Zwischen Panikmache und Naivität

(hpd) Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 erschienen auch in Deutschland zahlreiche Bücher zum Thema „Islamismus“. Dabei konzentrierten sie sich meist auf die entsprechenden Bestrebungen in der arabischen Welt und dabei wiederum auf die gewalttätige Dimension dieses politischen Phänomens. An Darstellungen zur Situation in Deutschland im Sinne eines allgemeinen Überblicks mangelte es lange Zeit.

 

Lediglich einige journalistisch geprägte Bücher zu Aktivitäten gewaltgeneigten Gruppen erschienen in den letzten Jahren. Demgegenüber will Johannes Kandel mit seinem Buch „Islamismus in Deutschland. Zwischen Panikmache und Naivität“ eine Einführung und Gesamtdarstellung eben zu Ausmaß und Erscheinungsformen dieser politischen Bestrebungen in Deutschland präsentieren. Bereits im ersten Satz macht der Akademieleiter bei der Friedrich Ebert-Stiftung deutlich: „Der Islamismus ist eine wichtige Variante des Islam in der Gegenwart“ (S. 7), also eine mögliche Interpretation und nicht notwendigerweise ein Missbrauch der Religion.

Milli Görus und Muslimbruderschaft

Kandel definiert: „Islamismus ist Fundamentalismus in politischer Aktion mit dem Ziel der ‚islamgemäßen’ Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Errichtung eines islamischen Staates“ (S. 9). Nach solchen Begriffsklärungen und Typologien geht er kurz auf die ideen- und realgeschichtlichen Ursachen für die Ausbreitung des Islamismus ein und erörtert ausführlich das Verhältnis des Islamismus zu Antisemitismus, Demokratie, Gewalt und Moderne. Danach fragt der Autor anhand von einschlägigen Meinungsumfragen, wie stark islamistisches Denken unter Muslimen in Deutschland verankert ist. Und schließlich geht er ausführlich auf die unterschiedlichen Organisationen und Strömungen ein. Dabei findet die „Islamische Gemeinschaft Milli Görüs“ als mitgliederstärkste Kraft, die nicht über einen gewalttätigen, sondern einen schrittweisen Weg Einfluss erlangen will, ausführlich Beachtung. Aber auch das in den Medien sonst kaum beachtete Netzwerk der „Muslimbruderschaft“ in Deutschland wird näher dargestellt und eingeschätzt.

Bilanzierend bemerkt Kandel: „Der Islamismus ist in Deutschland – noch – ein Minderheitenphänomen, aber er ist eine reale Gefahr für unsere Demokratie. Die Islamisten folgen einer politischen Agenda. Entweder schrittweise und weitgehend friedlich ... oder revolutionär-militant wird die Errichtung des Scharia-Staates angestrebt. Es gibt auch in Deutschland ein Radikalisierungspotenzial von ca. zehn Prozent der muslimischen Gesamtbevölkerung und eine neue Qualität der terroristischen Bedrohung durch militante Muslime in der zweiten und dritten Generation ...“ Und weiter heißt es: Die relativ geringe Zahl der Anhänger islamistischer Organisationen sage „wenig über ihren tatsächlichen Einfluss in die muslimischen Gemeinschaften hinein aus.“ Außerdem handele es sich um Gruppen, „die sich zum Teil deutlich nach außen abschließen, oft verdeckt arbeiten und ‚double talk’ praktizieren.“ Und sie nutzen „mit großem Erfolg die virtuelle Welt des Internet, das sich bislang umfassender Beobachtung und schärferer Kontrolle entzieht“ (S. 221f.)

Wichtiger aufklärerischer Beitrag

Für Kenner der Materie liefert der Autor wenig Neues, trägt er doch im Buch das bislang bekannte Wissen aus Buchpublikationen, Medien, Umfragen und Verfassungsschutzberichten zusammen. Dadurch ist aber eine überaus informative Einführung und Gesamtdarstellung entstanden, welche zur ersten Information ebenso gut wie zum gelegentlichen Nachschlagen genutzt werden kann. Besonders positiv ist dabei hervorzugeben, dass Islamismus nicht nur als Gewaltphänomen präsentiert wird. Gerade an der Aufmerksamkeit für die Gruppen, die breiter in die muslimische wie nicht-muslimische Gesellschaft hineinwirken wollen, fehlt es doch in der öffentlichen Wahrnehmung. Hier leistet Kandel einen wichtigen aufklärerischen Beitrag. Er setzt sich dabei auch kritisch mit anderslautenden Auffassungen in der Publizistik (z.B. Werner Schiffauer) auseinander. Mitunter hätte dies und anderes etwas differenzierter und genauer geschehen können. Gleichwohl legt man damit möglicherweise einen falschen Anspruch an diese erste Gesamtdarstellung zum Islamismus in Deutschland an.

Armin Pfahl-Traughber

 

Johannes Kandel, Islamismus in Deutschland. Zwischen Panikmache und Naivität, Freiburg 2011 (Herder-Verlag), 224 S., 14,95 €