Religion in pluraler Gesellschaft

gruppe_0.jpg

Referenten / Foto: Matthias Krause

DORTMUND. (hpd) „Glaubt was Ihr wollt, aber mischt Euch nicht ein?! – Zum Auftrag der Religionen in einer pluralen Gesellschaft“. Unter diesem Motto lud das Amt für missionarische Dienste der Evangelischen Kirche in Westfalen am vergangenen Montag zum 3. Studientag „Mission und Dialog“ im Haus landeskirchlicher Dienste in Dortmund.

Mission war allerdings nicht angesagt, sondern Dialog: Die muslimische Sozialwissenschaftlerin Gabriele Boos-Niazy, der Agnostiker und evolutionäre Humanist Dr. Michael Schmidt-Salomon sowie der evangelische Theologe Rolf Krebs waren als Referenten geladen. Frau Boos-Niazy ist Mitbegründerin des Aktionsbündnisses muslimischer Frauen in Deutschland, Dr. Schmidt-Salomon ist Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung und Oberkirchenrat Krebs ist Leiter des evangelischen Büros NRW am Sitz der Landesregierung in Düsseldorf, wo er die Interessen der drei evangelischen Landeskirchen vertritt.

Ein restlos gefüllter Veranstaltungsraum mit ca. 60 Plätzen dürfte wohl die Erwartungen des Veranstalters voll erfüllt haben, trotz 20 Euro Teilnahmegebühr. Das eine oder andere bekannte Gesicht aus der säkularen Szene der Region war schon zu Beginn auszumachen und erfreulicherweise outeten sich während der Diskussionsrunden weitere „Säkulare“. Leider war aber, trotz muslimischer Referentin, kein weiterer Anhänger des muslimischen Glaubens erkennbar anwesend und sollte sich auch im Laufe der Veranstaltung nicht zu erkennen geben. Bei den Teilnehmern handelte es sich überwiegend um „ältere Semester“ und offenbar auch viele Kirchenmitarbeiter, was wohl auch dem Umstand geschuldet war, dass die Veranstaltung tagsüber durchgeführt wurde.

Jede(r) ReferentIn hielt zunächst jeweils ein ca. halbstündiges Impulsreferat, dessen Kernpunkte auch noch einmal als „Thesenpapier“ an die Teilnehmer verteilt wurden. Nach jedem Referat waren die Zuhörer gebeten, sich in „Murmelgruppen“ für 15 Minuten mit ihren Nachbarn zum Thema zu unterhalten, bevor die ermurmelten Fragen gesammelt und an die Referenten gerichtet wurden. Zum Abschluss gab es ein ca. 45-minütiges Schlussplenum mit den Referenten unter Einbezug der Teilnehmer.

Vortrag Frau Boos-Niazy

Den Anfang machte Frau Boos-Niazy, eine deutsche Muslima, die auch ein muslimisches Kopftuch trug, das sämtliche Haare, den Hals und die Schultern bedeckte. Sie stellte sich und das von ihr mit gegründete Aktionsbündnis muslimischer Frauen in Deutschland zunächst kurz vor. In ihrem Referat beleuchtete sie das Thema „gesellschaftliche Einmischung“ aus zwei Perspektiven: der allgemeinen und der religiösen.

Der allgemeine Teil entsprach naturgemäß der Darstellung, die man auch von christlich-kirchlicher Seite gewohnt ist, und soll daher hier nur kurz zusammenfasst werden: Eine Überzeugung zu haben, bedeute immer auch Einmischung, „und sei es in der Form der Nicht-Einmischung“. Das Menschenrecht auf Einmischung bzw. Mitwirkung sei im Grundgesetz verankert und auch nichts spezifisch Religiöses. Die Demokratie lebe vom Engagement der Bürger und religiöse Gemeinschaften seien Teil jener Gruppen, die die Grundwerte, die die Basis des Staates bilden, lebendig erhalten. (Kirchenrat Krebs verwies in diesem Zusammenhang später auf das obligatorische Böckenförde-Zitat „Der freiheitliche säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“.)

Kontroverser war der religiöse Teil von Frau Boos-Niazys Referat. Zwar hätten auch hier die meisten Aussagen ebenso gut von christlicher Seite kommen können: der Mensch als „Statthalter“, der für die Schöpfung verantwortlich sei, Glaube drücke sich im konkreten Handeln aus, Gotte beurteile den Menschen nach seinen Absichten und letztlich ginge es darum, Gerechtigkeit zu verwirklichen. Deshalb mache aus islamischer Sicht die Aussage „Glaubt, was Ihr wollt, aber mischt Euch nicht ein!“ keinen Sinn.

Als Belege zitierte Frau Boos-Niazy zahlreiche Stellen aus dem Koran und der islamischen Überlieferung (Hadith). So besteht Frau Boos-Niazy zufolge Einigkeit darüber, „dass der Verstand ein Geschenk Gottes ist, das der Mensch benutzen muss“, und als Beleg zitierte sie die Koransure 38, Vers 29: „(Dies ist) ein gesegnetes Buch, das Wir zu Dir hinabgesandt haben, damit sie über seine Zeichen nachsinnen und damit diejenigen bedenken, die Verstand besitzen.“ Demzufolge gingen Muslime nicht davon aus, dass echte Gläubigkeit rationaler Erkenntnis widerspreche, sondern dass sie Voraussetzung eines umfassenden Glaubens sei.

Für das Streben nach Gerechtigkeit im Islam wurden z.B. folgende Zitate gebracht:
Sure 3, Vers 14: „Aus euch soll eine Gemeinschaft (von Gläubigen) entstehen, die zum Guten aufrufen, das Rechte gebieten und das Verwerfliche verbieten...“
Sure 5, Vers 8: „O ihr, die ihr glaubt, tretet für Gott ein und legt Zeugnis für die Gerechtigkeit ab. Und der Hass gegen bestimmte Leute soll euch nicht dazu verleiten, nicht gerecht zu sein. Seid gerecht, das entspricht eher der Gottesfurcht. Und fürchtet Gott. Gott hat Kenntnis von dem, was ihr tut.“

Hellhörig wurde das Publikum, als Frau Boos-Niazy erläuterte, zur Gerechtigkeit gehöre nicht nur, selbst keine Ungerechtigkeit zu begehen, sondern auch, Ungerechtigkeiten anderer zu verhindern. Als Beleg führte sie einen Hadith an: „Hilf deinem Bruder, ob er Unrecht begeht oder unter Unrecht leidet!“ Einer fragte: „Oh Gesandter Allahs, diesem helfen wir, wenn er unter Unrecht leidet. Aber wie können wir ihm helfen, wenn er selbst Unrecht begeht?“ Der Prophet erwiderte: „Indem Du seine Hände tatkräftig vom Unrecht abhältst!“ (Bukhari, Muslim)

In ihrem Fazit fasste Frau Boos-Niazy zusammen, das Handeln der Muslime gründe sich darauf

  • das spirituelle Leben in der Gesellschaft zu entwickeln und zu bewahren,
  • die religiöse und die säkulare Bildung und Erziehung zu verbreiten,
  • sich in jedem Bereich des sozialen, ökonomischen und politischen Lebens für mehr Gerechtigkeit einzusetzen und
  • auf die Solidarität mit allen Bedürftigen.

Das gesellschaftliche Engagement der Muslime sei daran erkennbar, dass sich die unterschiedlichsten muslimischen Organisationen mehr und mehr auch in gesamtgesellschaftlichen Bereichen engagierten und nicht mehr nur Seelsorge betrieben. Frau Boos-Niazy bedauerte, dass dieses Engagement manchmal als Integrationshemmnis oder gar Widerstand wahrgenommen werde. Dabei werde nicht nur der Islam als Quelle sozialen Kapitals und zivilen Engagements übersehen, sondern auch der Anspruch an die Migranten und insbesondere an die Muslime, sich zu integrieren – sprich: in die Gesellschaft einzubringen – konterkariert.

Aussprache Frau Boos-Niazy

Michael Schmidt-Salomon warf ein, Frau Boos-Niazy habe den Koran selektiv dargestellt. Bei der von ihr erwähnten Gerechtigkeit handele es sich um eine Binnengerechtigkeit (also nur für Muslime), für Andersdenkende gebe es Höllendrohungen. Er verwies auf die 1990 von den islamischen Staaten verabschiedete „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“, derzufolge die Menschenrechte nur zu gewährleisten sind, solange sie sich im Rahmen der Scharia bewegen, als Beleg dafür, dass die von Frau Boos-Niazy vertretene Interpretation des Islam nicht repräsentativ sei.

