Warum ich und warum jetzt?

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Familie Lange / Foto: pandorafilm

(hpd/hls) Der Regisseur Andreas Dresen hat einen Film über das Sterben gedreht: „Halt auf freier Strecke“. Mitten im Leben erhält Frank Lange die Diagnose: Inoperabler Hirntumor. Seine Tage sind gezählt: Sterben als letztes Projekt. Für die Familie. Für Frank. Nicht alleine sein - das ist gut. Trotzdem bleibt die Frage – wieso?

Frank Langes Tage sind gezählt. Er hat einen inoperablen Gehirntumor. Mit Mitte 40. Er muss Abschied nehmen von Ehefrau Simone, den Kindern Lili und Mika. Eltern, Freunde, Nachbarn, Kollegen – sie alle bleiben zurück. Unfreiwillig. Gezwungen. Erst vor kurzem haben sich Frank und Simone einen Traum erfüllt. Sie leben mit ihren beiden Kindern in einem Reihenhäuschen am Stadtrand. Ein Lebenstraum für kleine Leute, der viel zu schnell zu Ende geht.

Doch jetzt zerrinnt die Zeit für Frank wie der Sand durch die Sanduhr. Woche für Woche. Tag für Tag. Stunde für Stunde. Unaufhaltsam. Der Gehirntumor raubt Frank erst das Gedächtnis, dann die Orientierung, schließlich die Kontrolle über die Körperfunktionen und das Sprachvermögen. Der Abschied ist eingeläutet. Sterben als letztes Projekt. Für die Familie. Für Frank. Nicht alleine sein – das ist gut. Trotzdem bleibt die Frage: wieso?

Der Film „Halt auf freier Strecke“ kann sie nicht beantworten. Natürlich nicht. Aber er nimmt mit zu einem Sterbeprozess, der den Zuschauer so nah heranlässt, dass dieser erkennt, dass der Moment des Sterbens auch voller Frieden sein kann. „Leiser als gedacht“, so beschreibt ihn der Schauspieler Milan Peschel, Darsteller von Frank Lange. „Ein großes Versteinern, ein Verstummen.“ Dabei vermeidet Regisseur Andreas Dresen alles Metaphysische, Kitschige. Das ist ein Gewinn.

Einsicht ist Wissen und Wissen kann ein Stück Erleichterung sein. Der Film zeigt Extreme: die emotionale Nähe, die eindringlicher wird, je schlechter es Frank geht. Und das Verständnis, das abnimmt, das nicht mehr sein kann in einem menschlichen Zustand, den man nur selbst erfahren kann. Ein wichtiger Film, bei dem der Tod nicht wie in vielen anderen Filmen nur der Vorwand für eine Reise ans Meer ist.

Ab heute, 17. November 2011, läuft „Halt auf freier Strecke“ in deutschen Kinos.

 

Moment des Todes kann befreiend und schön sein

Im Gespräch mit Simone Scheps berichtet Andreas Dresen, wie es zu dem Film über Abschied und Sterben kam.

Das Hotel Brandenburger Hof in Berlin strahlt Exklusivität aus: herrschaftlicher Eingang, ausgewähltes Mobiliar, feinstes Porzellan. Regisseur Andreas Dresen, in legerem T-Shirt und Jeans, scheint äußerlich gar nicht dazu zu passen. Ebenso wie sein neuer Film, „Halt auf freier Strecke“, nicht zum Einerlei aus Liebeskomödien und Actionfilmen passt, welches in vielen Kinos über die Leinwand flimmert.
 

Scheps: Ich möchte zunächst gerne wissen, wie überhaupt die Idee zum Film „Halt auf freier Strecke“ zustande kam. Wie sind Sie darauf gekommen?

Dresen: Die ist Schritt für Schritt entstanden. Nach manchen Filmen sucht man. Andere kommen zu einem. Das war eher so ein Film, der zu mir gekommen ist. Weil ich jetzt langsam in einem Alter bin, ich gehe auf die 50 zu, wo die „Einschläge“ näher kommen.

In meinem Freundeskreis gab es ein paar heftige Erfahrungen mit dem Tod. Eltern starben, Freunde starben. Und wir haben angefangen, uns in den Gesprächen damit zu beschäftigen. Und immer wieder tauchte in den Gesprächen etwas auf, das ich sehr bemerkenswert fand. Dass viele meiner Freunde den Moment des Todes als einen sehr friedvollen, schönen, befreienden, lichten beschrieben. – Was nicht unbedingt mit meinen Vorstellungen in Einklang stand. Ich fand es sehr interessant, dass das plötzlich so eine Leichtigkeit bekam. Diese Begrifflichkeiten Sterben und Tod zu trennen, kam mir vorher nicht so richtig in den Sinn.

Durch diese Gespräche und dadurch, dass ich persönlich in schwerem Fahrwasser war durch eine Trennung, veränderte sich meine Perspektive. Das Thema Abschied stand wie mit einem großen Pinsel an die Wand geschrieben. Zusammen mit der Dramaturgin Conny Ziesche habe ich angefangen, mir Filme anzusehen. Und wir stellten fest, dass es sehr wenige Filme gibt, die den Tod ernst nehmen, die zeigen, was das ist. Und zeigen, was das für die Menschen, die betroffen sind, wirklich bedeutet. Und dann haben wir angefangen zu arbeiten.

