Opfer ein, welche einen Eindruck von der konkreten Dimension dieser Taten vermitteln. Damit erfüllt Synder mustergültig den selbstgestellten Anspruch: „Das NS- und das Sowjetregime machten Menschen zu Zahlen ... Es ist unsere Aufgabe als Wissenschaftler, diese Zahlen zu suchen und in den richtigen Zusammenhang zu stellen. Es ist unsere Aufgabe als Humanisten, diese Zahlen wieder zu Menschen zu machen“ (S. 410). Darüber hinaus will der Autor die Interaktion bei der Gewalteskalation besonders nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion einer genaueren Darstellung und Untersuchung unterziehen.
Andererseits löst er das damit einhergehende Versprechen aber bis auf wenige Ausnahmen nicht ein, wofür folgende Beschreibung steht: „Deutsche ermordeten Juden als Partisanen, und viele Juden wurde daraufhin Partisanen. Diese dienten dem Sowjetsystem und wirkten an einer Politik mit, die Vergeltungsmaßnahmen gegen Zivilisten provozierte. Beim Partisanenkrieg in Weißrussland wirkten Hitler und Stalin auf perverse Art zusammen; beide ignorierten das Kriegsrecht und eskalierten den Konflikt hinter der Front“ (S. 258). Hierzu hätte man gern mehr in Darstellung und Erörterung gelesen. Ähnliches gilt für die Feststellung: „Nur wer die Ähnlichkeiten zwischen NS- und Sowjetsystem anzuerkennen bereit ist, kann ihre Unterschiede verstehen“ (S. 391). Auch in diesem Fall wird beschreibender Stoff geliefert, aber an einer systematischen Analyse mangelt es dann doch. Gleichwohl kann und will diese Kritik nicht die Bedeutung von Snyders eindrucksvoller Erinnerung an eine Schreckenszeit im 20. Jahrhundert mindern.
Armin Pfahl-Traughber
Timothy Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. Aus dem Englischen von Martin Richter, München 2011 (C. H. Beck-Verlag), 523 S., 29,95 €