Allgemein waren die Fragen sehr kritisch, was wohl auch damit zusammenhing, dass Frau Boos-Niazy „freiheitlich-demokratische“ Positionen vertrat, die offenbar von dem Eindruck, den die Zuhörer aus anderen Quellen über den Islam gewonnen hatten, stark abwichen. Michael Schmidt-Salomon brachte das Thema des Glaubensabfalls auf, der Apostasie – Frau Boos-Niazy entgegnete, die Todesstrafe für Apostasie sei so zu verstehen, dass in Kriegszeiten der Abfalls vom Glauben quasi als „Überlaufen zum Gegner“, also Hochverrat betrachtet worden sei. Und auf Hochverrat stehe auch andernorts die Todesstrafe. Zur Frage der Homosexualität erklärte sie, bei sich zuhause könne jeder tun, was er wolle, manchmal bestehe aber ein gesellschaftlicher Konsens, dass man bestimmte Dinge nicht in der Öffentlichkeit sehen wolle. Diese Antworten dürften allerdings kaum jemanden überzeugt haben.

Vortrag Dr. Schmidt-Salomon

Der nächste Referent, Dr. Michael Schmidt-Salomon, bot nicht nur inhaltlich, sondern auch optisch einen deutlichen Kontrast zu seiner Vorrednerin; jedenfalls hatte er erkennbar weniger Bedenken, was das Zuschaustellen von Haupt- und Barthaar anging.

Schmidt-Salomon gliederte sein Referat in vier Teile, die ersten drei behandelten die Frage nach dem Glauben als Privatsache und die Grenzen staatlicher Neutralität. Im vierten Teil konfrontierte er insbesondere die anwesenden Theologen mit dem „Dilemma der aufgeklärten Theologie“.

„… aber mischt euch nicht ein!“ – Warum Glaube Privatsache sein sollte

War Frau Boos-Niazy im ersten Teil ihres Referats noch ausführlich die „Einmischungsrechte“ eingegangen, die das Grundgesetz (auch) den Religiösen einräumt, lag der Schwerpunkt von Dr. Schmidt-Salomon erwartungsgemäß auf der weltanschaulichen Neutralität des Staates.

Das Recht, ohne Gängelung des Staates das glauben, denken und artikulieren zu können, was man will, zähle zu den großen Errungenschaften unserer Zivilisation. Dieser hohe Stellenwert, so Schmidt-Salomon, spiegle sich auch im Grundgesetz wider, z.B. in Artikel 4 (Glaubens- und Gewissensfreiheit) und Artikel 5 (Freiheit der Meinung, Kunst und Wissenschaft). Aus derartigen Bestimmungen leite sich die weltanschauliche Neutralität des Staates ab, d.h., dass der Staat keine Weltanschauungsgemeinschaft einseitig privilegieren dürfe. In der Realität sei dies allerdings nur unzureichend umgesetzt; als Beispiele verwies Schmidt-Salomon auf die Staatsleistungen, die Kirchensteuer und weltanschauliche Diskriminierungen im kirchlichen Arbeitsrecht.

Viele säkular denkende Menschen träten für einen strikten Laizismus ein, d.h. für eine konsequente Trennung von Staat und Kirche, ja sogar für eine möglichst konsequente Trennung von privatem Glauben und gesellschaftlichem Engagement. Ganz im Sinne des Satzes „Glaubt, was ihr wollt, aber mischt euch nicht ein!“ verstünden sie das individuelle Bekenntnis als Privatsache, die keinesfalls maßgeblich dafür sein sollte, ob ein qualifizierter, engagierter Mensch einen Arbeitsplatz findet oder nicht.

Ein weiterer Grund für die Ablehnung religiöser Einmischung sei die Befürchtung in der weitgehend säkularisierten Bevölkerung, dass eine stärkere Gewichtung religiöser Kräfte auf einen Verlust emanzipatorischer Errungenschaften (etwa der Gleichberechtigung von Mann und Frau, des sexuellen Liberalismus, der Freiheit der Kunst und der Meinungsäußerung) hinauslaufen könne. Liberal denkende Menschen würden ihren Mitbürgern zwar niemals vorschreiben, was diese zu glauben hätten, aber sie wollten durch deren Glauben auch nicht in ihrem Leben gestört werden.

„Glaubt, was ihr wollt?“ Warum Glaube keine reine Privatsache ist

Mit seiner muslimischen Vorrednerin schien Schmidt-Salomon darin übereinzustimmen, dass „das Private stets auch politisch ist“. Deshalb sei es nicht egal, was die Menschen glauben, denn sollten politisch reaktionäre Glaubensvorstellungen Überhand nehmen, so sei es um die liberale Verfasstheit unserer Gesellschaft bald geschehen. Statt “Glaubt, was ihr wollt, aber mischt euch nicht ein!“ sollte es daher heißen: „Mischt euch ein, wie ihr wollt, solange euer Glaube das Bekenntnis zu den Grundprinzipien des liberalen Rechtsstaates enthält und ihr euch im Zweifelsfall für diese entscheidet.“

Zwei Grundprinzipen nannte Schmidt-Salomon für das gesellschaftliche Zusammenleben: Das „Prinzip der Säkularität“, demzufolge die Werte, die unser Zusammenleben ordnen, von keiner „höheren Instanz“ (Gott, Götter, Natur, Schicksal etc.) vorgegeben seien, sondern von den gesellschaftlichen Akteuren unter fairer Berücksichtigung der jeweiligen Interessen ausgehandelt werden müssten. Und das “Prinzip der Liberalität“ demzufolge mündige Bürgerinnen und Bürger in einem modernen Rechtsstaat tun und lassen dürften, was sie wollen, solange es ihnen nicht mit guten, rechtsstaatlich abgesicherten Gründen verboten werden könne. Diese beiden Prinzipien werden von den Religionen bislang nicht hinreichend beachtet. Als Beispiel verwies Dr. Schmidt-Salomon auf das Minderheitenvotum der Theologen in der Ethik-Kommission, in dem diese sich 2010 (?) aus religiösen Gründen gegen die Präimplantationsdiagnostik ausgesprochen hatten.

„Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht“

Die weltanschauliche Neutralität des Staates stößt Schmidt-Salomon zufolge dort an ihre Grenzen, wo die ethischen Prinzipien des Grundgesetzes verletzt werden oder die Verpflichtung des Bundes und der Länder zur Förderung seriöser Bildung betroffen sei: Religionsfreiheit dürfe nicht als Freibrief für Menschenrechtsverletzungen verstanden werden; Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts, der sexuellen Orientierung oder der Weltanschauung könnten nicht religiös legitimiert werden. Und Bildung müsse sich nach „soliden wissenschaftlichen Wahrheitskriterien“ richten – und nicht nach den Partikularinteressen bestimmter religiös-weltanschaulicher Gruppierungen.

Das Dilemma der aufgeklärten Theologie

Für Michael Schmidt-Salomon sind die Religionen „kulturelle Schatzkammern der Menschheit, in denen man viel Vernünftiges und Menschenfreundliches, aber eben auch Widersinniges und Menschenverachtendes findet“. Eine der großen, existentiellen Fragen der Menschheit sei, wie die Religionen in Zukunft mit diesem ambivalenten Erbe umgingen.

Schmidt-Salomon zufolge gibt es zwei „Erbschaftsstrategien“: Die „aufklärerische Variante“ bestünde darin, die eigene Denk-und Glaubenstradition kritisch auszuarbeiten und die alten Glaubensaussagen exegetisch so weit umzudeuten, dass sie dem heutigen Stand der kulturellen Evolution entsprechen. Die „fundamentalistische Variante“ beruhe auf einer radikalen Abwehr aller Kritik an der eigenen Glaubenstradition und ziele darauf ab, das Rad der Geschichte soweit zurückzudrehen, dass die alten Glaubensaussagen in ihrer originären Form wieder als zeitgemäß erscheinen können.

