(hpd) Ein Kind ist verschwunden und der Entführer weigert sich auch nach stundenlangen Verhören, den Aufenthaltsort des Jungen zu nennen. Die Ermittler, die um das Leben des Kindes fürchten, kündigen ihm schließlich Gewalt an, sollte er nicht endlich das Versteck preisgeben.
Sie haben zwischen dem Recht des Opfers auf Leben und dem Recht des Täters auf körperliche Unversehrtheit abgewogen und entschieden. Doch wie weit darf man gehen, um das Leben eines Kindes zu retten?
Dieses Verbrechen sorgte für enormen Wirbel in der Republik: der Jurastudent Magnus Gäfgen hatte den elf Jahre alten Jakob von Metzler am 27. September 2002 entführt und sofort in seiner Frankfurter Wohnung ermordet. Erst nach Gewaltdrohungen eines Vernehmungsbeamten offenbarte der Entführer das Versteck des toten Jungen, von dessen Familie er zuvor noch eine Million Euro erpresst hatte, um seinen luxuriösen Lebensstil aufrechtzuerhalten. Nach mehreren Geständnissen verurteilte das Landgericht Frankfurt Gäfgen zu lebenslanger Haft mit besonders schwerer Schuld, was eine Entlassung bereits nach 15 Jahren Haft verhindert.
Warum dieser Fall aber bundesweit für so viel Aufsehen sorgte: Der Mann, der Jakob von Metzler entführt und ermordet hatte, verklagte die Polizei wegen Nötigung - und erhielt am Ende noch eine Entschädigung. Was war geschehen? Nachdem Gäfgen für Jakob von Metzler eine Million Euro Lösegeld erpresst hat, hofft die Polizei, dass der entführte Bankierssohn schnell frei käme. Doch auch nach seiner Festnahme verrät Gäfgen nicht, wo sich Jakob von Metzler aufhält, immer wieder erzählt er den Beamten eine neue Version der Entführung. Die Ermittler kämpfen gegen die Zeit - und da trifft der Frankfurter Polizei-Vizepräsident Wolfgang Daschner eine folgenschwere Entscheidung. Da er absolute Lebensgefahr für Jakob sehe, habe er beschlossen, dem Täter 'unmittelbaren Zwang' anzudrohen, um vom Täter zu erfahren, wo Jakob ist. In einem Aktenvermerk dokumentiert und begründet Wolfgang Daschner diese Entscheidung und die Anordnung an den vernehmenden Kriminalbeamten Ennigkeit.
Über die folgende erneute Befragung Gäfgens durch den Autor dieses Buches, der deutlich betont, sie habe ausschließlich dem Aufenthaltsort des womöglich noch lebenden entführten Kindes gegolten, wurden viele Unwahrheiten in die Welt gesetzt. Laut Ennigkeit hat Gäfgen es geschafft, seine Vernehmung als Folter darzustellen und sich vom Täter zum Opfer hochzustilisieren. Sein durchsichtiges Bemühen, die Polizeibeamten auf diese Weise zu Angeklagten zu machen, hatte Erfolg. Daschner und Ennigkeit wurden wegen Nötigung unter Missbrauch von Amtsbefugnissen angeklagt. Sie wurden im Dezember 2004 vom Landgericht Frankfurt in Form einer Verwarnung mit Strafvorbehalt verurteilt.
Um es vorweg zu nehmen: Dieses Buch ist kein Versuch einer Selbstrechtfertigung des Autors. Ihm geht es neun Jahre nach der Entführung und Ermordung eines Kindes eher darum, insbesondere dessen Opferperspektive (und die seiner Eltern) darzustellen. Quasi als Kontrapunkt zu der in viele Medien verbreiteten Perspektive des Mörders, der seit seiner Verurteilung 2003 durch Klagen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und weiteren Prozessen gegen das Land Hessen und andere Beteiligte medial allgegenwärtig ist. Ennigkeit, der bis zu seiner Verurteilung überhaupt nicht gehört wurde, beschreibt – natürlich subjektiv - hier das tatsächlich Geschehen. Gerade die detailliert ausgeführten polizeilichen Maßnahmen nach Erhalt des Erpresserbriefes lesen sich recht spannend und zeigen die gute und wirkliche Arbeit der Kriminalpolizei Frankfurt – im Gegensatz zu all dem Unsinn in TV-Krimis. Die Chronologie der Abläufe, die zur Festnahme Gäfgens führte, die Gestaltung der Vernehmungen, und ihre Bewertungen sind schlüssig aufgebaut und lesenswert.
Aus einem Epilog erfährt der Leser, dass dieses mit einer Co-Autorin verfasste Buch von Ortwin Ennigkeit, in dem juristische und philosophische Fragen wie „Ist die Würde des Menschen unantastbar?“ „Haben Opfer ein Recht auf Leben?“ „Garantiert der Staat nicht den Schutz des Bürgers?“ „Ist der unmittelbare Zwang zur Gefahrenabwehr verwerflich?“ „Ist Notwehr kein Rechtsfertigungsgrund?“ abschließend diskutiert werden, bereits früher erscheinen sollte. Weil aber ein von Gäfgen angestrengter Schadensersatzprozess gegen den Autor durch das Buch das zu erwartende Urteil hätte beeinflussen können, wurde das Erscheinen in den September 2011 verschoben. Dadurch erfährt man jedoch zeitnahe Details aus diesem Zivilprozess wie auch die Einschätzung eines Gutachters über den Kläger Gäfgen und erstaunliche Begründungen zum Urteil im Frühjahr 2011.
Die große Mehrheit der Deutschen zeigt laut einer Forsa-Umfrage 2003 Verständnis für die Gewaltandrohung der Polizei im Entführungsfall Jakob von Metzler. 63 Prozent finden, der stellvertretende Polizeichef Wolfgang Daschner solle nicht bestraft werden, 32 Prozent der 1.003 Befragten sprachen sich für eine Strafe aus.
Es ist für einen Humanisten sicherlich hochinteressant, an diesem wirklichen Kriminalfall fernab der Emotionalität von Volkes Stimme seine Einstellung zu Recht und Moral mit all den umfassenden Informationen des Buches zu prüfen.
Helmut Debelius
Ortwin Ennigkeit und Barbara Höhn: Um Leben und Tod: Wie weit darf man gehen, um das Leben eines Kindes zu retten? - Der Fall Jakob von Metzler - Protokoll eines Verbrechens. Heyne Verlag, ISBN-Nummer: 978-3453172166. Preis: 16,99 Euro.