Alltagskultur verdrängt Abschied und Sterben

Scheps: Hat sich für Sie selbst auch etwas verändert, in Ihrer Einstellung, vor dem Film und nach dem Film? War das für Sie selbst ein Erkenntnisprozess? Gehen Sie jetzt anders mit dem Thema um?

Dresen: Definitiv, ja. Es war weniger ein Film, als eine Reise. Das haben viele im Team so empfunden, weil es sehr persönlich war. Man lässt Dinge ganz dicht an sich ran, die man sonst eher wegdrängt. Das will ich nicht haben, das sagen ja die meisten Menschen. Das ist ja auch normal. Man muss ja aufstehen und den Tag bewältigen, ohne an das bevorstehende Ende zu denken. Wir haben eine Alltagskultur geschaffen, die es uns relativ leicht macht, das zu verdrängen. Krankheit und Tod werden von der Gesellschaft abgeschoben, in Krankenhäuser, Palliativstationen, usw.

Wenn man sich dagegen anguckt, wie’s vor 100 Jahren gelaufen ist, dass da in einem Haus drei Generationen miteinander gelebt haben: irgendwann ist Opa gestorben, und die Kinder waren natürlich dabei. Man konnte sich das anschauen, man konnte Abschied nehmen. Abschiednehmen war ganz selbstverständlich im Kreis der Familie. Das fand ich besonders bemerkenswert, dass es gesellschaftlich gesehen an den Rand gedrängt wird, dass wir deshalb auch dazu neigen, diese Dinge wegzuschieben.
Und deshalb habe ich in der Recherche für den Film mit ganz vielen Menschen gesprochen, die sich professionell oder als Betroffene damit auseinandergesetzt haben. Für mich waren diese Begegnungen wertvoll, wertvoller als der Film selbst.

Scheps: Was waren das für Leute?

Dresen: Das waren Leute, die in der Hospizbewegung arbeiten, Home-Care-Ärzte [Anm. d. Red. Eine häusliche Therapieform, wo Ärzte z. B. krebskranken Patienten zu Hause betreuen], es waren aber auch Leute, die Angehörige verloren haben. Und die uns ihre Geschichte erzählt haben. Ganz persönliche Geschichten. Das waren teilweise sehr aufwühlende Gespräche. Für mich jetzt, aber auch für die Menschen selbst. Weil plötzlich so Erfahrungen wieder hochkommen, weil ein Gegenüber da war, das substanziell interessiert war, dadurch kamen sie ins Reden. Dadurch kamen bestimmte Dinge wieder hoch. Für mich war es danach sehr, sehr schwer, wieder in eine Art von Alltag zurückzukehren. Mich hat das ganz schön mitgenommen, bis zu dem Punkt, an dem wir überlegt haben, den ganzen Film abzubrechen.

Film fast abgebrochen

Scheps: Das war tatsächlich so?

Dresen: Ja, das war so. Weil ich gemerkt habe, dass die Last, die über mich kam, immer größer wurde. Das war letztes Jahr im Sommer, im Juni. Da haben wir darüber sehr ernsthaft gesprochen, ob wir das wirklich physisch schaffen.
Mir war das dann aber viel zu wertvoll, zu dem Zeitpunkt, wo wir schon so viel Kraft investiert hatten, dann abzubrechen. Wir haben gesagt, wir müssen diesen Berg jetzt besteigen. Im Nachhinein bin ich sehr dankbar. Es wurde interessanterweise bei der konkreten Arbeit an dem Film, nach den ersten Tagen, die für alle sehr schwer waren, immer leichter. Das war ein interessanter Vorgang.

Scheps: Warum glauben Sie, sind Tod und Sterben eigentlich im Moment ein Tabuthema? Sie haben ja vorher selbst gesagt, dass es vor 100 Jahren noch ganz anders aussah.

Dresen: Das hat, glaube ich, damit zu tun, wie sich die Gesellschaft selbst organisiert hat in den letzten Jahrzehnten. Dass das Zusammenleben technischer, abstrakter geworden ist. Dass sich Erfolg und Karriere so in den Vordergrund geschoben haben, und fast wichtiger werden als das familiäre Zusammenleben. Ich glaube, dass das mit einem Wertgefüge der Gesellschaft zu tun hat. Das zeigt sich z. B. auch daran, dass viele Aufgaben, die früher ganz selbstverständlich in der Familie waren, von der Gesellschaft übernommen werden. Die Pflege von Kranken, das Sterben sowieso. Wenn Menschen alt werden, gehen sie in Heime. Das muss nicht unbedingt was mit Krankheit zu tun haben. Es hat einfach keiner mehr Zeit, sich um die älter gewordenen Eltern zu kümmern. Und die Eltern empfinden sich dann als Last gegenüber der jüngeren Generation. Das sind alles merkwürdige Vorgänge, die nicht natürlich laufen. Das ist ja in anderen Gesellschaften durchaus anders. Es gibt ja in Mittel- und Südamerika Gesellschaftsstrukturen, die viel stärker auf der Familie basieren und wo zum Beispiel auch der Umgang mit dem Tod ein anderer ist. Auch die damit verbundenen Rituale.