Das „Dilemma der aufgeklärten Theologie“ sei nun: Wie sehr kann der Glaube an die heutigen gesellschaftlichen Wertvorstellungen angepasst und umgedeutet werden, ohne dass dabei der Kern des Glaubens verloren geht? Viele „christliche Theologen“ seien mittlerweile zu „getarnten säkularen Humanisten“ geworden, die aus sozialen Konventionen heraus einen „religiösen Dialekt“ pflegten, der zwar noch „fromm“ klänge, es aber längst nicht mehr so meine.

Leider sei allerdings der „weltanschauliche Flickenteppich“ der aufgeklärten Theologie nicht sonderlich attraktiv. Die Menschen neigten heute dazu, entweder konsequenter zu glauben oder den Glauben in konsequenterer Weise abzulehnen. Als Folge dieses Trends steige weltweit nicht nur der Anteil der fundamentalistischen Gläubigen an, sondern auch der Anteil der konfessionsfreien Menschen. Der „aufgeklärte Glaube“ scheine demgegenüber eine „absterbende Kulturerscheinung“ zu sein, was möglicherweise zu größeren Konflikten zwischen gläubigen und nichtgläubigen Menschen führen werde.

Aussprache Dr. Schmidt-Salomon

Unterscheidung zwischen „Diskriminierung“ und „Übersensibilität“. Kann sich eine katholische Standesbeamtin zu Recht diskriminiert fühlen, wenn sie ein Homo-Paar trauen muss?

Kriterien „Säkularität“ und „Liberalität“. Das sind die Grundprinzipien unseres Staates und deshalb gibt es keinen Grund, dass sie sich in diesem Fall diskriminiert fühlt.

Diskriminierung bedeutet, dass ein Mensch negativ beurteilt wird, weil er Eigenschaften hat, die nicht akzeptiert werden, obwohl sie eigentlich für dieses Amt nicht notwendig sind. „Niemand kann sich diskriminiert fühlen, weil er 1,50m groß ist und in keine Basketballmannschaft aufgenommen wird.“ „Bei Diskriminierung geht es darum, dass Eigenschaften von Personen bewertet werden, die mit ihrer Tätigkeit nichts zu tun haben. Anästhesistinnen in einem katholischen oder evangelischen Krankenhaus haben keinen Verkündigungsauftrag, und deswegen ist es diskriminierend, einen Arzt oder eine Ärztin nicht einzustellen, weil sie nicht Mitglied einer Kirche sind.

Was sind die „Ergebnisse solider Wissenschaft“, wie sie Schmidt-Salomon in seinem Referat als Orientierung für den Schulunterricht gefordert hatte? Beispiel Evolutionslehre, darauf hatte er sich ja bezogen.

Evolutionsbiologen sprechen zwar auch von der Evolutionstheorie, aber es ist eine Tatsache, dass diese Entwicklung stattgefunden hat. Kein Evolutionsbiologe von Rang würde dies bestreiten. Genauso wenig wie die grundlegenden Prinzipien der Evolutionstheorie nicht mehr bestritten werden. Das sind solide wissenschaftliche Erkenntnisse. Und die müssen auch im Unterricht behandelt werden.

Wie sieht Ihr Konzept aus für einen weltanschaulichen Unterricht, der Religion nicht ausklammert?

Der Unterricht, den ich mir wünschen würde, wäre ein allgemeinverbindlicher Unterricht für alle Schülerinnen und Schüler, da ich denke, es hilft uns überhaupt nicht, wenn wir schon in der Schule die religiöse Ghettoisierung der Gesellschaft verstärken. Über Dinge, die alle Menschen angehen, müssen auch alle Menschen miteinander kommunizieren. Und das geht am besten, wenn man die Kinder nicht sofort selektiert, in unterschiedlichen weltanschaulichen Unterricht. Es wäre wirklich problematisch, wenn wir uns weltanschaulich so weit auseinander dividieren würden, wie das in einigen deutschen Stadtteilen schon absehbar ist.

Ich fühle mich von Ihrer Beschreibung der Religion selten getroffen. Die evangelische Kirche sei weder fundamentalistisch noch so liberal, dass sie nicht mehr glauben würde. In der evangelischen Kirche gingen Glaube und Vernunft zusammen.
Nachfrage Schmidt-Salomon: Woran glauben Sie denn tatsächlich? Ich habe mit vielen Theologen gesprochen, auch mit namhaften, mit denen ich im Fernsehen diskutiert habe. Und als wir dann nachher noch beim Rotwein zusammen saßen, offenbarten mir diese Persönlichkeiten, dass sie nicht an die Auferstehung von den Toten glauben. Ich habe fast alle „Items“ des Glaubensbekenntnisses abgefragt, und es gab fast keine Übereinstimmung. Und wenn man keine Übereinstimmung mit dem Glaubensbekenntnis hat, dann frage ich mich immer, nach welchen Kriterien kann ich noch beurteilen, ob jemand Christ ist? Deswegen würde mich das interessieren: Glauben Sie, dass es die Auferstehung von den Toten gibt, dass also ein Teil Ihrer Existenz oder Ihrer Persönlichkeit nach dem Erlöschen sämtlicher Hirnfunktionen erhalten bleibt?

Statt „Ja“ oder „Nein“ gab es eine ausweichende Antwort. (Tumult)

Noch ein Teilnehmer fragte: Wir wissen doch, dass die Bibel eine über tausendjährige Entstehungsgeschichte hat, mit völlig unterschiedlichen Positionen. Und diese Entwicklung christlicher Identität ist auch mit dem Abschluss der Bibel nicht zu Ende. Wie können Sie bestimmte wörtliche Formulierungen aus dem und dem biblischen Zusammenhang oder Jahrhundert soundso konfrontieren mit der Äußerung von heutiger christlicher Kirche? Sie haben gesagt, weil das nicht deckungsgleich ist, ist das nicht mehr christlich.

Antwort: Ich habe Idealtypen geschildert. Es gibt viele Mischformen dieser Idealtypen. Das ist eine in der Soziologie gebräuchliche Art der Darstellung. Es gibt diese Entwicklung in der Religion. Feuerbach sagte schon vor über hundert Jahren: Irgendwann wird die totale Negation des Christentums auch noch Christentum genannt werden. Als Philosoph habe ich damit Probleme, weil ich versuche, mit klaren Begriffen zu arbeiten. Wenn jemand einen Begriff benutzt, dann gibt es bestimmte Kriterien für diesen Begriff. Und wenn man fast alles leugnet, was mit diesem Begriff historisch zusammenhängt, dann wird es schwierig, noch miteinander zu kommunizieren. Wenn Sie alles leugnen, was mal Bestimmungskriterium des Wortes „Christ“ war, dann wird diese Definition von „Christ“ inhaltsleer. Dann können Sie sich „Christ“ nennen – aber Sie könnten sich auch „Kühlschrank“ nennen, wenn Sie so mit Begriffen umgehen.

Ich sehe aber natürlich, dass es diese Entwicklung gegeben hat. Und diese Entwicklung zeigt eins sehr deutlich: Nämlich dass die Werte der Religion gar nicht aus dem religiösen Kontext kommen, sondern aus dem geschichtlichen Zusammenhang. Deswegen hatten wir im Nationalsozialismus so eine starke evangelische Kirche, die gegen das „Gottlosentum“ geschossen hat. Und wir hatten eine katholische Kirche, die geholfen hat, dass Hitler und andere Faschisten an die Macht gekommen sind. Weil diese Werte nämlich gar nicht genuin christliche Werte sind. Die werden im historischen Kontext immer wieder neu geschaffen. Und dann wird ein rhetorischer Bezug zu diesen heiligen Texten hergestellt. Damit sage ich nicht, dass diese Texte inhaltsleer sind. Aber wenn ich mir diese Texte (kritisch) anschaue, dann stelle ich fest, dass es heute Strömungen gibt, die sich auf den Text der heiligen Schriften besser berufen können als aufgeklärte Christen. Und besser auf den Koran berufen können. Das war ja einer der Gründe von Sven Kalisch, warum er sagte: Ich bin kein Muslim mehr. Weil er sagte, ich kann mich auf diese Schriften nicht mehr so berufen, wie das die Leute tun, die eben die Werte von Humanismus und Aufklärung nicht so ernst nehmen wie ich.

Ich sehe diese Entwicklung, zweifellos. Ich möchte nur hier, in diesem aufgeklärten Rahmen, dafür plädieren, dass wir nicht, ich versuch’s mal ein bisschen polemisch zu sagen, das seichte religiöse Musikantenstadl, das wir hier haben, verwechseln mit dem, was tatsächlich weltweit unter dem Begriff „Religion“ läuft.

