Blumig: Lob der Untreue. Eine Unverschämtheit.

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Buchtitel: Diederichs

(hpd) Nun, verschämt ist das Lob der Untreue wirklich nicht. Es geht um sexuelle Enge und Befreiung, um die Notwendigkeit der Lüge, ohne dabei die Lüge erlauben zu können, es geht um Liebe, Beziehungen und Unmöglichkeiten, es geht um Ekstase, Aggressionen und zwangsläufige Ambivalenz. Es geht, kurz, um eine neue Sexualkultur. Ein poetisches Sachbuch des Philosophen Franz Josef Wetz.

Das Lob gilt nicht nur der Untreue. Es gilt auch der Treue zu sich selbst, es gilt dem Genuss, es gilt der Lüge und dem Betrug, ohne diese legitimieren zu können oder zu wollen. Konventionen sind nötig, sonst träte Anarchie ein. Deren Übertretung jedoch ist bei aller Diskretion ein zuweilen notwendiges Ventil für den Erhalt eben dieser Konvention, notwendig für das Zusammenleben.

Doch der Reihe nach. Schon das Cover ist ein ersten Anzeichen für die Ambivalenzen, die aufgedeckt werden: Ein weißer Spitzentanga hängt am pinkfarbenen Bügel an der Blümchentapete in Petrol, Türkis und Weiß. Im Vorwort schreibt Wetz dann, dass Beziehungen, die auf Liebe basieren, auf Dauer nicht gutgehen können, zumindest nicht erotisch. Gesellschaftlich bestehen Einengungen, ein Verzicht auf Obsession und Ekstase, ein erotischer Analphabetismus. Die gestauten Triebenergien bahnen sich dennoch Wege, heimlich und mit Lügenhilfe. Wetz will mit seinem Buch Auswege aus diesem Trauerspiel aufzeigen, er will aufklären und plädiert für eine neue Sexualkultur.

Im ersten von acht Kapiteln, „Hormoncocktails und Penisgrößen“, beschreibt der Autor, wie Sex, Verliebtheit und Partnerschaft im wirklichen Leben (irgendwann) oftmals auseinanderfallen. Aus evolutions- und soziobiologischer sowie aus neurobiologischer Sicht analysiert Wetz die verschiedenen Naturkräfte, die unsere Intimbeziehungen regulieren. Auch das Handikap-Prinzip führt er an, in welchem eigentlich unnötige Attribute dem anderen Geschlecht überschüssige Kräfte und ein intaktes Immunsystem signalisieren. Immer geht es dabei um den Sieg in der Liebe.

In “Wildes Haustier –Gezähmtes Raubtier“ geht es um kulturelle Regeln, um Anstandsregeln, die fast immer Abstandsregeln sind. Denn – hier ein Beispiel für die blumige Sprache im Lob der Untreue – eine „...zivilisierte Kultur holt die von unersättlichen Begierden getriebene Bestie Mensch gleichsam aus der Barbarei zurück. Es steckt einfach zu viel schmutzige Wollust im menschlichen Begehren, als dass die öffentliche Ordnung diese dunklen Kräfte uneingeschränkt zulassen (...) könnte.“ (S. 21) So muss der Mensch die eigene Natur teilweise negieren, um zu überleben. Andererseits muss es in jeder Gesellschaft Freiräume geben, Nischen, in denen Derbheit und Aggressionen ausgelebt werden können.

„Auch Liebe hat ein Verfallsdatum“ ist neben „Lieben, Lügen und Betrügen“ eines der längsten Kapitel. Hier halten die Dichter Einzug: Fontane, Goethe, Tucholsky, Ovid oder Richard Wagner werden herangezogen, um die Liebe zu beschreiben, jene „Gefühlsinfektion des Auges, die Liebe auf den ersten Blick genannt wird“ (S. 30). Der Süße des Anfangs folgt irgendwann die Bitterkeit des Abschieds, dazwischen Alltag und nachlassende Leidenschaft, gelegentlich qualvolle Eifersucht.

Die Offenheit, mit der heute über sexuelle Dinge gesprochen wird, bedeutet, so Wetz, nicht unbedingt mehr Ehrlichkeit. Rücksichtslosigkeit und Schuldgefühle führen zur Heuchelei. Sie dienen dem Schein zur Stabilisierung der Ordnung wie auch als einen „Zufluchtsort für angehäufte regellose Energien ..., die im Widerspruch zum gültigen Normensystem stehen (...) im Hohlraum dazwischen blüht wie eh und je die Lüge“. (S. 56) Die Lüge, obgleich prinzipiell verwerflich, kann zwischenmenschlich höherwertig sein als verletzende Offenheit. Und wer lügt nicht einmal, übertreibt bei der Schilderung eigener Leistungen? Besonders wichtig sind Lüge und Heuchelei, wenn es ums Betrügen geht, um Sex mit einer anderen als der anverheirateten Person. Auch können manche Sexualpraktiken nicht innerhalb einer Partnerschaft ausgelebt werden und bedürfen der heimlichen Liebschaft. Statt ein halbes Leben zu führen, sollte man über ein Doppelleben nachdenken! Anleitungen zum angemessenen und hilfreichen Umgang mit Eifersucht und „Fremdgehen“ gibt es hier auch. Auf tragische Liebschaften geht der Autor besonders ausführlich ein, um hier noch einmal auf die Biologie zurückzugreifen, die deutlich macht, dass Monogamie im Tierreich eine seltene Erscheinung darstellt, auch wenn sich aus der Natur weder ethische noch rechtliche Regeln ableiten lassen.

