Plädoyer gegen die Unwissenheit

St. PETERSBURG. Seit Ende letzten Jahres wurde ein <Prozess> gegen die Darwin'sche Evolutionstheorie geführt. In dem Gerichtsverfahren fordern

die Gymnasiastin Maria Schreiber und ihr Vater, die Entstehungsgeschichte der Arten nach Darwin als dominierend vermittelte Abstammungslehre an Russlands Schulen zu verbieten. Auch wenn die Klage am Mittwoch vom Petersburger <Bezirksgericht> zurückgewiesen wurde, hat sie die weltanschaulichen Fronten in Russland verdeutlicht.

Zu Beginn dieses Jahres bekam die russlandweit geführte Debatte über den Gerichtsprozess einen ernst zu nehmenden, reaktionären Impuls von der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK). Deren höchster Vertreter Alexej II., Patriarch von Moskau und ganz Russland, erklärte am 29.01.2007 auf den <15. Internationalen Weihnachtlichen Bildungslesungen> (Russisch), die zum ersten Mal im Staatlichen Kreml-Palast in Moskau stattfanden: „Die Erkenntnis des Menschen, dass er die Krone der Gottesschöpfung ist, erhöht ihn nur. Wenn jedoch jemand der Meinung ist, er stamme vom Affen ab, solle er dies ruhig tun, seine Ansichten aber nicht anderen aufzwingen."

Damit rührte erstmals in der heutigen Zeit das Oberhaupt einer der großen Kirchenorganisationen explizit an der Evolutionstheorie, und dies auf dem laut Eigenaussage der ROK „größten Bildungsforum Russlands". An den Lesungen hatte auch der russische Minister für Bildung und Wissenschaft Andrej Fursenko teilgenommen. In seiner Rede erkannte er unter anderem an, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche eine „Schlüsselrolle" bei der Formierung von „Außenansprüchen" an das russische Bildungssystem spiele. Damit erfolgte ein weiterer der üblich gewordenen Kniefälle russischer Politiker vor der orthodoxen Kirche, die ihrerseits immer offensiver eine Art ideologisches Nachfolgemonopol der KPdSU beansprucht und die russische Gesellschaft in Sachen Ideologie, Moral, Bildung und Lebensweise zu dominieren versucht.

Am 06.02.2007 hatte sich eine Gruppe renommierter Petersburger Wissenschaftler an Bildungsminister Fursenko mit einem <Offenen Brief> (Russisch) unter dem Motto „Die Alternative zur weltlich-wissenschaftlichen Bildung heißt Unwissenheit!" gewandt.

Wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung hier der Wortlaut in Deutsch:

 

„Russland verfügt heute über zwei Trümpfe, durch die es sich innerhalb der meisten Staaten und Völker behaupten kann: das hohe Bildungsniveau seiner Bürger und die reichen Naturschätze. Die Stärke unserer Bildung hängt vor allem damit zusammen, dass diese sich auf eine wissenschaftliche Basis und eine materialistische Sichtweise der Natur stützt. Wissenschaftliche Erkenntnisse, unter anderem über die Entstehung und Entwicklung des Menschen, können keine religiösen Gefühle von irgendjemandem verletzen; genau so wenig, wie eine Wettervorhersage keine Verletzung von Gläubigen darstellt, unabhängig davon, ob sie Hitze oder Kälte mögen.

In letzter Zeit haben sich in unserem Land die Angriffe einiger klerikaler Kreise auf die wissenschaftlichen Grundlagen der Wissensvermittlung verstärkt. Besonders scharfen Angriffen unterliegt die Evolutionstheorie, welche in der Öffentlichkeit nicht nur von Schülerinnen und deren Vätern sondern auch von der Kirchenhierarchie verdammt wird. Unter dem Deckmantel „orthodoxer Kulturologie" sowie spitzfindiger Argumente zur „Demokratie" und Vielfalt im Unterricht wird eine gefährliche Politik des Eindringens der Religion in die staatliche Schule, und damit eines religiös-dogmatischen Bewusstseins in die Köpfe der Schüler, verfolgt.

Uns beunruhigt die sich abzeichnende Tendenz der Verschmelzung von Staat und Kirche. Wir sind der Meinung, dass Religion sich nicht in die Belange der Wissenschaft einzumischen hat. Wir gehen davon aus, dass der Unterricht naturwissenschaftlicher Fächer einzig und allein auf der Grundlage klarer wissenschaftlicher Konzepte zu erfolgen hat. Die moderne Evolutionstheorie, von der die Kritiker des „Darwinismus" offensichtlich keine Ahnung haben, gehört zweifellos zu den herausragenden Errungenschaften der Wissenschaft und muss daher als obligatorische Komponente an den Schulen und Hochschulen gelehrt werden. Die Inhalte von Lehrprogrammen kann unserer Auffassung nach nur eine kompetente Instanz definieren - die wissenschaftliche Gemeinschaft in Gestalt der Russischen Akademie der Wissenschaften, der Universitäten und wissenschaftlichen Gesellschaften. Die Frage, ob eine wissenschaftliche Theorie wahr oder falsch ist, wird nicht auf Pressekonferenzen, Demonstrationen, vor Gericht, in den Massenmedien oder bei soziologischen Umfragen entschieden.

Selbstverständlich respektieren wir das Recht eines jeden auf Glaubensfreiheit und der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession. Doch dies muss eine absolut private, familiäre Angelegenheit sein. In Russland als säkularem Staat kann Wissensvermittlung auf religiöser Grundlage nur außerhalb staatlicher Einrichtungen erfolgen. Sowohl religiöse Führer als auch Staatsbedienstete sind regional wie landesweit dazu verpflichtet, die Verfassung einzuhalten, die die Trennung von Religion und Staat definiert.

Russland und die gesamte Menschheit haben das 21. Jahrhundert erreicht. Unter den Bedingungen der Globalisierung und einer harten Konkurrenz werden in Zukunft jene Länder das Sagen haben, die ein modernes Bildungswesen, eine leistungsstarke Wissenschaft und neue Technologien entwickeln. Die USA sprechen ganz unverhohlen über ihre wissenschaftlich-technologische Überlegenheit in der Welt. Das vereinte Europa schafft ganz real eine Wirtschaft, die auf Wissen basiert. Und auch die Führung Russland sieht mittlerweile die Notwendigkeit, eine „Wirtschaft der Kenntnisse" zu entwickeln.

Doch solche Dinge kann man nicht ohne eine Bevölkerung mit einer hohen Bildung, die bereits in der Schule beginnt, bewerkstelligen. Somit stellt sich die Frage, wer die Qualität des modernen Wissens und Bildungsniveaus bestimmen wird - rückwärtsgewandte Menschen, die nach stehen gebliebenen Uhren leben und die Wahrheit einzig in religiösen Mythen sehen, oder diejenigen, die all die Kompliziertheit vom Aufbau und der Erkenntnis der Welt, der Natur, der Gesellschaft und des Menschen verstehen?

Es geht um eine strategische Wahl für Russlands Zukunft. Und diese Wahl hängt von jedem von uns ab!"

 

Die Namen der Unterzeichnenden und der russische Wortlaut sind im <Originaltext> (Russisch) zu finden.

Weitere Meldungen zum Thema Bildung und dem zunehmenden Einfluss der Kirche auf diverse Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in Russland in den aktuellen <Notizen aus Russland>.

Tibor Vogelsang