Die evangelische Kirche Deutschlands ist eine kleine Abspaltung von dem, was weltweit unter „Protestantismus“ läuft. Die so scharf kritisierte Katholische Kirche gilt in Amerika als ausgesprochen liberal. Das sind die Realitäten. Und wir dürfen eben nicht aus dieser Perspektive der deutschen, aufgeklärten Theologie ableiten, wie das Christentum weltweit aussieht. Es sieht ganz, ganz anders aus. Es gibt diese Probleme, und deswegen müssen wir diese Probleme auch ansprechen.

Ein Teilnehmer fragte: Wo kommen eigentlich die Werte her, die unser Handeln leiten? Wir könnten sagen, nach Ihrem System der Liberalität und der Säkularität, die werden in einer offenen, demokratischen Gesellschaft ausgehandelt, werden dann aber verfügbar der Mehrheit. Wie kommen in Ihrem System werte zustande? Frage: Mehrheitlich?

Eine andere Teilnehmerin will wissen: Wie funktioniert eigentlich die Weiterentwicklung der Werte, an denen wir uns in der Gesellschaft messen lassen müssen?

Antwort Schmidt-Salomon: Diese Werte entstehen in Gesellschaften. Und sie entstehen nicht zufällig, sondern es gibt sozio-ökonomische Gründe dafür, dass sie so entstehen. Aber es gibt natürlich auch Argumente. Es gibt eine Weiterentwicklung in der Ethik. Wenn wir uns die Geschichte der Menschheit anschauen, stellen wir doch fest, dass der Adressatenkreis derer, die man als gleich beachtet hat, immer größer geworden ist: Am Anfang war es die eigene Sippe. Dann waren es gesellschaftliche Teilgruppen, wie die wahlberechtigten Männer. Irgendwann waren alle Mitglieder einer Gesellschaft gleichgestellt. In Menschenrechtserklärungen wird die ganze Menschheit unter diesen Schutz genommen. Und mittlerweile gibt es Tierrechtler, die das noch weiter ausdehnen, indem sie sagen, wir müssen jedes Interesse von Lebewesen berücksichtigen, die Gefühle haben. Das ist eine Entwicklung, und meines Erachtens eine positive Entwicklung in der Menschheitsgeschichte. Und mit diesem Prinzip, dem Prinzip der gleichen Berücksichtigung gleichrangiger Interessen, können wir auch sehr gut bioethische Entscheidungen treffen. Und auf der Basis dieses Prinzips, denke ich, sind die Interessen von Müttern – die viele Fehlgeburten haben bei künstlicher Befruchtung – höher einzuschätzen als Zellformationen, die kein Interesse haben.

Nach der Aussprache folge das Mittagessen, welches in Buffet-Form angeboten wurde und, politisch völlig korrekt, aus fleischloser Kartoffelsuppe, vegetarischem Spitzkohlauflauf und verschiedenen Desserts bestand.

Vortrag Kirchenrat Krebs

Kirchenrat Rolf Krebs ist ein Mann, der die Fülle der kirchlichen Privilegien, für deren Erhalt zu sorgen seine Aufgabe ist, auch körperlich anschaulich repräsentiert. Und wie das nun mal so ist im politischen Geschäft: Wer etwas fordert, darf nicht bescheiden auftreten. Entsprechend war auch der Tenor von Krebs‘ Vortrag: Die Kirchen hätten überhaupt keine Privilegien. Wer anderer Auffassung sei, erzähle „Märchen“.

Der Staat privilegiere die Kirchen grundsätzlich nicht. Es gebe somit auch keine staatlichen Begünstigungen der Kirchen in Deutschland. Dort, wo öffentliche Mittel an die Kirchen flössen, geschehe das wegen ihrer Dienste in der Gesellschaft im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips – also dort, wo die Kirchen für die Gesellschaft eine Leistung erbringen wie z.B. den Betrieb von Kindergärten oder Schulen. Subsidiarität sei grundsätzlich von Subvention zu unterscheiden.

Krebs zufolge gibt es auch keine „Finanzierung durch den Staat“: Die immer kritisierten Staatsleistungen beruhten den Enteignungen von Kirchengütern im Zuge der Säkularisation von 1802/1803. Auch die Kirchensteuer sei kein Privileg der Kirchen, nicht einmal der Einzug der Kirchensteuer durch den Staat, der dafür eine Gebühr in Höhe von 2 bis 4 Prozent erhalte.

Ähnlich wie man bei Frau Boos-Niazy zuvor den Eindruck haben konnte, dass die bei ihrer persönlichen Interpretation des Islam den Koran immer gerade im Sinne des Grundgesetzes auslegt (bzw. sich die passenden Verse herauspickt), so konnte man bei Kirchenrat Krebs den Eindruck gewinnen, dass er eine persönliche Definition von „Privilegien“ hat, die gerade immer so ausfällt, dass Vorteile, der der Staat ausschließlich den Kirchen (oder vielleicht noch Weltanschauungsgemeinschaften) gewährt, nicht darunter fallen.

Natürlich sieht sich Rolf Krebs auch nicht als Kirchen-Lobbyist. Zum Beweis verwies er auf eine Äußerung der nordrhein-westfälischen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft anlässlich des 50-jährigen Bestehens des evangelischen Büros in NRW letztes Jahr: Die Arbeit von Krafts evangelischem Büro geschehe im Gegensatz zum üblichen Lobbyismus nicht aus Eigennutz, sondern aus Verantwortung vor dem eigenen Auftrag, hatte die Ministerpräsidentin damals gesagt. Und: „Hier geschieht nichts aus ‚gewissen‘ Gründen, sondern aus Gewissensgründen.“ Natürlich.

Auch diesen (selbst gegebenen) Auftrag erläuterte Kirchenrat Krebs gleich zu Beginn seines Referats: Wer nämlich denke und meine, sagen zu müssen, „Religion ist Privatsache“, der irre gewaltig und habe die Botschaft Jesu grundlegend missverstanden. Am Beispiel der Ladenöffnungszeiten führte der Kirchenrat aus, die Kirchen hätten „eine Botschaft, die die Welt dringend braucht“ und die – hier zitierte Krebs den katholischen Bischof Heinrich Mussinghoff aus Aachen – „Zeichen setzt gegen die ‚Kultur‘ einer Kommerzialisierung und Zersplitterung unserer Gesellschaft und der Familien sowie gegen die alleinige Ausrichtung des Menschen auf Dienstleistung, Produktion und Kapital“.

Wie zuvor schon Frau Boos-Niazy beanspruchte auch Herr Krebs, damit „dem Wohl und Heil des Menschen“ zu dienen und verwies auf das Böckenförde-Diktum, wonach der Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne. [Anmerkung: Zu dem bekannten Böckenförde-Diktum gibt es beim hpd einen Artikel des Juristen Gerhard Czermak (Autor des Lexikons „Religion und Weltanschauung in Gesellschaft und Recht“), der in dem Zitat die damalige Position Böckenfördes nur stark verkürzt und missverständlich umrissen sieht.]

Angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen bedürfe es zur Entfaltung der christlichen Botschaft unbedingt eines interreligiösen Dialogs – vor allem mit dem Judentum und dem Islam. Darüber hinaus bedürfe es aber auch es einer „unerschrockenen, gelassenen Auseinandersetzung mit dem Atheismus“. Krebs‘ Thesenpapier endete mit den Worten: „Die Zeit des Schweigens bzw. der Zurückhaltung der Kirchen ist wohl vorbei!“

Aussprache Kirchenrat Krebs

Ein Teilnehmer wollte wissen: Wie hoch sind die Staatsleistungen? Ich würde dafür plädieren, sie aufzugeben, selbst, wenn sie nicht zurückgezahlt werden könnten. Wie hoch sind sie und wie ist das verankert?

Antwort Krebs: 460 Mio. an Staatsleistungen zahlen die Bundesländer insgesamt an die ev. und kath. Kirchen. Das macht mit 2 % nur einen kleinen Teil des kirchlichen Gesamtbudgets aus. (Anmerkung: Demzufolge müsste das kirchliche Gesamtbudget bei 23 Mrd. Euro liegen – mehr als zweieinhalbmal so viel wie das Volumen der Kirchensteuer.)