Luxus, Lust und Liebe

Wollust und Völlerei gehen häufig Hand in Hand: „Lust braucht Luxus“. Inwieweit der Markt aus Sex und Liebe einen Konsumartikel gemacht hat oder ob nicht vielmehr beide Sphären ohnehin miteinander verwandt sind, wird hier eruiert. Sinnenfreudige Prostituierte, Kurtisanen des 18./19. Jahrhunderts, waren „in der Regel elegante Damen mit gehobenen Ansprüchen“ – sie beeinflussten „die anständigen Frauen“ in ihrer Geschmacksrichtung und brachten diese sogar dazu, sich regelmäßig zu waschen (S. 122). Der höfische Luxus schwappte ins städtische Leben über und heute können fast alle Menschen der westlichen Welt mehr Luxus genießen als jemals in der Menschheitsgeschichte zuvor. Der Körper als Ware steht dem Zugang zur (sexuellen) Entfaltung allerdings noch im Weg oder, im Gegenteil, er befördert diesen. Sport ist der Weg zum idealen Körper, Körperhygiene, Tattoos, Piercings und Schönheitsoperationen tun das ihre dazu.

Wie sieht denn eine neue Sexualkultur aus? Im „Abenteuer Liebesspiel“ erfahren wir mehr darüber. Der verbreitete „erotische Analphabetismus“ soll schrittweise überwunden werden (S. 132). Die Orgasmuslastigkeit steht dem entgegen, guter Sex ist, meint Wetz, experimentell und braucht Unterbrechungen, Verzögerungen und Umwege. Und Hemmungslosigkeit: „Es sind die Grimassen der lüsternen Erregung und die Fratzen des bebenden Fleisches, die in den wonnevollen Verzückungen des Lustrauschs alle Vernunft zum Schweigen und die Kehrseiten unserer zivilisierten Existenz zum Klingen bringen möchten.“ (S. 137) Weitere Ausführungen gleichen gewissermaßen einem Handbuch des Umgangs mit den eigenen sexuellen Wünschen, mit der Kunst der Begierde.

Noch einmal kommen dunkle Aggressionen zum Vorschein, in „Sexperimente und Sexplosionen“ wird die Verbindung von Lust und Gewalt(-fantasien) gezeigt. Die grundlegende Gewalttätigkeit des Menschen wurde heute Großteils in virtuelle Welten kanalisiert. Die eigenen dunklen Seiten sind den meisten fremd. Man kann sie sich aber offenherzig als etwas Ureigenes vor Augen führen. Ob wirklich das Ergötzen an den blutigen Gladiatorenkämpfen der Römer sich nur graduell von der „Genugtuung der heutigen Menschen bei der Ahndung eines Straftäters mit Freiheitsentzug“ unterscheidet, wie Wetz im Zusammenhang mit Aggression und Rachegelüsten behauptet, mag man für sich entscheiden. Das Begehren ist exzessiv und damit muss es wohl auch aggressiv sein.

„Erotische Hinterhöfe“ führt uns in den Großstadtdschungel, in dem „die unerlösten Monster unseres Trieblebens“ sich entfalten können (S. 169). Wenn wir uns trauen. Es bedarf einer Gratwanderung, in den Clubs, mit Drogen und wildem Sex, das richtige Maß zu finden. Nicht erfolglos und zurückgewiesen den Nachhauseweg anzutreten und nicht auf Dauer abzustürzen, süchtig nach immer mehr den Halt zu verlieren. Das kriminelle Milieu immer nahebei.

Fazit: Eine pulsierende Lektüre mit griffigen, wunderschönen Formulierungen, die Vieles infrage stellt, eigene Antworten findet und neugierig macht auf das Leben. Man muss nicht mit jeder These einverstanden sein, um Neues zu erfahren und manches Mal vielleicht sogar verstört zu werden. Dass es so viele Spannungen gibt in der Liebe und im Sex, die einfach nicht lösbar – nur vielleicht, und mit einigen Kosten handelbar – sind, hat bisher wohl kaum jemand so deutlich gemacht.
 

Fiona Lorenz

Franz Josef Wetz ist Mitglied des Beirats der Giordano Bruno Stiftung

Franz Josef Wetz: Lob der Untreue. Eine Unverschämtheit. Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 176 Seiten, 12,5 x 18,7 cm. ISBN: 978-3-424-35061-6, € 16,99 [D] | € 17,50 [A] | CHF 24,50* (empf. VK-Preis) Verlag: Diederichs