Ein anderer Teilnehmer hatte eine Frage zur Freiburger Rede des Papstes: Sie haben ja, wie ich finde zu Recht, festgestellt, dass es keine Privilegien gäbe. Das sieht der derzeitige Papst anders. Der hat ja dieses Wort „Privilegien, die aufgegeben werden müssten“ – also muss es ja welche geben – ganz bewusst in seine Freiburger Rede reingesteckt und damit staatskirchenrechtlich für Verwirrung gesorgt. Vielleicht können sie dazu noch mal einen Satz sagen.

Krebs: Das mit den Privilegien hat der Papst nicht so gemeint, wie wir das von außen interpretieren.

Eine weitere Frage bezog sich auf das kirchliche Arbeitsrecht, mit der Bitte um ein Wort zur aktuellen Diskussion.

Das Arbeitsrecht liege vor Gericht. Wir werden sehen, wie jetzt das Bundesverwaltungsgericht entscheiden wird. Das Landgericht Bielefeld hat die Position der Kirche bestätigt. Aber die Frage muss gestellt werden. Ich sage aber nichts dazu, weil es bei Gericht liegt.

Auf die Frage nach der Ablösung der Staatsleistungen antwortete Krebs: Es ist verfassungsrechtlich festgelegt, dass sie abgelöst werden. Die Regierung sagt aber, das ist für uns kein Thema. Es würde sich ein hoher Betrag ergeben. Um das zu ändern, bräuchte man die erforderlichen Mehrheiten. „Die Kirchen werden doch nicht Rechtstitel, die rechtmäßig entstanden sind, aufgeben.“

Zwei Teilnehmer haken nach: 1789 habe der Adel auf die Adelsprivilegien freiwillig verzichtet. Und: Den Verzicht könne man doch auch von Seiten der Kirchen vorschlagen: Presbyterium, Synode, Kirchenleitung. Dann käme es auf die Landessynode und würde entschieden.

Krebs: Dann macht es doch! Da würde wahrscheinlich jeder Finanzminister in den Ländern die Kirchen für die Verleihung eines Preises für den größten Einsparer vorschlagen. Und dass die Kirchen sagen sollen, wir verzichten auf den bekenntnisorientierten Religionsunterricht, der mal eingeführt worden ist auf dem Hintergrund faschistischer Ordnung, schlagt das doch auch gleich vor...! (Schmidt-Salomon lacht.)

Krebs: Ja ja ja ja!

Schmidt-Salomon: Hitler hat ihn eingeführt, hat ihn mit dem Reichskonkordat festgelegt! Also bitte!

Krebs: Moment, Moment, Moment! Eingeführt - ich wollte sagen: gesichert.

Gesichert worden aufgrund faschistischer Fragestellungen. Sie werden ja doch nicht meinen, dass wir nach den Regeln des Nationalsozialismus unseren Religionsunterricht erteilen.

Schmidt-Salomon: Das Reichskonkordat gilt weiter!

Der Moderator übernimmt und nimmt weitere Fragen auf.

Ein Teilnehmer mit Laptop und Internetzugang teilt mit, dass die Staatsleistungen in Westfalen [damit ist offenbar die ev. Landeskirche in Westfalen gemeint, nicht die gesamten Zahlungen des Landes an die Kirchen] 0,9% der Kirchensteuereinnahmen betragen, in absoluten Zahlen etwa 2,76 Mio. Euro. Sie gehen zu einem großen Teil auf die Säkularisierung von neun evangelischen Institutionen (Damenstift …, Damenstift Lippstadt) zurück.

Ein weiterer Teilnehmer: Das ist ja zweihundert Jahre gezahlt worden.

Ein anderer: Mit Zinsen.

Und ein weiterer: Wenn man das Geld nicht mehr will, weil man sagt, es ist politisch schädlich, und es ist in der Sache nicht mehr gerechtfertigt, dann könnte man ja auch auf das Geld verzichten.

Schlussplenum

Schmidt-Salomon betonte das Problem mit dem Subsidiaritätsprinzip: Wir haben diese gesellschaftlichen Institutionen, und wir haben auch diese Großkonzerne von Caritas und Diakonie. Aber wir haben auch eine gesellschaftliche Veränderung. Und Institutionen haben ein höheres Beharrungsvermögen als Menschen. Und es ist ganz offenkundig so, dass sich hier etwas verändert hat. Wir haben, wie gesagt, mehr konfessionsfreie Menschen als evangelische Christen, auch in Nordrhein-Westfalen, und trotzdem gibt es kaum Institutionen für diese konfessionsfreien Menschen. Und das kann Probleme erzeugen.

Ich habe in den letzten vier, fünf Jahren sehr viel zu tun gehabt mit ehemaligen Heimkindern, die schreckliche Erfahrungen machen mussten in evangelischen wie katholischen Einrichtungen. Und diese Menschen kommen heute ins Rentenalter. Und die haben große Ängste. Viele Traumata brechen wieder auf, weil sie jetzt noch einmal in christliche Institutionen gehen müssen. Und hier haben wir einen großen Nachholbedarf in der Gesellschaft. Und da ist das Subsidiaritätsprinzip eben problematisch.

In den 50er Jahren, als 95 Prozent der Deutschen Christen waren, war es zumindest einsichtig für die Bevölkerung, dass es eben hauptsächlich christliche Sozialeinrichtungen gibt. Aber es gibt eben heute einen großen Prozentsatz dieser Gesellschaft – und dieser Prozentsatz wird immer größer – der diese Einstellung zur weltanschaulichen Disposition nicht mehr hat. Und wir haben keine Institutionen, die das abdecken können. Und das erzeugt Probleme, es erzeugt vor allen Dingen dann Probleme, wenn die Kirche und die kirchlichen Institutionen auf ihren alten Rechten beruhen. Wenn sie sich als besonders christlich nach außen hin darstellen, obwohl im Durchschnitt 90 Prozent öffentlich getragen werden und 10 Prozent von den Kirchen. Und dann wird es eben ein großes Problem.

Dann ist es nämlich auch nicht mehr so, dass die Leute freiwillig die Kirchensteuer zahlen, dass sie freiwillig Mitglied in der Kirche sind. Wenn Sie beim Arbeitsamt als konfessionsfreier Krankenpfleger, Arzt, Pädagoge, Psychologe vorsprechen, dann wird ihnen, je nach dem, wo sie in Deutschland sind – besonders stark ist das in den Ländern im Süden –, der freundlichen Berater dort sagen: Treten sie in die Kirche ein, damit sie eine Stelle bekommen! Und das kann und darf in einer modernen Gesellschaft nicht sein! Da müssen sie sich überlegen, wie sie damit umgehen. Das ist ein Punkt: Kirchliches Arbeitsrecht, da muss es Veränderungen geben.

Und das andere ist: Sie müssen sich auch überlegen, theologisch, wie stellen sie sich den Herausforderungen der Zeit? Wenn schon in dieser Institution [das Haus landeskirchlicher Dienste, in dem der Studientag stattfand] – und ich habe das Gefühl das ist sehr liberal – eine Buchhandlung ist, die von Adventisten geführt wird, dann sollte Ihnen das zu denken geben. Die Bücher, die da unten in dieser Buchhandlung stehen: Lesen sie diese bitte! Ich habe einen Teil davon gelesen. Und da werden sie feststellen: Das ist ein anderes Christentum als das, was sie hier möglicherweise vertreten. Und möglicherweise ist genau das die Zukunft des Christentums. Das ist das, was ich von außen wirklich sagen muss: Setzen sie sich damit auseinander! Und artikulieren sie da Ihre Kritik! Die kann nicht nur von solchen Gestalten wie mir kommen! Sondern die muss aus der Mitte der Kirche kommen.

Teilnehmer: Das tun wir auch.

Schmidt-Salomon: Aber sie haben so eine Buchhandlung. Mitten. In. Ihrem. Haus!
(Gemurmel im Publikum.)

Krebs gibt sich nachdenklich: Ich glaube schon, dass er Recht hat. Wir müssen an den verschiedensten Stellen noch mal stärker nach innen gucken. Das heißt, wir müssen auch unsere Positionen an der Stelle noch mal schärfen. Auch so schärfen, dass wir noch mal deutlich machen: Was machen wir eigentlich mit dem Geld? Das ist ja anvertrautes Geld.

Gerade hat einer gesagt: Das ist ja jetzt zweihundert Jahre gezahlt worden. Ist das jetzt nicht genug? Diese Frage wird ja von verschiedensten Seiten gestellt. Die Frage an uns ist also: Können wir reinen Gewissens dieses Geld weiter nehmen? Und wenn wir es reinen Gewissens nehmen – wie wir es jetzt tun – dann müssen wir es auch nach außen darstellen, was wir mit dem Geld machen, damit die Menschen verstehen, warum wir es nehmen. Ich gehe davon aus – und ich bin ja nun auch lange genug dabei gewesen, auf den verschiedenen Ebenen – dass wir das vernünftig einsetzen. Ich glaube, das müssen wir tatsächlich für die Allgemeinheit noch mal deutlich machen, dass wir das mit reinem Gewissen deswegen annehmen können, weil wir das sozusagen wieder reinvestieren – in unsere Gesellschaft oder in unsere Kirchen. Die ist ja ein Teil der Gesellschaft.

Frau Boos-Niazy: Das Problem haben die Muslime natürlich nicht.

Krebs: Ihr habt das Öl! (Gelächter)

Frau Boos-Niazy: Ich sehe mit Herrn Schmidt-Salomon ganz unverhoffte Überschneidungen. Einmal der Punkt, dass es andere Institutionen geben muss. Wir haben gerade in dem sozialen Bereich wirklich das Problem, wie das bei Frauen so ist, die engagieren sich sehr häufig – überproportional, jedenfalls mehr als Männer – im sozialen Bereich, studieren soziale Fächer. Und stehen dann am Ende diesen großen Organisationen gegenüber, die den größten Teil der Sozialarbeit abdecken. Und haben als Muslime mehr oder weniger keine Chance. Kommt man dazu noch mit dem Kopftuch rein, ist es ganz schlimm.

Was wir sehen, ist ein Prozess, der uns auch ein bisschen ärgert. Gerade im Bereich der Migrationsarbeit, der ja sehr stark gewachsen ist, und wo die christlichen Institutionen auch sehr stark tätig sind, haben die das Problem, dass sie an die Zielgruppen nicht rankommen. Wir kommen aber an die Zielgruppen. Der Endeffekt ist, dass muslimische Frauen eingestellt werden, entweder über Minijob, oder ehrenamtlich arbeiten sollen, um den Zugang zu diesen Zielgruppen zu eröffnen. Und das ist natürlich eine Situation, die sehr unbefriedigend ist. Ich meine, es ist an der Zeit, darüber nachzudenken, einen eigenen muslimischen Wohlfahrtsverband zu gründen.

Schmidt-Salomon: Ich würde davor warnen, die Frage der Integration mit dem Thema der Religion so stark zu verbinden. Denn sehr viele Menschen, die wir hier als Muslime bezeichnen, sind in Wirklichkeit keine Muslime, sondern sie kommen aus muslimischen Ländern. Und das Problem ist: Wenn wir Menschen so stark auf Religion etikettieren, führt das möglicherweise zu Konflikten, die wir nicht hätten, wenn wir die Frage der Religion ein bisschen runterschrauben würden. Deswegen finde ich es wichtig, dass sich sogenannte christliche Institutionen öffnen, für Nichtchristen. Wenn sie 90 Prozent ihrer finanziellen Ressourcen von der großen Gesellschaft bekommen, dann kann es nicht sein, dass sie sagen: Bei uns in diesen Institutionen sind Juden, Atheisten, Muslime unerwünscht. Das ist weltanschauliche Diskriminierung. Und schauen sie sich die Stelleninserate an! Von Ärzten. Es sagt nichts über die Qualität eines Chirurgen aus, ob er Mitglied der evangelischen oder katholischen Kirche ist.

Frau Boos-Niazy: Wenn der andere Bereich nicht geht, diese Öffnung, was natürlich effektiver wäre und uns auch eigentlich lieber wäre. Wenn sie eine religiöse Familie haben, und die hat irgendwelche Erziehungsprobleme, wenn die sich irgendwo hin wenden, dann ist der erste Satz, eure Religion ist das Problem. Da geht es gar nicht mehr um andere Dinge. Und da wäre es natürlich schon sehr gut, ein Gegenüber zu haben, was zumindest den gleichen Hintergrund hat und dann feststellen kann: Ist es wirklich die Ausübung der Religion, die das Problem macht, oder ist es etwas völlig anderes?

Frage des Moderators an die Referenten mit Bitte um kurze Antwort: Welchen sinnvollen Auftrag können die Religionen in einer zunehmend säkularen und pluralen Gesellschaft haben?

Boos-Niazy: Ich glaube, sie kann Gemeinschaft stiften. Zwischen Gruppen, die vielleicht vorher nicht so viele Berührungen hatten. Wo man feststellen kann, es gibt in dieser Gruppe Prinzipien, die finden sich bei mir auch. Und darüber können sich neue Verbindungen ergeben.

Schmidt-Salomon: Ich habe große Schwierigkeiten, darauf zu antworten. Wenn ich auf diese Frage eine Antwort gewusst hätte, dann hätte ich möglicherweise Theologie studiert. Ich weiß aber eben keine sinnvolle Antwort auf diese Frage. Weil ich denke, sie können sich als Menschen einbringen. Und auch die Institution der Kirche kann sich einbringen. Wir haben alle gemeinsam den Auftrag, eine bessere Welt für alle fühlenden Wesen zu schaffen. Das betrifft Menschen, und das betrifft auch nichtmenschliche Lebewesen.

Wie stark das Religiöse daran ist, da würde ich hoffen, dass sie das vielleicht etwas zurückfahren. Und zwar durchaus auch im Sinne bestimmter religiöser Traditionen. Es gibt in allen Religionen mystische Traditionen, die sich gewissermaßen weigern, über Gott zu sprechen. Die Gott keine Eigenschaften zuweisen. Und wenn sie diese mystischen Traditionen innerhalb der Religion stärker fokussieren würden, - das gibt es im Christentum bei Meister Eckhart, das gibt es im Islam bei den Sufi-Traditionen, das gibt es beim Zen-Buddhismus – wenn sie die stärker fokussieren würden, den Sinn und Geschmack für das Unendliche, dann fände ich das großartig.

Aber wenn sie sich fokussieren auf die Zuschreibung bestimmter Eigenschaften, wenn sie ihren Gott definieren nach bestimmten Kriterien, und bestimmte Gebote aufstellen, aufgrund von heiligen Schriften – dann sehe ich den sinnvollsten Auftrag, den sie dann hätten, sich selbst aufzulösen.

(Gelächter, Beifall)

Krebs: Die Frage nach Gott wach zu halten und daraus das entsprechende Handeln abzuleiten für den Menschen in der jeweiligen Gesellschaft. Ich definiere übrigens Gott nicht selbst, Gott hat sich ja selbst definiert. Insofern muss ich gar nicht große Leistungen erbringen. Aber ich möchte gerne meinen Glauben, den christlichen Glauben, mit der Frage nach Gott auch wach halten, weil ich glaube, dass man mit diesem Glauben leben und auch sterben kann, was ich mit Ihrem nicht kann. Jetzt bin ich ganz brutal. (Stöhnen und Spott bei einigen Teilnehmern.)

Schmidt-Salomon: Es gibt ja viele Menschen weltweit – Hindus, Buddhisten –, die wollen ins Nirwana aufgehen. Da kann ich sagen: Als Naturalist, da gibt’s bei uns „Instant Nirwana“: Keiner muss Angst haben, als Kellerassel wiedergeboren zu werden.

Nachfragen

Wie stellen sie sich die Organisation eines gemischt-weltanschaulichen Krankenhauses vor? (Die Frage war offenbar an Schmidt-Salon gerichtet, der ja gefordert hatte, die konfessionellen Krankenhäuser auch für Beschäftigte anderer Weltanschauungen zu öffnen.)

Krebs: Ich denke mal an ein Krankenhaus. Ein Krankenhaus, in dem Menschen arbeiten, mit der Motivation, anderen Menschen so weit wie möglich in einer Krisensituation – Krankheit ist immer auch Krisensituation – oder sogar Todeserfahrung zu helfen. Und umgekehrt, dass die Patienten wahrnehmen, dass sie sich auch in einem – ich sag das mal jetzt für mich – christlichen Krankenhaus befinden. Was Zuwendung angeht, was Seelsorge angeht, usw. Es wäre für mich eine Horrorvision, das Gesundheitswesen, oder sagen wir jetzt mal Krankenhäuser, dem Markt zu überlassen. Das haben wir ja an anderen Stellen schon erlebt, was passiert, wenn man einen Bereich, ganz egal, sie können auch an die Finanzen denken, wenn man einen Bereich vollkommen dem Markt überlässt. Der Markt ist grausam.

Ich erinnere mich an die Zeit, als ich Kuratoriumsvorsitzender eines Krankenhauses war und ununterbrochen mit der Fragestellung konfrontiert war: Wie kriegen wir eigentlich den Akzent, den wir wollen, in dieses Krankenhaus? Das ging nur über Mitarbeitende. Und das ging nur, indem wir mit den Mitarbeitenden nicht nur darüber sprachen, wie die z.B. Spritzen setzen oder einen Tropf anlegen, sondern dass wir mit ihnen darüber sprachen: Du hast da vor Dir einen Menschen, und der möchte Deine Zuwendung haben, in einer Krisensituation. Und der muss Dich auch erkennen als einen Menschen mit einer klaren Motivation. Die kann sehr unterschiedlich sein. Ohne Frage. Aber das war die Grundfrage: Wie kriegen wir den christlichen Akzent da rein? Damit ganz klar ist: Es geht nicht nur darum, dass da ein Kreuz in der Eingangshalle ist und eine Kerze brennt, sondern es geht nur in der emotionalen Zuwendung zum Menschen. Das wäre für mich maßgeblich für die Zukunft, dass wir das – an den Stellen, wo wir es können, und das wird in Zukunft nicht mehr an so vielen Stellen sein wie jetzt, da bin ich auch von überzeugt, – aber an den Stellen, wo wir es können, dass das klar ist. Das wäre meine Vision.

Schmidt-Salomon: Ich bin nicht der Meinung, dass man das dem Markt überlassen darf, auch nicht zentralistisch-bürokratisch regeln sollte, sondern – wie es auch bei den Finanzmärkten besser wäre – wir brauchen einen vernünftig geregelten Markt, und wir müssen die Regeln gemeinsam aushandeln, nach denen dieser Markt dann geregelt wird. Und natürlich muss es ein Markt sein, auf dem Solidarität und Empathie möglich sind, und wo mehr Zeit für die Menschen beispielsweise im Krankenhaus und in Altenheimen, da ist. Das müssen wir in die Regeln reinschreiben, wir müssen dafür kämpfen, dass es eben nicht herunter-ökonomisiert wird.

Nur würde ich eben dafür plädieren, dass Ihnen klar wird, aus welcher Motivation heraus sie das tun. Und ich denke, die meisten tun das eben deshalb, weil sie empathische Menschen sind, die sich an der Freude anderer mitfreuen und am Leid anderer mitleiden können. Das ist zentral, und das ist menschlich. Und da seien sie doch bitte ehrlich zu sich selber: sie tun das nicht, weil in der Bibel der und dieser Satz steht. Das tun sie nicht. Sie tun es, weil sie Menschen sind. Die sich für andere Menschen interessieren. Die ihnen helfen wollen. Und dafür sollten wir sorgen.

Dieses Gemeinsame, was wir alle teilen, weil wir alle zu dieser Primaten-Art gehören, das sollten wir in den Vordergrund stellen. Und eben nicht diese Vorstellung, das ist ein Christ, das ist ein Atheist, das ist ein Hindu. Deswegen wünschte ich mir, dass sie das zurückfahren. Und das Menschlich-Allzumenschliche in den Vordergrund rücken in ihren sozialen Institutionen. Und dass sie diese öffnen für Menschen aller Art. Es gibt nicht die Alternative: Hier ist die behagliche christliche Nächstenliebe und da drüben ist der kalte Markt. Darum geht es nicht. Seien sie ehrlich zu sich selber: Warum tun sie das? Wenn sie ehrlich sind? Leider können wir nicht alle hier einen Rotwein miteinander trinken, aber ich glaube, bei den meisten würde herauskommen, dass sie das nicht tun, weil sie bestimmte Sätze glauben, sondern wie sie eben vom Leid anderer Menschen und von der Freude anderer Menschen angerührt werden.

(Beifall)

Frau Boos-Niazy: Die Frage ist nur: Reicht das? Was bleibt dann noch übrig von einem hehren Anspruch, mein Verstand sagt mir dies oder das. Abgesehen davon: sie sagen, die Dinge müssen verstandesmäßig für jeden nachvollziehbar sein. Ich möchte wirklich einen Satz sehen, wo die ganze Menschheit sich einig drüber wäre. Ich kann mir nicht vorstellen, dass alle, aber wirklich auch alle Bereiche so geregelt werden können, dass sie es schaffen, dass jeder verstandesmäßig zu den gleichen Ergebnissen kommt. Für die einen zählt das Geld mehr, und da regieren diese Gesetze, da ist das sinnvoll, was am meisten Geld bringt; für andere, die empathisch sind, zählen andere Dinge, aber die Frage ist ja: Was ist in einer Situation, wo es um Leben und Tod geht, noch übrig von meiner Empathie? Ist da nicht am Ende das einzige, was mich zu einer Handlung oder zum Unterlassen einer Handlung bringt, das Wissen, dass ich diese Handlung irgendwann verantworten muss?

Schmidt-Salomon: Das ist interessant, denn man könnte das jetzt nämlich historisch überprüfen. Es war ja so, dass leider die katholische und die evangelische Kirche im Nazi-Regime so mitgemacht haben. (Gemurmel) Schauen sie sich das an: Die Zentrale der Deutschen Freidenker in Berlin wurde am Tag der sogenannten Machtergreifung ersetzt durch das evangelische Institut zur Bekämpfung des Gottlosentums. Schauen sie sich das mal an, wie das gewesen ist. Hier war offensichtlich der Glaube an Gott keine besonders gute Basis, um Widerstand zu leisten im Sinne der Menschlichkeit.

Und wenn sie sich anschauen: Wer hat denn die Menschenrechte vorangebracht? Wer hat denn die Gleichberechtigung von Mann und Frau vorangebracht? Gegen alle Widerstände? Dann werden sie feststellen: Obwohl es nur einen ganz kleinen Prozentsatz von Menschen in der Vergangenheit gab, die Deisten waren, die freigeistig waren und so weiter, ist ihr Prozentanteil in dieser Emanzipationsbewegung unglaublich hoch! Das heißt, dieses Argument scheint nicht so wirklich zuzutreffen, sondern es hat mit ganz anderen, sehr komplexen Faktoren zu tun, warum Menschen in den Widerstand gehen.

Ein Teilnehmer: Herr Schmidt-Salomon, was ich bemerkenswert finde ist: sie definieren unsere christliche Motivation. Sie sind davon überzeugt, dass ich, evangelischer Christ, Nächstenliebe nicht tue, weil ich einen Satz glaube, der in der Bibel steht, sondern aus menschlicher Empathie. Ich glaube nicht den Buchstaben eines Satzes, der in der Bibel steht, aber ich glaube die Erfahrung und die Wahrheit, die dahinter steht, und die zurückgeht letzten Endes auf die Idee eines Samariters, der einen Menschen blutend und in seinem Dreck auf der Straße liegen sieht und entgegen aller Vernunft und entgegen aller Konvention hingeht und ihm hilft. Warum tut er das? Das ist die Antwort von Jesus, die er gegeben hat, wir wissen es alle, auf die Frage: Wer ist denn mein Nächster. Das ist die Grundlage für eine Kultur der Barmherzigkeit, die eben auch zur christlichen Geschichte gehört, und zu dieser Geschichte gehört auch die Entstehung der Diakonie im 19. Jahrhundert, als in der Zeit der Industrialisierung die sozialen Netzwerke der Dörfer nicht mehr geholfen haben, wenn jemand behindert war, wo das eben nicht mehr ausreichte, da haben Leute wie Wichern und andere gesagt: Jetzt müssen wir denen helfen. Die haben das aufgrund dieses tiefen Glaubens – weil mich Gott liebt, kann ich seine Liebe an andere weiter geben – getan. Und zwar nur deshalb. Das führt dann die menschliche Empathie, von der sie sprechen. Natürlich. Dies sehe ich als eine Folge und mindestens als eine Wechselwirkung davon.

Mich stört, dass sie uns Christen definieren und sagen, Ihr seid so und so – von außen. Und dazu gehört auch, beispielsweise der Satz – ich zitiere aus dem Manifest des evolutionären Humanismus –, da heißt es, dass in der öffentlichen politischen Diskussion notwendigerweise weltliche Standards gelten müssen, und einer davon heißt: In methodischer Hinsicht die aufklärerische Orientierung an den Idealen der intellektuellen Redlichkeit. Wonach Behauptungen logisch-empirisch belegt sein müssen, damit sie von Relevanz sein können. – Was heißt denn „intellektuelle Redlichkeit“? Liege ich falsch mit dem Verdacht, dass sie religiösen Menschen ganz im Allgemeinen diese intellektuelle Redlichkeit im Umgang mit den heiligen Schriften, wie sie immer so schön sagen, absprechen? Sind wir intellektuell unredlich oder dumm?

Schmidt-Salomon: Wie ich sagte: Religionen sind kulturelle Schatzkammern der Menschheit. Man findet ganz tolle Geschichten im Neuen Testament, auch im Alten Testament, und man findet schreckliche Geschichten. Und die Samaritergeschichte ist eine der tollen Geschichten. Aber es gibt eben auch die Höllendrohungen. Die auch in der Geschichte des Christentums leider schreckliche Folgen hatten. Nach dieser Vorstellung: Du wirst dran glauben, oder du wirst dran glauben! Was nimmt man nun aus diesen Geschichten raus? Das hängt natürlich immer von der historischen Situation ab: Bis in die 50er Jahre hinein wurde in Deutschland die Höllendrohung sehr konsequent gepredigt – von beiden Kirchen. Heute passiert das nicht mehr, weil viele Leute sagen: Das entspricht nicht der Kultur der Barmherzigkeit. Das ist ein sehr schöner Wandel. Der aber weltweit nicht so stattgefunden hat. Und wenn sie unten, wie gesagt, in die Buchhandlung in diesem Haus gehen, da werden sie viele Bücher über die Hölle finden.

Warum entscheiden sich nun Menschen dafür, den Satz oder jenen Satz aus der Bibel zu nehmen? Warum nehmen die einen die Höllendrohung, die dazu führt, dass kleine Kinder als Hexen umgebracht werden, jetzt, wo wir hier stehen? Zur jetzigen Zeit, im 21. Jahrhundert passiert das! Und warum gehen andere Menschen hin, wie sie, und die nehmen eben aus diesen Sätzen, aus diesen Erzählungen das Positive heraus? Das hat etwas damit zu tun: Einerseits sind wir natürlich alle empathisch veranlagt, der Mensch ist das empathischste aller Lebewesen. Wir haben Spiegelneuronen, die uns befähigen, zu fühlen, was der andere fühlt. Das ist eine großartige Ausstattung, und das hat sich evolutionär beim Menschen durchgesetzt. Das große Problem ist, dass gerade diese Empathie gegenüber dem Nächsten häufig zum Hass gegenüber dem Fernsten wird. Und da waren Religionen leider Anheizer gewesen in der Geschichte der Menschheit. Weil man eben die Nächsten lieber hatte. Und der Fernste war in der Regel derjenige, den man genau anders behandelt hat, den man im schlimmsten Fall ausgerottet hat.

Teilnehmer: Der barmherzige Samariter ist das Gegenmodell dazu!

Schmidt-Salomon: Ich weiß. Das ist ja toll. Und es ist ja wunderbar, dass das in diesem Buch drin ist. Auch, dass die Feindesliebe drin ist, ist großartig. Aber sie haben eben auch die Offenbarung des Johannes. Ein Finale dieser Bibel, das an Sadismus kaum noch zu überbieten ist.

Teilnehmer: Sie dürfen das nicht fundamentalistisch lesen!

Schmidt-Salomon: Nein, ich weiß: Man kann es auch anders lesen. Aber es ist in der Geschichte des Christentums häufig anders gelesen worden.

Teilnehmer: Aber sie müssen das historisch-kritisch lesen!

Schmidt-Salomon: Ich weiß, sie wissen es. Weiß ich doch! (Lautes Gemurmel) Sie lesen das historisch-kritisch. Aber die meisten Leute weltweit lesen das anders. Gehen sie nach Amerika, und fragen sie die Leute, – da gibt es ja Untersuchungen zu – wie sie die Offenbarung des Johannes verstehen. Wir haben deswegen so viele apokalyptische Spinner in der Welt!

Wir haben das große Problem, dass es große Gruppen gibt im Christentum, die das anders sehen. Ich meine, dass viele der Leute, die sich hier in Deutschland Christen nennen, sich von dem Glaubensbekenntnis mittlerweile schon so weit entfernt haben, es aber nicht mehr zugeben – es sei denn, sie geben es zu in einer privaten Runde. Und das nenne ich intellektuelle Unredlichkeit. Und ich weiß, dass es dafür einen gewissen Jargon gibt innerhalb der theologischen Diskussion. Und aus meiner Perspektive: Das ist ein Grund, warum ich nicht mehr Christ bin. Für mich ist das intellektuell unredlich. Ich kann nicht sagen, ob das auf sie zutrifft. Vielleicht glauben sie diese Sachen. Aber ich habe mit sehr vielen gesprochen, die in Wirklichkeit nicht mehr glauben. Die in Wirklichkeit säkulare Humanisten sind. Und einfach noch diesen religiösen Dialekt sprechen. Das ist so. Und ich nenne das so. Sie können das schlimm finden, dass ich das so nenne, aber das ist meine Analyse. Meine Erfahrung. Es gibt eine Untersuchung über den Glauben von evangelischen Kirchenmitgliedern. Dabei kommt raus, dass nur noch 23,3 Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder an einen personalen Gott glauben.

Teilnehmer: Es gibt auch andere Untersuchungen, die Anderes sagen. Haben sie schon mal den Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung gelesen?

Schmidt-Salomon: Ja, natürlich. Nach dem Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung gehöre ich zu den hochreligiösen Menschen dieser Gesellschaft. (Gelächter) Das kommt immer auf die Operationalisierung an. Aber sie haben selbst in einer Studie bei Chrismon, wie wenig Rückhalt die Kirche mit ihren Standpunkten selbst auch noch bei diesen konservativen Milieus mittlerweile hat. Und das ist eine Sache, da sollten sie sich nicht drüber hinweg lügen. Schauen sie wirklich sich selbst an: Was sie noch glauben. Und schauen sie sich an, was die Leute, die Kirchenmitglieder sind, noch glauben. Und dann versuchen sie, zu definieren, was man unter dem Begriff „christlich“ wirklich heute im 21. Jahrhundert noch verstehen kann.

Teilnehmer: Ich gebe einfach mal weiter, was die Leute in der Gemeinde sagen, warum sie überhaupt Christen sind, warum sie noch freiwillig ihre Kirchensteuer bezahlen, obwohl sie vielleicht gar nicht glauben. Mir sagen Intellektuelle und auch ganz schlichte Leute, für sie ist Religion, ist Glaube eine Lebenshilfe. Irgendwas, woran man sich festhalten kann. Und das ist eine Qualität, die kann man vielleicht durch Argumente irgendwie wegdiskutieren, aber sie ist da, und so empfinden Menschen das. Und da bin ich eigentlich ganz froh drüber, dass es diese Gruppierung gibt. Und für mich ist das wirklich etwas ganz Wichtiges.

Moderator: Ein Impuls; was nehmen sie mit nach Hause?

Schmidt-Salomon: Mir fällt jetzt nur was Kabarettistisches ein, von Jürgen Becker. Ich finde den Satz sehr gut und darüber kann man wirklich nachdenken: Humor ist, wenn man trotzdem lacht, Philosophie ist, wenn man trotzdem denkt, und Religion ist, wenn man trotzdem stirbt. Wir sollten uns nicht hinweglügen über die Wirklichkeit, die wirklich schrecklich ist.

Krebs: Für mich war das die Auftaktveranstaltung für eine notwendige Begriffsbestimmung nach innen und nach außen.

Frau Boos-Niazy: Der Verstand kann nicht alles, und Religion ist, wenn man trotzdem nachdenkt.

(Gelächter, Beifall)

Mattias Krause